Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus
Eine industrielle Webmaschine schafft 320 Schläge in der Minute. Matthias Prieth schafft 400 an einem ganzen Tag. Immer wieder nimmt er dafür das lange Holzstück, auf dem die Wolle aufgewickelt ist, und schiebt es durch die Reihe von Fäden, die auf dem Webstuhl aufgespannt sind. Mit einem festen Schlag zieht er das sogenannte Weberblatt dann über die Fäden hinweg in seine Richtung und drückt die durchgezogene Wolle damit fest. Unter dem Webstuhl sind zwei hölzerne Pedale befestigt, mit denen der 28-Jährige die Position der aufgespannten Fäden wechselt. Dann wird das Stück auf Fehler kontrolliert, das Schiffchen umgedreht und der Zyklus beginnt von neuem. „Eine monotone Arbeit, die mich beruhigt und mir viel Zeit zum Nachdenken gibt“, sagt Matthias. Er ist einer der letzten aktiven Teppichweber Südtirols.
Seit Matthias 16 ist, spielt er in verschiedenen Bands und arbeitet als Liedermacher. Das Gitarrespielen hat er sich selbst beigebracht. Der Autodidakt ergreift jede Möglichkeit, um sich selbst zu verwirklichen. Mal als Landwirt, mal als Musiker, mal als Hirte und dann eben als Weber. Als der Webstuhl seinen Weg in die Ortnerpassage 47 in Meran fand, konnte Matthias ihn noch nicht bedienen. Weil er aber ans Schicksal glaubt, musste es wohl einen Sinn haben, dass seine Freundin das sperrige Teil gekauft hatte. Also eröffnete er gemeinsam mit ihr eine Weberei.
„Ich will den Menschen wieder näher bringen, welchen Wert Handwerk eigentlich hat.“
Einen ganzen Tag hat Matthias gebraucht, um die dünnen Fäden das erste Mal einzeln in den Webstuhl einzuspannen. Von einer großen Spule, die er sich von einer geschützten Werkstatt in Bozen bespulen lässt, laufen die Fäden einmal quer über den Webstuhl, durch die Öffnungen von kleinen Litzen, die an den zwei Schäften hängen und schließlich direkt auf die Seite des Webers. Die richtigen Tipps zur Handhabung hat Matthias sich erst im Nachhinein von der ehemaligen Besitzerin des Webstuhls geholt. Das Handwerk des Webens hat er sich – wie so vieles – selbst beigebracht.
Momentan steht der alte Webstuhl in einem kleinen, nach Schafwolle duftenden Zimmer. Der Blick reicht von hier direkt auf das angrenzende, grau-blaue Haus, vor dem Matthias einen kleinen Garten angelegt hat. Einst wurde dort Leder gegerbt. In Zukunft soll auf den vier Stockwerken des Hauses Platz gemacht werden für seine große Vision: „Ich will den Menschen den Wert des Handwerks wieder näher bringen“, sagt Matthias.
Vom Tischler über den Schneider bis hin zum Weber sollen in der alten Gerberei verschiedene Berufsgruppen mit einem kleinen Arbeitsplatz untergebracht werden. An den Stücken, die sie produzieren, sollen sie gemeinsam als Netzwerk arbeiten. Der Kunde könnte der Produktion jederzeit über die Schulter schauen und dadurch Kreisläufe und den Wert der Produkte verstehen. Was Matthias an der momentanen Konsumsituation stört, sei die Undurchsichtigkeit: „Wenn ich Kleidung kaufe, weiß ich nie, ob sie nicht von einem Kind oder von einer armen, schwangeren Frau gemacht wurde“, meint er. Ohne schlechtes Gewissen könne man eigentlich nie einkaufen.
Obwohl Matthias’ oberste Priorität die faire Produktion seiner Webstücke ist, scheitert auch er immer wieder daran. Weit und breit könne er keinen fair produzierten Faden zum Vernähen seiner Teppiche auftreiben. Und auch das Geschäft mit der Wolle sei nicht immer sauber.
„Die Bauern müssen ihre Wolle verschenken, weil sie heute nichts mehr wert ist“, erklärt Matthias. Als Hirte verbrachte er mehrere Jahre auf Almen, zuletzt auf dem Similaun, wo er Herr über 1.700 Schafe war. In der Natur würden Schafe ihre Wolle immer wieder verlieren. Um sie aber verwenden zu können, hat der Mensch ihnen das abgezüchtet. „Im Prinzip beuten wir das Tier aus“, meint Matthias, „was nicht bedeutet, dass es ihm schlecht geht. Im Idealfall gehen wir einfach einen Deal mit den Schafen ein: Wolle gegen gute Haltung.“
Die Wolle, die Matthias verwebt, bezieht er aus dem Passeiertal, die Hanffaser von der Firma Ecopassion und die Stoffreste vom Tausch-und Verschenk-Treff. Weil direkt vor der alten Gerberei ein Wasserlauf vorbeiführt, mit dem früher Leder gewaschen wurde, will Matthias dort seine Wolle in Zukunft selbst waschen und den Bauern zumindest das Scheren der Schafe bezahlen. „Die Ausgangsprodukte müssen in der neuen Werkstatt alle regional sein. Jedem, der an der Serie mitarbeitet, muss es dabei gut gehen“, erzählt Matthias von seinem Traum. Sollte sich der nicht umsetzen lassen, würde er seine Weberei lieber wieder zusperren, als unter falschen Konditionen weiterzuarbeiten.
Momentan kann er von seinem Idealismus noch nicht leben. Aber nur was langsam und beständig wächst, kann in seinen Augen auch funktionieren. Dafür müsse auch der Kunde erst sensibilisiert werden.
Das schwierigste am Weben sei das Einspannen. „Wenn man einen Fehler beim Einspannen macht, muss man alles wieder auftrennen, sonst sieht es so aus“, erklärt Matthias, lacht und zeigt auf einen dicken Strich im Webstück. Eine Reihe im Teppich ist größer als die anderen. Imperfektion ist in der kleinen Weberei aber durchaus willkommen. Sie mache Handwerk aus und schaffe Unikate. Leider schätze der Endverbraucher dieses Extra noch nicht.
„D’rweil“ ist nicht nur der Name der kleinen Weberei, sondern ein Wort aus dem Südtiroler Dialekt, das viele Bedeutungen hat: Inzwischen, Zeit, stattdessen; sie alle passen irgendwie zum jungen Paar. Mehr Zeit wollen sie haben für sich, die Weberei und die Produktion von fairen Handwerksstücken. Stattdessen haben Matthias und Kathrin so viele Projekte, dass die Zeit schon wieder knapp ist.
Momentan arbeitet Matthias am Bezug von Hockern für eine Villa. Außerdem hat er den ersten Prototypen für einen Rucksack fertiggestellt, den er zusammen mit einer Schneiderin auf Anfrage individuell realisieren will. Doch das Lieblingsprodukt des jungen Autodidakten sind seine Polster, befüllt mit Dinkelspelzen und Zirbenspänen oder Buchweizenspelzen und Heu. „Die duften nach was und erzählen eine Geschichte“, meint Matthias und streicht über die verwobene Oberfläche. Außerdem tüftelt er an einer gewebten Yogamatte aus Hanf- und Wollfasern. Durch die Mischung soll sie rutschfest werden. Das Prinzip hat sich Matthias vom Filz abgeschaut. „Auch der ist aus Wolle und rutschfest“, meint er und holt ein kleines Stück gefilzte Schafwolle aus einer Schublade.
Viele würden Matthias und Kathrin als Idealisten beschreiben, in den Augen des Paares geht der Idealismus mit der Realität einher. Nur wer etwas tut, könne schließlich die Welt verbessern. Irgendwann sollen die Kunden die Werkstatt in der schmalen Ortnerpassage ganz von alleine finden und gemeinsam mit Matthias und Kathrin individuelle und faire Projekte aus Wolle realisieren.
Support BARFUSS!
Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus:
https://www.barfuss.it/support