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Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 10.12.2019
LebenInterview zur Handke-Kontroverse

Zeit allein heilt nicht

Veröffentlicht
am 10.12.2019
Im Zuge der Handke-Debatte wurden dem Historiker Kurt Gritsch Verschwörungstheorien vorgeworfen. Gritsch kritisiert die Emotionalität des Diskurses.
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Porträt Peter Handke

Spätestens am 14. November holte die immer virulentere Kontroverse zur Haltung Handkes im Jugoslawienkrieg auch den Südtiroler Historiker und Konfliktforscher Kurt Gritsch ein. Auf dem investigativen Portal „The Intercept“ erschien an jenem Tag ein auch von deutschsprachigen Medien aufgegriffener Artikel des Journalisten Peter Maass mit der Behauptung, zwei Juroren des Nobelpreis-Komitees seien einer Verschwörungstheorie aufgesessen. Zu finden sei diese Verschwörungstheorie unter anderem in dem Buch „Peter Handke und Gerechtigkeit für Serbien“ von Kurt Gritsch, auf das einer der Juroren verwiesen hatte. Im Gespräch mit BARFUSS nimmt Gritsch Stellung zu den Vorwürfen und erklärt seinen Zugang als Konfliktforscher.

Verschwörungstheorien zu kolportieren, ist ein schwerwiegender Vorwurf. Wo wurde eine solche Theorie in Ihrem Buch verortet?
Ich schreibe auf zweieinhalb Seiten im Buch – das insgesamt 212 Seiten lang ist – auch über die PR-Agentur „Ruder Finn“, welche für die bosnisch-muslimische und für die kroatische Seite gearbeitet hat. Diese Agentur hatte Anteil daran, Serben mit Nazis zu vergleichen. Das war im Interesse ihrer Auftraggeber. Der Solinger Professor Jörg Becker, der lange an der Universität Innsbruck gelehrt hat, hat diese Arbeit von Ruder Finn anhand der im United States Department of Justice archivierten FARA-Unterlagen (Foreign Agents Registration Act) dokumentiert und darüber publiziert. Ich beziehe mich auf seine Bücher.

Was genau soll daran eine Verschwörungstheorie sein?
Die Verschwörungstheorie besagt, dass die serbische Seite im jugoslawischen Bürgerkrieg gar nicht so schlimm war, sondern dass alle serbischen Verbrechen übertrieben worden seien, weil die PR-Agentur Ruder Finn die Serben im Auftrag des Kroaten Franjo Tuđman und des Bosniers Alija Izetbegović so negativ dargestellt habe. Die Fakten beschränken sich darauf, dass Ruder Finn im August 1992 Serben mit Nazis verglichen hat und dass viele Leitmedien in dieser Zeit diesen Vergleich übernommen haben. Aber das bedeutet nicht, dass serbische Einheiten, insbesondere Paramilitärs, nicht tatsächlich Verbrechen begangen hätten. Die Massaker sind dokumentiert, die Erschießungen von Srebrenica sind vom UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag als Genozid klassifiziert worden. Die entscheidende Frage war: Können diese Verbrechen mit den Parametern des Holocaust beschrieben werden oder nicht? Und davon hing bzw. hängt bis heute die normative Betrachtung des Jugoslawienkriegs ab. Einige sehen den gesamten Bosnien-Krieg als serbischen Genozid, andere lehnen die Analogie „Serben = Nazis” ab.

Historiker und Konfliktforscher Kurt Gritsch: „Wer zuerst Hitler sagt, gewinnt.“

Wie reagieren Sie auf den Vorwurf der Verschwörungstheorie?
Wenn jemand mit dem Vorwurf der Verschwörungstheorie kommt, dann ist offensichtlich, dass er nicht an einem intellektuellen Austausch mit dem Ziel des Erkenntnisgewinns interessiert ist. Wer „Verschwörungstheorie“ sagt, weicht auf die normative Seite aus, damit er sich auf der deskriptiven Ebene eben gerade nicht den Fakten stellen muss. Beim Intercept war es genau so. Ich habe mit dem Journalisten mehrmals E-Mails ausgetauscht und ihm zwei englischsprachige Zusammenfassungen meiner Forschung geschickt. Er hat nichts davon berücksichtigt, keine einzige Quelle, die ich ihm genannt habe. Stattdessen hat er ein Kurzkapitel meines Buches aus dem Zusammenhang gerissen und in ein schiefes Licht gerückt.

Was bedeutet das nun konkret?
Es bedeutet, dass in Bezug auf den nicht haltbaren Vorwurf im Intercept ein Blick auf die Fakten genügt. Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, die einen Einfluss von Ruder Finn auf die Interpretation des Bosnien-Kriegs nach den Parametern des Holocaust belegen. Strittig ist die Frage, inwieweit der Einfluss von PR gereicht hat. Das ist aber schwer nachweisbar. Der Chef von Ruder Finn, James Harff, hat die Wirkung seiner Arbeit natürlich als sehr hoch eingeschätzt.
Ich denke, dass man das auch nicht überbewerten darf, denn dass man bei bestimmten Verbrechen an die NS-Zeit denkt, ist durchaus naheliegend, wie der Politikwissenschaftler Andrei S. Markovits 1999 geschrieben hat. Allerdings ist der Vergleich mit Auschwitz grundsätzlich problematisch, nicht nur aufgrund der Gefahr einer Verharmlosung oder wegen möglicher juristischer Konsequenzen.
Zugleich hat Daniel S. Goldhagen, der mit „Hitler’s willing Executioners“ ein Standardwerk der Holocaustforschung vorgelegt hat, zu Recht darauf hingewiesen, dass der Holocaust sowohl universelle als auch einzigartige Elemente in sich vereint. Hier gilt es, angesichts zahlreicher Konflikte, Kriege und Massaker weltweit, genau hinzusehen und zu differenzieren, denn sonst wird der Begriff des Holocaust irgendwann inflationär.

„Manche Journalisten sehen ihre Aufgabe offensichtlich darin, die eigene Sichtweise zur Geschichtsschreibung zu erheben.“

Ihnen geht es also um eine Kritik an bestimmten Praktiken der Berichterstattung. Wie gehen die Medien mit solcher Kritik um?
Kein Printmedium hat die Forschungsergebnisse der Medien- und Politikwissenschaft aufgegriffen. Dabei belegen diese die zahlreiche Verwendung von Stereotypen und antiserbischen Feindbildern, etwas, womit Peter Handke also Recht hatte. Trotzdem haben die meisten Journalisten seine Medienkritik unreflektiert zurückgewiesen.

Warum wird so eine Kritik zuweilen als Relativierung der Kriegsverbrechen interpretiert?
Man merkt, dass manche Journalisten bis heute Schwierigkeiten damit haben, ihr einmal getroffenes Bild noch weiter auszudifferenzieren. Sie tun sich auch schwer damit, neuere wissenschaftliche Erkenntnisse in ihre Interpretation zu integrieren, weil dies bedeuten würde, Dinge zu reflektieren und die eigene Wahrnehmung weiterzuentwickeln. Genau diese Reflexionsfähigkeit fehlt aber den allermeisten Medien, hat die Medienwissenschaft festgestellt. Während die Geschichtswissenschaft darauf aufbaut, Interpretationen immer wieder anhand weiterer Quellen zu überprüfen, sehen manche Journalisten ihre Aufgabe offensichtlich eher darin, die eigene Sichtweise zur Geschichtsschreibung zu erheben. Dieses Vorgehen ist zwangsläufig zum Scheitern verurteilt.

Bestimmte Kritik an der Berichterstattung äußerte sich allerdings tatsächlich als Verschwörungstheorie. So behauptete der Journalist Peter Brock fälschlicherweise, der völlig abgemagerte Bosniake Fikret Alic auf dem berühmten TIME-Coverbild sei in Wirklichkeit ein Serbe, der unter Tuberkulose leidet. Wo verläuft die Grenze zwischen Verschwörungstheorie und legitimer Interpretation?
Verschwörungen sind eine Tatsache, ihre Existenz hat die Geschichtsforschung schon für das Antike Rom belegt. Die Frage ist aber, welche Absicht jemand hat, wenn er mit dem Begriff der Verschwörungstheorie hantiert. Will ich auf die moralische Ebene ausweichen, weil ich auf dem Feld der Fakten vielleicht gar nicht sicher überlegen bin? Ich frage mich immer, wieso diese Auseinandersetzung auf der Ebene der Fakten, Quellen und Interpretationen gescheut wird. Brock hat seine unzutreffende Behauptung damit begründet, dass er zwei Bilder verwechselt habe. Inwiefern dies zutrifft, ist natürlich schwer überprüfbar.
Aber grundsätzlich gilt: Wenn ich nur Indizien und keine Beweise habe, dann befinde ich mich im Bereich der Spekulation. Solange diese eindeutig als solche gekennzeichnet ist, kann sie manchmal sogar ihre Berechtigung haben, denn nicht alle Erkenntnisse liegen ja stets von Anfang an offen vor. Vieles kommt erst nach Ablauf von Archivsperren 30 Jahre später an die Öffentlichkeit. Entscheidend ist, dass zu jedem Zeitpunkt alle zur Verfügung stehenden Fakten berücksichtigt werden, dass eine Interpretation sich an Plausibilitätskriterien orientiert und dass vor allem nicht suggeriert wird, dass etwas eindeutig sei, wenn es in Wirklichkeit kontrovers diskutiert wird.

„Die Zwickmühle ‚Eingreifen oder Zuschauen‘ war von den Befürwortern des Angriffskrieges gegen Serbien als moralisches Druckmittel aufgebaut worden, um jegliche Form von Pazifismus zu diskreditieren.“

Wann haben Sie persönlich angefangen, sich mit den Jugoslawienkriegen und mit Handke zu beschäftigen?
Ich habe damit im Rahmen meiner Abschlussarbeit an der Universität Innsbruck begonnen, und die Thematik hat mich bis heute begleitet. Am Anfang stand die Frage des gerechten Krieges, über die wir 1999 an der Universität diskutiert haben. Es ging darum, ob das Eingreifen der NATO in den Kosovo-Konflikt zur Verhinderung eines drohenden Genozids richtig sei. Das war das Argument aus dem Bosnien-Krieg, und das leuchtete ja auch ein, gerade nach der Erfahrung von Srebrenica und Ruanda. Zugleich wollte ich aber nicht für Krieg und für Bombenwerfen sein. Da bot sich mir als Student der Germanistik und Geschichte die Beschäftigung mit Peter Handke und dem Jugoslawien-Krieg an. Seine einseitig wirkende Verteidigung von Serbien konnte ich allerdings ebenso wenig teilen.

Gab es denn keinen dritten Weg?
Im Verlauf meiner Forschungen fand ich diesen dann. Die Zwickmühle „Eingreifen oder Zuschauen“ stimmte nämlich gar nicht und war von den Befürwortern des Angriffskrieges gegen Serbien als moralisches Druckmittel aufgebaut worden, um jegliche Form von Pazifismus zu diskreditieren. Dahinter standen Interessen, z. B. die Wandlung der NATO vom Verteidigungs- zum Interventionsbündnis. Und dafür war das Feindbild Serbien gut geeignet. Das bedeutet nicht, dass es keine serbischen Verbrechen gab. Aber sie wurden in einen NS-ähnlichen Kontext gerückt, und Slobodan Milošević wurde während des Kosovo-Kriegs in allen Leitmedien mit Hitler verglichen. Alles in allem also recht kompliziert das Ganze. Aus diesem Grund habe ich über meinen Zugang zur Konfliktforschung im Standard geschrieben.

Mit Handke haben Sie sich sehr eingehend befasst. Worum geht es in Ihrem Buch „Peter Handke und ‚Gerechtigkeit für Serbien’. Eine Rezeptionsgeschichte”?
Ich habe die Rezeption von Handkes Büchern „Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien“ und „Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise“ analysiert. D. h., ich habe alle Rezensionen zu diesen beiden Büchern, die in den wichtigsten deutschsprachigen Zeitungen erschienen und im Innsbrucker Zeitungsarchiv archiviert sind, auf die vertretene Position und die verwendeten Argumente hin untersucht. Zusätzlich habe ich mich anhand der Fachliteratur in die Geschichte Jugoslawiens eingearbeitet, um die historischen Wurzeln der Konflikte besser zu verstehen. Und ich habe mich mit den Produktionsbedingungen von Medien auseinandergesetzt und mich intensiv mit der Konfliktberichterstattung beschäftigt.
Besonders auffällig war dabei eben, dass fast alle Rezensenten relativ unreflektiert NS-Analogien verwendet haben, wenn sie über „die“ Serben geschrieben haben. Dabei ist der Vergleich „Serben = Nazis“, vor dem Hintergrund der Fakten und ohne die zahlreichen durch serbische Einheiten verübten und dokumentierten Verbrechen zu relativieren, bis heute fragwürdig.

„Eine nüchterne, sachliche und distanzierte Aufarbeitung der Vergangenheit wird fast unmöglich.“

Finden Sie den Vorwurf, Handke habe unhinterfragt Partei für das Milošević-Regime ergriffen, berechtigt?
Peter Handke ist durch seine Art der Wahrheitssuche in eine kritische Nähe zu Milošević geraten (Handke hielt am Grab von Milošević eine Rede, Anm. d. Red.). Allerdings sieht er selbst dies anders, wenn man seine Interviews liest. Ob man bei einem Berufsdenker wie Handke behaupten kann, dass er so etwas tatsächlich unhinterfragt macht, bin ich mir nicht sicher. Aber einige seiner Handlungen wirken so, das mag zutreffen.

Es sind nicht nur Handlungen, sondern auch seine Aussagen, die für Empörung sorgten. Zum Beispiel spricht er von der Ermordung muslimischer Soldaten in Srebrenica. Dabei waren die meisten Opfer Zivilisten.
Handke beruft sich hier auf eine Sichtweise, die vor allem innerhalb der serbischsprachigen Forschung und insbesondere in der Republika Srpska in Bosnien vertreten wird. Ich teile diese Sichtweise nicht.

Man muss sich aber nicht nur auf Sichtweisen, sondern auch auf Fakten berufen können. Wie ist es möglich, dass 25 Jahre nach den Jugoslawienkriegen noch immer so viel Uneinigkeit zu bestimmten Ereignissen und deren Darstellung besteht?
Ich denke, das hängt mit der moralischen Wucht der damaligen Berichterstattung über den Jugoslawien-Krieg zusammen, die hier noch nachwirkt. Die damals verbreitete Analogie zum Holocaust hat einen wegen seiner Brutalität ohnehin schon sehr emotional wahrgenommenen Krieg noch weiter emotionalisiert.
Wenn ich davon ausgehe, dass die serbischen Gräuel im Rahmen eines Bürgerkriegs geschehen sind, in welchem die serbische Seite als lange Zeit militärisch stärkste Kraft die meisten Verbrechen begangen hat, dann interpretiere ich den Konflikt anders, als wenn ich davon ausgehe, dass es einen serbischen Vernichtungswillen gab, der NS-ähnliche Züge trug. Nach den Mustern von Auschwitz interpretiert muss jede Form von Vergleich, von Überprüfung und Infragestellen bisheriger Wahrnehmungsmuster als Revisionismus gelten. Das erschwert eine Historisierung. Das Problem ist, dass damit eine nüchterne, sachliche und distanzierte Aufarbeitung der Vergangenheit fast unmöglich wird.

Erklärt das auch die Heftigkeit der aktuellen Handke-Debatte?
Ja, das merkt man auch daran, mit welcher Vehemenz die Frage, ob der Nobelpreis für Peter Handke eine gute Entscheidung war, debattiert wird. Diskurse, welche die Debatte überlagern, wie z. B. die Frage, inwiefern die Dämonisierung der serbischen Seite als neue Nazis der deutschen Remilitarisierung genutzt hat oder der Wandlung der NATO von Verteidigung zu Intervention dienlich war, werden aufgrund der Emotionalität ausgeblendet. Überspitzt formuliert gewinnt immer noch derjenige, der zuerst „Hitler“ ruft.

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