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Thomas Vonmetz
Veröffentlicht
am 15.11.2021
LebenTabu-Thema Suizid

“Wenn du unter Wasser stehst”

Veröffentlicht
am 15.11.2021
Richard Santifaller, 60 Jahre alt, wollte sich das Leben nehmen. Im Interview erzählt er, was ihn zu den Suizidgedanken trieb und wie sein Leben für ihn wieder lebenswert wurde.
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Seit seiner Jugend leidet Richard Santifaller an einer bipolaren Störung. Als Vorstandsmitglied im Verein Ariadne berät er heute Angehörige und Betroffene und hilft ihnen, mit schwierigen Situationen umzugehen. Im Interview spricht er über seine eigene Krankheit, warum er Suizid begehen wollte und was ihn schlussendlich dazu bewogen hat, das Leben nicht aufzugeben.

Wann hattest du das erste Mal Suizidgedanken?
Ich hatte bereits in der Oberschule depressive Phasen, die waren immer dabei. Ich habe die Depression nur überlebt, da ich mir ständig sagte, falls ich da rauskomme, dann bringe ich mich um. Das hat mich am Leben gehalten. In den guten Phasen waren die Suizidgedanken dann nicht mehr aktuell. Stattdessen war die Hoffnung da, dass es irgendwann aufhört, dass es mich nicht mehr erwischt. Leider ist das nie passiert. Bis vor sieben Jahren, da hatte ich meinen letzten Rückfall.

Hattest du vor diesen Gedanken Angst?
Nein, sie waren eher zermürbend. Ich habe nur einen einzigen Suizidversuch unternommen. Oft bin ich aber auf einer Brücke gestanden oder vor einem Zug. Ich wollte dann meinem Leben ein Ende bereiten, zum Glück ist es mir nie gelungen.

Richard Santifaller, früher selbst von Suizidgedanken heimgesucht, engagiert sich heute im Vorstand des Vereins Ariadne, wo er psychisch leidenden Menschen und ihren Angehörigen Beratung und Unterstützung bietet.

Wie kam es, dass du nicht mehr leben wolltest?
Bei mir gibt und gab es keine Übergänge. Es gibt nicht ein bisschen depressiv oder manisch. Bei mir war es vor allem in der Depression massiv. Ich bin wie ferngesteuert durch die Gegend gegangen oder habe irgendwelche Sachen gemacht. Doch ich stand immer neben mir. Auch in der Schule und als Lehrer bin ich nie aufgegangen. Das hat sicher alles dazu beigetragen, dass ich immer wieder depressiv wurde.

Wie hast du dich gefühlt, als du deine Suizidgedanken in die Tat umsetzen wolltest?
Einmal war ich in Salzburg in einem Symposium über Zukunftsfragen. Dort hörte ich mir verschiedene Experten an, die verschiedene Positionen vertraten. Jeder dachte, er hält die Wahrheit in den Händen. Ich war so erschöpft, da entgegengesetzte Meinungen vertreten wurden und ich keine Lösung parat hatte. Ich fasste da die Entscheidung, in dieser verrückten Welt nicht mehr leben zu wollen. Am Abend wollte ich dann sterben, habe es aber nicht in die Tat umgesetzt. Am nächsten Morgen bin ich aufgewacht, war wieder voller Zuversicht und lebte über Monate sehr gut. Im Aufgeben ermöglicht sich oft einiges.
Das andere Mal, bei meinem Suizidversuch, fasste ich an einem Abend, nachdem ich den Tag im „day hospital“ in Brixen verbrachte, den Entschluss, Suizid zu begehen. Ich war vollkommen ruhig dabei.

Richard lässt sich Zeit mit seinen Antworten. Er spricht so, als hätte er seine Geschichte schon hundertmal erzählt hat, sein Suizidversuch ist für ihn nichts, wofür er sich schämen müsste. Trotzdem ist ihm bewusst, dass Suizide noch immer ein Tabuthema sind, dass ein Gespräch darüber für die meisten Menschen ungewohnt ist. Manchmal fragt er nach, ob seine Antworten passen, ob er verstanden wird. Es ist ihm ein Anliegen, sein Erfahrungswissen mit anderen zu teilen.

Wie ist es dir nach deinem überlebten Suizidversuch gegangen?
Das Komische war, ich war tags darauf total euphorisch und habe irrsinnig viel geredet. Alles war nur mehr lustig. Nach dieser ersten Zeit kam aber wieder rasch die Depression.

Warst du froh, noch am Leben zu sein?
Lebensmut kam schleichend, nach der Depression kommt immer wieder eine gute Zeit. Es ist, wie wenn du unter Wasser stehst, keine Luft bekommst, aber irgendwann an die Oberfläche kommst, um nach Luft zu ringen. In der Krankheit sind deine Gedanken und Gefühle komplett verzerrt, man kann nicht mehr frei denken. Ich konnte mir in der Depression nie vorstellen, wie die Vergangenheit war und wie die Zukunft sein konnte. Ich habe immer die Leute bewundert, die wussten, dass die Depression wieder vorbei geht. Ich wusste das nie. Ich dachte immer, dass sei endgültig.

Glaubst du, ein Suizid kann je „freiwillig“ geschehen?
Nein. Ich glaube, dass ein Suizidant sich gefühls- und gedankenmäßig so verwickelt, dass alles eine Eigendynamik bekommt. Der Mensch trachtet und sucht nach dem Leben. Bei mir war es so, dass ich als Arbeitsloser und Alleinstehender allen eine Last war. Für die Gesellschaft war ich ein Minus, jemand, der Ressourcen verbraucht, für die er nicht aufkommt. Ich sagte immer wieder: „Nennt mir bitte einen Grund, wenn ich nur im Bett herumliege, warum ich weiterleben sollte.“ Ich bin sehr froh, dass wir in einer Gesellschaft leben, die dies nicht in Frage stellt. Das war schon mal anders.
In sehr vielen Fällen ist das Potential zu einem besseren Leben da. Wichtig und richtig ist in suizidalen Phasen, dass man an Strategien arbeitet, um die „Fehler“ der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Denn die Vergangenheit hat dazu geführt, dass man seinem Leben ein Ende bereiten wollte. Die Suche nach einem „guten“ Leben, seine Gefühle und Gedanken besser zu verstehen, sollte im Vordergrund stehen. Die Lebensqualität sollte erhöht werden, um eine lebenswertere Zukunft zu haben. Jeder Mensch hat meiner Meinung nach ein Lebensziel, das ist aber nicht von vornherein gegeben, das muss erst gefunden werden. Diese Deutung liegt am Individuum, jeder Einzelne muss dem Leben eine Antwort geben.

Richard Santifaller verbrachte seine Jugend in einer Lehrerbildungsanstalt und unterrichtete nach der Matura zehn Jahre in der Grundschule. Aufgrund einer starken Depression musste er das Unterrichten aufgeben. Später hat er dann die Diagnose „bipolare Störung“ erfahren.

Dabei handelt es sich um eine Affektstörung, die durch extreme Schwankungen des Antriebs gekennzeichnet ist, die von Manie bis zur Depression reichen. Richard hatte manische Momente – also voller Euphorie, doch die meiste Zeit war er depressiv. Über Wochen ist er in der Depression nicht mehr aus dem Bett gekommen. Das erste Mal in die Psychiatrie kam er aufgrund einer Psychose, das bedeutet, der Bezug zur Realität kam ihm abhanden. Nach langjährigen Auslandsaufenthalten ist Richard Santifaller im Jahr 2000 wieder nach Südtirol zurückgekehrt und wurde immer wieder stationär aufgenommen – jedes Mal mit der Diagnose bipolare Störung.

Bipolare Störungen bringen anteilsmäßig am meisten Suizidopfer hervor. Woran liegt das?
Ich glaube, es liegt daran, dass man diese beiden Extreme, die Manie und die Depression, kennt. Der Geschmack der Extreme ist sehr bitter. Viele denken: „Ich will dieses Auf und Ab – himmelhochjauchzend oder zu Tode betrübt – nicht mehr aushalten müssen.“ Man neigt dazu zu denken, dass es nie mehr anders sein wird. Das Spiel des Lebens will man dann beenden. Viele haben in der Depression nicht die Kraft dazu, da der instinktive Lebensdrang zu stark ist. Das Leben schützt sich ja selbst. Der Betroffene muss in seiner Gefühls- und Gedankenwelt extrem in die Enge getrieben sein, dass es für ihn keine Alternativen gibt. Viele nützen die erste Kraft nach der Depression, dem Leben ein Ende zu setzen. Diese Personen werden deshalb aus der Psychiatrie nicht gleich entlassen, da die Gefahr eines Suizids besteht.

Du willst mit deiner Geschichte anderen Mut machen.
Das Leben ist eine Riesenchance. Ich glaube sogar, dass ein überstandener Suizidversuch eine Chance bietet, in die Tiefe zu gehen. Es gibt immer wieder kleine Wunder, wo zu Beginn alles aussichtslos erscheint, aber dann doch Hoffnung am Horizont auftaucht. In meinem Leben beispielsweise stecke ich seit 40 Jahren in dieser „Bipolarität“ gefangen, doch das Leben hat mir eine Antwort gegeben. In guten Zeiten suche ich immer nach einem Sinn im Leben. In meinem Fall habe ich die Meditation entdeckt, dadurch beaufsichtige ich meine Gedanken. Einfach in mich hineinzuhören, das hat mich gestärkt.
Wenn jemand sein Leben beendet, dann ist das für Angehörige und Freunde ein derartiger Schlag, das will man sich gar nicht vorstellen. Bei mir war es so, dass diese Vorstellung unerträglich war. Dieses Bild hielt mich oft davon ab, Suizid zu begehen.

Glaubst du, viele Suizide sind verhinderbar?
Ein Suizid ist eine verlorene Chance und ein unerträgliches Leid. Ein Leid, das nicht notwendig wäre. Wenn jemand suizidgefährdet ist, muss man den Menschen anhören und versuchen, ihm zu helfen. Das heißt konkret, die Situation ernst nehmen und ihm „seelische Erste-Hilfe“ zukommen lassen. Das gehört zur Menschlichkeit. Es ist immer Potential zur Besserung gegeben. Das Leiden muss man ansprechen und die Betroffenen in ihrer Notsituation wahrnehmen.

Solltest Du selbst Hilfe benötigen, kannst du dich direkt an die Caritas Telefonseelsorge wenden: täglich rund um die Uhr erreichbar – auch sonn- und feiertags – unter der Nummer 0471 052 052 oder online unter www.telefonseelsorge-online.bz.it (Erstantwort innerhalb von 48 Stunden)

Vertrauliche und kostenlose Beratung für Junge Menschen:

Young+Direct Whatsapp: 345 081 70 56, Tel.: 840 036 366 (Grüne Nummer)

Montag – Freitag: 14.30 – 19.30 Uhr

E-mail: online(at)young-direct.it

Weitere Kontakte zum Downloaden

Auf der Website www.suizid-praevention.it findest du weitere Informationen über das Netzwerk sowie:

– nochmal eine ausführliche Kontaktliste für Menschen in Not (natürlich niemals komplett)
– das Konzept zur sog. „Seelischen Ersten-Hilfe“ (Erkennen und Handeln bei psychischen Krisen)

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