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Wolfgang Mayr
Veröffentlicht
am 01.07.2021
LebenThe Others

Verraten und vergessen

Veröffentlicht
am 01.07.2021
Die EU lässt Bosnien im Stich und Nobelpreisträger Peter Handke liebäugelt mit serbischen Kriegsverbrechern. Ein Kommentar zu Europas Scheitern am Balkan.
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Goraze Denkmal_Bosnienkrieg
Goraže: Denkmal für die Opfer des Bosnienkriegs

Positives vorausgeschickt: Der Kriegsverbrecher und Massenmörder Ratko Mladic bleibt im Gefängnis. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hat die Verurteilung des ehemaligen Obersten der kommunistischen jugoslawischen Volksarmee und späteren „ethnischen Säuberers“ in Bosnien bestätigt. Der General der bosnisch-serbischen Armee belagerte vier Jahre lang Sarajewo und ließ dort gezielt mit seinen Scharfschützen Bürgerinnen und Bürger ermorden.

In Srebrenica massakrierten seine Soldaten im Juli 1995 mehr als 8.000 bosniakisch-muslimische Kinder, Jugendliche und Erwachsene, vor den Augen der niederländischen Blauhelme. Mladic ist ein verurteilter Kriegsverbrecher.

Ein Freund im Geiste ist der österreichische Literatur-Nobelpreisträger Peter Handke. Seit Ausbruch der serbischen Aggressionskriege in Slowenien, Kroatien, Bosnien und Kosovo verteidigt Handke vehement das „serbische Volk“.

Ein Nobelpreisträger wird von Kriegsverbrechern gekürt

Im Frühjahr erhielt der österreichische Schriftsteller Handke eine ganze Reihe von Ehrungen in Serbien und dem serbischen Kanton in Bosnien. Vahidin du Prel (der zur Nobelpreisehrung auch im Perlentaucher schrieb) fasst bei Facebook nochmal zusammen. Da ist zum Beispiel der Orden der Republika Srpska: „Er wurde im Krieg von Radovan Karadžić gegründet. Karadžić ist auch einer der ersten Träger dieser ehrenvollen Auszeichnung. Auch die Liste der anderen Träger liest sich wie ein Who is Who des Genozids: Ratko Mladić, Biljana Plavšić, Momčilo Krajišnik, Vojislav Šešelj, Slobodan Milošević – allesamt verurteilte Kriegsverbrecher.”

Handke nahm auch den Ivo-Andric-Preis entgegen. Dahinter steckt das „Andrić-Institut, eine propagandistische Institution zur hagiografischen Andrić-Forschung”, erklärt Michael Martens in der „FAZ”. „Voraussetzung für die Ehrung mit dem Andrić-Preis ist, dass die Ausgezeichneten einer großserbischen Lesart der Geschichte folgen, also nicht etwa dadurch unangenehm auffallen, dass sie serbische Verbrechen der neunziger Jahre beim Namen nennen.“

Der österreichische Literatur-Nobelpreisträger Peter Handke ist umstritten wegen seiner Nähe zu serbischen Kriegsverbrechern.


Freilich, nicht alle sehen in Handke einen Freund. Der Belgrader Publizist Teofil Pančić kommentierte dessen jüngste Reise mit den Worten, Handke habe sich wieder einmal wissentlich „zum Tanzbären der serbischen und bosnisch-serbischen nationalistischen Rechten machen lassen“. Serbien und die bosnische Serbenrepublik seien für Handke ein Zufluchtsort, wo er vor jedweder Kritik sicher sei und als „Ritter, Prometheus, Prophet und Visionär verehrt werde.”

Auch Paul Jandl findet Handkes Auszeichnungstour durch Serbien „staunenswert” und erinnert in der „Neuen Zürcher Zeitung” an Handkes „Zeit”-Interview vor eineinhalb Jahren, wo der Schriftsteller seine Äußerungen zu Serbien noch als reine Literatur in Schutz nahm. „Wenn das stimmt, dann ist es eine seltsame Sache mit der Literatur. Im Fall Handke lässt sie sich offenbar nicht nur für sehr reale Zwecke einspannen, sondern ist manchmal geradezu das Gegenteil dieses Literaturbegriffs: Sie ist die reine Wahrheit. Handkes ‘kompromisslose Verantwortung gegenüber der Wahrheit’ lobt denn auch Serbiens Präsident Aleksandar Vucic. Handkes einseitiger Starrsinn bleibt immer der gleiche, aber er wird den Feinden anders verkauft als den Freunden. Die Feinde und Kritiker sollen ihn als irgendwie weltferne Literatur zu Kenntnis nehmen, die anderen aber als Gesinnung.”

Kritik an seiner pro-serbischen Haltung verträgt der – doch – große, aber dünnhäutige Schriftsteller nicht. Dann schlägt er wenig intellektuell um sich. Handke spricht den Bosniern deren Nationalität ab, sie sind „muslimische Serben“, so seine Definition. Warum führten dann die orthodoxen Serben einen brutalen Krieg gegen ihre muslimischen Geschwister?

Friedhofsruhe in Bosnien

In Bosnien herrscht ein Vierteljahrhundert nach Kriegsende eine Art Friedhofsruhe. Die meisten vertriebenen Bosnierinnen und Bosnier dürfen nicht in ihre Dörfer und Städte zurück, das Land ist in strikte – eben ethnisch gesäuberte – Kantone aufgeteilt. Nur Sarajewo und Umland, das Kern-Bosnien, ist bruchstückhaft multiethnisch.

Die EU nahm Kroatien bereits als Mitglied auf, einen Staat, der auch für Vertreibungen, Vergewaltigungen und Massaker verantwortlich ist. Brüssel verhandelt genauso mit Serbien, nicht aber mit Bosnien. „Die Haltung der EU gegenüber dem westlichen Balkan bewegt sich zwischen zwei Gegensätzen: Der Balkan kann aufgrund seiner Rückständigkeit oder, wie Maria Todorova es ausdrückt, aufgrund des „Balkanismus“ nicht Teil der EU sein und der westliche Balkan sollte Teil der EU werden, um Frieden und Stabilität zu gewährleisten,“ analysiert Sonja Biserko, Präsidentin des Helsinki Committee for Human Rights in Serbia. Sie setzt sich unter anderem für die Interessen der überlebenden Opfer des Völkermordes ein.

Bosnien steht 25 Jahre nach Dayton vor dem Zerfall

Biserko lässt in Brüssel über die osteuropäischen Mitglieder Frust aus. Polen und Ungarn lehnen ideologisch die Union ab, kassieren aber fette Euro-Millionen aus dem Westen. Rumänien und Bulgarien stecken im Korruptionssumpf. Das Nachkriegs-Bosnien schafft es nicht, die EU-Standards zu erfüllen, um Aufnahmekandidat zu werden.

Mit dem Dayton-Vertrag vor 25 Jahren konnte der serbische Eroberungskrieg in den neuen Nationalstaaten gestoppt werden. Ein großer Wurf hätte es werden können. Wurde es nicht, kritisiert Biserko, weil die UNO und die EU kein besonderes Interesse an Bosnien hatten und haben. „Stattdessen steht Bosnien 25 Jahre nach Dayton vor dem Zerfall.” Zwei der drei „Kantone“ streben auseinander, der serbische Teil sucht den Anschluss an Serbien, der kroatische Teil möchte sich mit Kroatien vereinen. Übrigbleiben würde eine bosniakische Enklave, kaum überlebenswert als eigenständiger Staat. Der immer noch gültige Plan großserbischer und großkroatischer Nationalisten ist zum Greifen nahe.

Das Friedensabkommen von Dayton wird 1995 von den damaligen Präsidenten Slobodan Milošević (Serbien), Franjo Tuđman (Kroatien) und Alija Izetbegović (Bosnien-Herzegowina) unterzeichnet.

An Reformen ist in Bosnien kaum zu denken. „Inzwischen zeigen alle drei Seiten in Bosnien eine mangelnde Reformbereitschaft und keinen wesentlichen Wunsch danach, das Leben zu normalisieren“, stellt Sonja Biserko fest. Aus Brüssel fehlt der Druck, die EU scheint Bosnien abgeschrieben zu haben. Dieses Verhalten der EU gegenüber Bosnien frustete die bosnische Gesellschaft, die Folge, schreibt Biserko, sie wurden zu Geiseln der nationalistischen Politik.

Russsland – kein Interesse an einem gerechten Frieden

Ab 2010 mischte sich Russland gezielt wieder ein, stellte sich auf die Seite von Milorad Dodik, dem Präsidenten der serbisch-bosnischen Republik und verhinderte bewusst jeden Versuch, das Dayton-Abkommen zu überarbeiten. Der starre ethnische Status wurde damit festbetoniert und so auch dem Zerfall des Landes Vorschub geleistet, ist Biserko überzeugt. Sie nennt diese Situation einen geopolitischen Schwebezustand, ideal für Russland. Der Zustand ist ein Mix aus Stabilisierung und Destabilisierung, analysiert das Moskauer Carnegie-Zentrum. Laut dem Zentrum hat Russland kein Interesse an der Lösung der eingefrorenen Konflikte.

Diese ungelösten Konflikte schrecken NATO und EU ab, sich im westlichen Balkan zu engagieren. Russland seinerseits hält die Konflikte am kontrollierten Köcheln.

Die Folgen sind weitreichend, warnt Sonja Biserko. Diese Haltung der EU gegenüber Bosnien bestärke Serbien in seiner Illusion, dass es seine Ziele im Laufe der Zeit erreichen wird. Die serbische Politik habe sich seit dem Sturz von Slobodan Milošević nicht geändert, betont Biserko. Nationale Strategen schreiben Milošević große Verdienste zu, weil er es während des Krieges geschafft habe, die Gebiete zu markieren, die im Laufe der Zeit als serbische ethnische Gebiete konsolidiert würden. In Belgrad und in der „serbischen Republik“ (RS), also dem serbischen Kanton in Bosnien, setzen die nationalen Ideologen auf klare ethnische Grenzen.

Serbiens Nationalismus

Serbiens geopolitisches Interesse an Bosnien und Herzegowina ist die Erhaltung der RS und ihre Annexion an Serbien. Die RS ist die Verbindung Serbiens zur Adria und ein Instrument des Drucks auf das nicht immer botenmäßige Montenegro. Das Dayton-Abkommen ermöglicht das Spiel auf dem bosnischen Schachbrett, das heißt die Ausdehnung des serbischen Machtbereichs auf das RS-Territorium hinaus, in Richtung bosnisches Herzland.

Diese Haltung der EU gegenüber Bosnien bestärkt Serbien in seiner Illusion, dass es seine Ziele im Laufe der Zeit erreichen wird.

Die Frage ist laut Biserko, wie die EU ist sich im Falle einer weiteren Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen und der bosnischen Lage verhalten wird. Sie spricht sich für die Aufnahme Bosniens in die EU und die NATO auf, weil damit die Radikalisierung verhindert und Frieden und Stabilität in der Region gewährleisten werden könnten. Bosnien muss zum Subjekt werden, nicht weiterhin Objekt der internationalen Beziehungen bleiben.

Die regionale Zusammenarbeit ist für Biserko ein wichtiges Element der europäischen Perspektive im westlichen Balkan. Die Konsolidierung des Balkans wäre ein Beweis für die Integrationskraft der Union. Die bisher praktizierte Aufteilung der Region in verschiedene Interessensphären ist katastrophal, weil sie ständig zu Spannungen führt.

Der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell i Fontelles erklärte auf der Sicherheitskonferenz in München: „Wenn wir in der unmittelbaren Nachbarschaft nicht die wichtigste Rolle spielen können, vergessen Sie die Rolle Europas in der Geopolitik“. Biserko prophezeit: Ob die EU bereit ist, ein Global Player zu werden, wird der westliche Balkan als erster Test zeigen.

Mehr Infos:

Gesellschaft für bedrohte Völker: “25 Jahre Dayton”

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