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„Reden wir endlich über Philosophie, nicht immer nur über die Walsche!“, sagt Joseph Zoderer im Gespräch mit einer Journalistin der Welt-Zeitung. Dennoch wird auch dieser Artikel nicht darum herumkommen, über „Die Walsche“ zu sprechen. Dieser kurze Roman hat nämlich Zoderers Ruhm erst begründet und war in Italien ein Bestseller – wenn auch unter dem harmloseren, weil wertneutralen Titel „L‘italiana“.
Zoderer, der sich selbst als „deutschsprachiger Autor mit österreichischer kultureller Prägung mit italienischem Pass“ bezeichnet, erzählt im Roman „Die Walsche“ die Geschichte von Olga, einer Südtiroler Bäuerin, die von ihrem Bergdorf nach Bozen zieht und sich dort in den Italiener Silvano verliebt. Um den verstorbenen Vater zu begraben, kehrt sie für einige Tage in ihr Dorf zurück und muss die Kälte und Verachtung ihrer Bekannten von früher erfahren. Weil sie anders ist und weil sie mit einem „Walschen“ zusammenlebt, gilt sie im Dorf jetzt beinahe als Aussätzige. Ihr Vater hingegen, der Dorflehrer, hat sich in den Tod getrunken. Er wollte zwar immer in die Welt hinaus, kam aber nie von dem Dorf und dessen engstirniger Gesellschaft weg. „Ein Rückgrat hatte er schon gehabt, aber damit es mit den Jahren nicht brach, hatte auch er es gekrümmt wie die meisten“, so wird Olgas Vater im Roman charakterisiert.
„So habe ich heute eine Heimat ohne Kindheitsfreunde, aber eine Heimat ohne Kindheitsfreunde ist eine halbe Fremdheit.“
Das Thema der Heimatlosigkeit und Zwiespalt der Identitäten hat nicht zuletzt mit der Biographie des Autors selbst zu tun. Mit anderen Südtiroler Autoren wie Herbert Rosendorfer teilt auch Zoderer das Schicksal, in Südtirol eher eine Wahlheimat gefunden zu haben, als eine richtige Heimat. Vier Jahre war Zoderer alt, als seine Eltern im Zuge der Option ihr Zuhause in Meran verließen und nach Graz auswanderten. Dort besuchte der junge Joseph Zoderer die Schule und auch dann, als die Eltern 1949 nach Südtirol zurückkehrten, ging er nicht mit, sondern schlug sich mit Gelegenheitsjobs in Österreich und der Schweiz herum. Aufgewachsen ist Zoderer deshalb nur zu einem geringen Teil in Südtirol, in Wirklichkeit hat er mehr Zeit seines Lebens im Ausland verbracht. Allein das macht es ihm schwer, Südtirol als wirkliche Heimat zu sehen. In seiner Erzählung „Wir gingen“ schreibt er: „So habe ich heute eine Heimat ohne Kindheitsfreunde, aber eine Heimat ohne Kindheitsfreunde ist eine halbe Fremdheit.“
Gemäß der italienischen Weisheit „Non tutto il male viene a nuocere“ hat aber auch Zoderer gelernt, aus mancher Not eine Tugend zu machen, und bekundete das Anfang 2014 in einer Lesung zum 75. Jahrestag der Option: „Die Option hat mich gelehrt, mehrere Heimaten dankbar in meiner Identität und in meiner Erinnerung zu tragen.“
Aufgrund seines objektiven Blicks auf Südtirol, der in „Die Walsche“ auch die Schattenseiten dieses Landes hervorzuheben wusste, wurde Zoderer zunächst gerne als Nestbeschmutzer diffamiert. Das war in den 80er-Jahren – und heute? Gibt es in der modernen und offeneren Gesellschaft Südtirols noch Schicksale wie jenes von Olga oder von Jul, der Hauptperson aus Zoderers Roman „Der Schmerz der Gewöhnung“? Darin wird die Geschichte von Jul erzählt, einem Südtiroler, der mit der Tochter eines faschistischen Capitano verheiratet ist. Also eine ähnlich konfliktreiche Konstellation wie in „Die Walsche“, nur mit vertauschten Geschlechtern. Ausgehend von der Frage, ob solche Geschichten noch aktuell sind, könnte man sich nun in soziologischen Betrachtungen über die Südtiroler Gesellschaft ergehen. Diesmal lässt sich die Frage aber ohne Argumentation klar mit Ja beantworten. Als Beleg dafür dient der offene Brief eines Lesers aus dem Pustertal, der in einer italienischen Zeitung abgedruckt wurde: Darin beschwert sich der Pusterer, Zoderer habe sich seiner Lebensgeschichte bemächtigt und daraus einen Roman geschrieben. Denn die Tochter des Capitano, die in Zoderers Buch vorkommt, sei eigentlich seine Freundin gewesen, beteuert der Pusterer: „Sie war jung, sie war schön, und er hat sie mir gestohlen“.
Abgesehen von der spezifischen Südtirol-Thematik ist in Zoderers Heimatromanen immer die Frage des Fremden erkennbar. Wie gehen die Menschen damit um? Wie reagieren sie darauf? Ein Blick in die Zeitung oder ein Reinschalten in die Tagesschau genügen, um die Aktualität dieser Fragen zu erkennen. Aber man muss nicht erst gemütlich auf dem Sofa sitzen und den Fernseher einschalten, um sich belehren zu lassen, dass Globalisierung, Einwanderung und das Ankommen von Fremden uns vor reale Herausforderungen stellen. Dazu reicht es schon, mit dem Zug über den Brenner zu fahren und mit eigenen Augen die Situation der dortigen Flüchtlinge zu erahnen. Fremdheit – womit Südtirol seit fast einem Jahrhundert konfrontiert ist, damit ist Europa heute konfrontiert.
„Und nichts ist so förderlich für das Schreiben wie eine verlorene oder eine wiedergefundene Liebe.“
Gefallen hat Zoderer auch an anderen Evergreen-Themen gefunden. Das zeigt sein Roman „Die Farben der Grausamkeit“ von 2011. Darin lässt Zoderer den Leser ins Privatleben eines Journalisten eintauchen, der sich in einem Dorf eine kleine Idylle um seine Frau und seine Kinder aufgebaut hat, während er selbst aber ein Doppelleben führt und in der Stadt eine Geliebte hat. „Das Schönste im Leben ist natürlich immer eine große Liebe“, sagt Zoderer in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk. „Und nichts ist so förderlich für das Schreiben wie eine verlorene oder eine wiedergefundene Liebe.“ Zu Zoderers Texten, die aus dem Ansporn der Liebe entstanden, sind „Die Farben der Grausamkeiten“, sowie auch ein Großteil seiner Lyrik zu rechnen. Diese schwärmerische und lyrische Seite des Autors Zoderer ist in der Öffentlichkeit die unbekanntere. Mit seinem Namen verbindet man sofort „Die Walsche“, aber nicht einen Gedichtband wie „Liebe auf den Kopf gestellt“. Und dennoch verdient es auch dieser Band nicht weniger, gelesen zu werden.
Eingeschlossen von deiner Haut / die ich auf Fotos
Der Vergangenheit sah / spüre ich noch immer
Die Wärme der Lüge / in die ich mich eingekuschelt hatte /
Dein Fleisch spricht die Wahrheit / und ich lausche
Ihr / Pulsschlag um Pulsschlag / dabei klappern meine
Angstzähne / unter dem jähen Wechsel / von Strandsonne
Und Jännerfrost / Nie hätte ich gedacht / dass mein Wünschen
aus dem Tiefkühlfach kommt / dass meine Zehen
schwarz werden könnten / von Freiheitsdrang / Deine Haut
schützt mich vor dem Erfrieren / aber der Frost /
fragen meine Zehen / wäre das nicht die Freiheit?
(aus: „Liebe auf den Kopf gestellt“. Hanser Verlag. München 2007)
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