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Südliches Mittelmeer, 7 Uhr morgens: Ein spektakulärer Sonnenaufgang entschädigt für die lange Nacht auf einer rostigen Eisendrahtbank. Vom Deck der Fähre erkennt man am Horizont bereits die kantigen Umrisse des Ziels: Lampedusa. Die Insel, die geologisch schon zur afrikanischen Kontinentalplatte gehört, liegt weitaus näher bei den tunesischen Küsten als bei Sizilien. Noch vor wenigen Jahrzehnten lebten deren Bewohner in einfachsten Verhältnissen von der Fischerei. Erst der Tourismus hat der Insel, dank der außergewöhnlichen Schönheit ihrer Strände und Buchten, eine zusätzliche Einnahmequelle verschafft. Vielen ist Lampedusa als Urlaubsort schon seit ihrer Kindheit vertraut, so auch mir. Aber seitdem hat sich mit dieser Insel eine andere Assoziation eingestellt: Statt an Strände und Unterwasserlandschaften denkt man an gestrandete Boote und Wasserleichen. Lampedusa ist das Sinnbild schlechthin geworden für die Tragödien, die durch die Profitgier von Menschenschleppern und durch die Untätigkeit der EU verursacht werden.
Letztens hört man in den Medien allerdings kaum noch etwas von Lampedusa. Woher kommt die Stille? Ist es auf der Insel tatsächlich ruhiger geworden? Vielleicht werden die Ereignisse dort ja lediglich übertönt von dem, was inzwischen in den neuen Krisenorten passiert – Krisenorte, die viel prominentere Namen tragen, wie etwa München, Wien oder Budapest. Und was wird in den nächsten Jahren noch auf der Insel geschehen? Mit diesen Fragen im Gepäck habe ich mich Ende September zum südlichsten Fleck Europas aufgemacht, diesmal aber nicht nur, um Urlaub zu machen, sondern um Antworten zu finden.
Abseits vom Dorf und vor den indiskreten Blicken der Touristen sicher, in einer Mulde, befindet sich das Aufnahmezentrum Lampedusas.
Aufgrund von Protesten der Bevölkerung werden schon seit einiger Zeit keine Flüchtlinge auf Lampedusa mehr aufgenommen, ausgenommen in Notsituationen und für die Erstversorgung. Ansonsten versucht die Küstenwache, die Flüchtlinge direkt nach Sizilien zu bringen. Dementsprechend das Bild in Lampedusa: Touristen bummeln gemütlich durch die Hauptstraße und die Fischer vermarkten am Hafen ihre Ware. Ganz anders die Szenerie in Sizilien, wo sich die Flüchtlinge massenweise auf den Straßen aufhalten. Aber die Situation in Lampedusa ist längst nicht so harmlos und idyllisch, wie sie im ersten Augenblick wirken mag. Abseits vom Dorf und vor den indiskreten Blicken der Touristen sicher, in einer Mulde, befindet sich das Aufnahmezentrum Lampedusas. Es ist immer noch gut gefüllt und im Mai dieses Jahr soll es über 1400 Insassen beherbergt haben – geplant wurde das Zentrum für nicht mehr als 380. Wie eingesperrte Verbrecher warten die Menschen dort auf das Ungewisse. Wer hier vorbeikommt und mit ihnen spricht, von einer Seite des Zauns zur anderen (natürlich unerlaubterweise), der wird trotzdem mit einem herzlichen Lächeln eingeladen, auf ihre Seite „rüberzukommen“. Es sei doch viel lustiger zusammen, meint einer der Flüchtlinge.
Dass die vermeintliche Ruhe des Moments trügerisch ist, wissen auch die Mitglieder des örtlichen Kollektivs Askavusa(siehe Infokasten rechts). Sie haben für die folgenden Tage ein Festival mit Diskussionen, Filmen und Musik organisiert, zu dem Aktivisten aus ganz Europa eingeladen sind. Die compagni, wie sie sich nennen, kommen aus Melilla, Calais oder Ventimiglia; auch Monika, eine freiwillige Helferin aus Südtirol ist dabei. Verbinden tut sie alle eines: die Forderung nach offenen Grenzen. „No borders, no nations, no deportations“ lautet das Leitmotiv.
Hier auf Lampedusa, im Rahmen des Festivals, wollen die Aktivisten sich über die aktuelle europaweite Situation beraten und die Grundlagen für ein neues gemeinsames Netzwerk schaffen, um die Unterwanderung der Grenzen und die Hilfestellung für Flüchtlinge effizienter voranzubringen. Jeder einzelne hat eine Menge zu berichten: Martina zum Beispiel, die in der spanischen Enklave Melilla aktiv ist, erzählt von den Menschenrechtsverletzungen durch die Guardia Civil, die dort an der Tagesordnung stehen. Flüchtlinge wurden beim Versuch, Spanien zu erreichen, sogar getötet. Auch die Aktivisten selbst sind ständig Repressalien und Prozessen ausgesetzt, weil sie die Praktiken der Guardia Civil dokumentieren. Von einer ganz anderen Willkommenskultur wissen hingegen die Autolitano-Brüder, zwei französische Filmemacher, zu berichten. Es gebe vor allem in der rechtsextremen Partei Front National überraschenderweise viele Mitglieder, besonders Unternehmer, die die Einwanderung befürworten, erklären sie: „Ausländer begnügen sich nämlich mit einem niedrigeren Lohn. Und wer seinen Arbeitern Unterkunft und Verpflegung bieten muss, der hat natürlich Muslime besonders gern, denn die halten einen Monat lang Ramadan.“
„Wir sind uns dessen oft gar nicht bewusst, aber da findet gerade ein Bürgerkrieg im Nachbarland statt.“
Während die Compagni jeweils die Tätigkeit ihrer Kollegen besser kennenlernen, hat gegenüber von PortoM, im „Alten Hafen“, inzwischen die SeaWatch angelegt. So nennt sich der umgebaute Fischerkutter, auf dem eine ausgewählte Crew bereits den ganzen Sommer lang zweiwöchige Ausfahrten machte, um in Not geratenen Flüchtlingsbooten Hilfe zu leisten. Harald Höppner, der Gründer der Initiative, lädt mich aufs Boot ein und zeigt mir einige Videoaufnahmen von den Rettungsaktionen. Nach anstrengenden Monaten auf hoher See ist man nun von der letzten Exkursion zurückgekehrt. „Von nun an ist das Meer wegen der ersten Stürme auch zu unruhig, um weitere Ausfahrten angehen zu können“. Es scheint, als schwinge in Haralds Stimme ein Hauch von schlechtem Gewissen mit. Er weiß, dass trotzdem noch Boote kommen werden, auch bei der gefährlichen Witterung.
Die Erlebnisse der Crewmitglieder beschränkten sich nicht nur auf gerettete Flüchtlinge und hohen Wellengang. Als die SeaWatch unmittelbar vor Libyen war, konnte die Mannschaft die Raketen beobachten, die in hohem Bogen auf Tripolis niedergingen. „Wir sind uns dessen oft gar nicht bewusst, aber da findet gerade ein Bürgerkrieg im Nachbarland statt“, sagt einer von der Crew.
Man muss allerdings nicht bis nach Tripolis fahren, um Kriegsatmosphäre zu spüren. Wer auf Lampedusa die gutbesuchten Strände meidet und einfach nur über die Klippen und die trockene Wüstenlandschaft des Landesinneren wandert, der wird bald auf seltsame Schilder stoßen, auf abgesperrte Gelände und Gebäude. „Zona militare“, heißt es da: Zutritt strengstens verboten. In der Zeit des Kalten Kriegs stellte Lampedusa einen strategischen Stützpunkt dar. Nicht nur gegen den Ostblock, sondern auch gegen das Gaddafi-Regime in Libyen. Die NATO führte von hier vor allem Radarüberwachungen durch, sehr zum Unbehagen Gaddafis, der 1986 die US-verwaltete Loran-Sendestation auf Lampedusa mit zwei Raketen beschoss. Die Raketen verfehlten allerdings ihr Ziel.
Nach einer Zeit der Demilitarisierung ab dem Ende des Kalten Krieges folgt nun wieder eine Kursänderung. Unter dem Vorwand der instabilen Situation in Libyen und der Einwanderung, die eine Überwachung des Mittelmeeres wieder notwendig mache, werden alte Militärbasen reaktiviert und neue Radarsysteme aufgebaut. Die elektromagnetische Belastung für die Menschen und die Umwelt ist erheblich. Einige dieser Radare sind genau jene, die auf Sardinien wegen ihrer gesundheitsschädigenden Effekte aufgelassen wurden, nachdem die Bevölkerung dagegen mobil gemacht hatte. Jetzt kommen eben diese Radarsysteme nach Lampedusa, hier rechnet die Regierung mit weniger Widerstand. Lampedusa ist allerdings kein Einzelfall der Militarisierung: In diesem Monat werden große Teile des Mittelmeers zum Schauplatz der Trident Juncture, der größten NATO-Übung seit über 20 Jahren.
Von dieser außergewöhnlichen militärischen Präsenz beeindruckt, zeigt sich auch der maltesische Dichter Antoine Cassar. Vor dem Tor Europas, einem Monument, das zu Ehren der Flüchtlinge errichtet wurde, soll er seinen international anerkannten Text „Passaport“ vorlesen. Es ist schon Abend, kurz vor Sonnenuntergang, und der Maestrale, ein kalter Wind aus Nordwesten, bringt die versammelten Zuhörer zum Frösteln. Bevor er die Lektüre anstimmt, nimmt Antoine diesen Wind zum Anlass, um einige Eindrücke loszuwerden. „Lampedusa habe ich als eine Insel mit viel Wind und sehr wenig Luft erfahren“, sagt er. „Luft steht für Freiheit, für Bewegung und Grenzenlosigkeit. Hier aber sind wir gerade an einer solchen Grenze. Das Militär und die Radarüberwachung sind omnipräsent, von Freiheit ist wenig zu spüren.“
Was Antoine Cassar beobachtet, ist nur einer der vielen Widersprüche auf Lampedusa. Das kann einem besonders stark bewusst werden, wenn man die Insel aus den Augen des distanzierten Touristen an der „Spiaggia dei Conigli“, Lampedusas Hauptattraktion, betrachtet. Ende September ist der Strand immer noch überfüllt, aber nicht jeder ist hier, um in der Sonne zu dösen. Zwischen den Liegestühlen und Badetüchern patrouillieren ein paar Freiwillige verschiedener Umweltorganisationen: Ihre Aufgabe ist es, den Strand sauber zu halten und dafür zu sorgen, dass wenigstens ab dem frühen Abend das Brutgebiet der seltenen Karettschildkröte wieder menschenleer ist.
Aufgrund des Fischereiverbots im Umkreis des Strandes ist auch die Unterwasserwelt sehr belebt. Mit Brille und Schnorchel schwimme ich um die sogenannte „Isola die Conigli“. Von Kraken und Zackenbarschen bis zu Barrakudas und Rochen bekommt man hier vieles zu sehen. Umso unvorstellbarer ist dann das Bewusstsein, dass erst vor zwei Jahren nur einen Kilometer von hier entfernt über 350 Menschen ihr Leben in den Fluten lassen mussten. Ich tauche auf und schaue zurück zum Strand: Ein Mosaik aus bunten Sonnenschirmen. Menschen planschen im seichten Wasser, vergnügte Kinderschreie dringen bis heraus aufs Meer.
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