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Illustrations by Sarah
Teresa Putzer
Veröffentlicht
am 08.02.2023
LebenInterview mit Flüchtlingshelferin Elisa Reiterer

„Es ist eigentlich ein Gefängnis“

Die Meraner Ärztin Elisa Reiterer hat als Flüchtlingshelferin in Griechenland und in der Ukraine gearbeitet. Die Gleichgültigkeit gegenüber den Flüchtlingen in Griechenland mache sie wütend.
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Mädchen und Frauen im Flüchtlingslager Diavata in Thessaloniki mit Fotograf Mattia Bidoli

Die Meraner Ärztin Elisa Reiterer arbeitete mit einer deutschen NGO freiwillig im Flüchtlingslager Diavata in Thessaloniki bei Griechenland und anschließend an der polnisch-ukrainischen Grenze und in Lviv in der Ukraine. Dort entstand auch die Fotoausstellung „Sie nahmen uns die Stimme. Also erzählen wir unsere Geschichte durch Bilder“ von Mädchen des Flüchtlingslagers und dem Krisenfotografen Mattia Bidoli, die noch bis März im Frauenmuseum in Meran zu sehen ist.

Elisa, du hast die Fotoausstellung „Sie nahmen uns die Stimme. Also erzählen wir unsere Geschichte durch Bilder“ organisiert. Wer steht hinter dieser Ausstellung?
Dahinter steht eine Gruppe junger Mädchen und Frauen, die zum Großteil aus Afghanistan, zum Teil aus Syrien, Irak, Kurdistan und aus Palästina kommen. Alle sind Flüchtlinge im Lager Diavata bei Thessaloniki in Griechenland. Mattia Bidoli baute dort eine Art Fotografieschule für junge Frauen und Mädchen auf. In diesem Rahmen haben die jungen Frauen die Fotos gemacht, die nun in Meran zu sehen sind. Alles stammt von ihnen: die Ideen, das Konzept, die Umsetzung, Produktion und Bearbeitung der Fotos.

Elisa Reiterer

Wie sieht der Alltag der Mädchen in Diavata aus?
Schwierig. Das erste Gefühl, das ich beim ersten Besuch in Diavata bekommen habe, war beengt. Das Flüchtlingslager hat die Fläche von ein paar Fußballfeldern und ist umrandet von einer drei Meter hohen Betonwand mit Draht, die immer von Polizei und Hunden bewacht wird. Es ist eigentlich ein Gefängnis. Im Inneren stehen hundert kleine Baucontainer. Pro Container gibt es zwei Räume, ein Plumpsklo mit Dusche und eine Küchenzeile. In einem Container leben bis zu acht Personen, exklusive Babys.

Was sind die Probleme der Mädchen im Flüchtlingslager?
Es gibt keinerlei Rückzugsmöglichkeiten und keine Privacy. Die alphabetisierten Mädchen im schulpflichtigen Alter haben als einzige die Möglichkeit, aus dieser Struktur durch den Schulbesuch rauszukommen. Es gibt aber viele Mädchen, die nicht lesen oder schreiben können und viele junge Frauen, die nicht mehr im schulpflichtigem Alter sind. Für sie gibt es keine Beschäftigungen: Sie dürfen nicht arbeiten, haben keine Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung.

Was machen sie den ganzen Tag?
Eine italienische NGO hat zum Glück direkt neben dem Lager einen Rückzugort für Frauen aufgebaut. Dort lernen sie lesen, schreiben, Englisch, können basteln und machen Sport- und Kochkurse. Dort gab es auch die Fotografie-Schule.

Warum war diese Schule so wichtig für die jungen Frauen?
Die Fotos versuchen den Frauen eine Stimme zurückzugeben. Es ging darum einen sicheren freien Raum für Frauen zu schaffen, wo sie ausdrücken können, was sie gerade beschäftigt. Es ging nicht darum, den Mädchen das Fotografieren beizubringen. Der Sinn hinter der Fotografie-Schule lautet wie der Titel der Ausstellung: Es geht darum, denjenigen eine Stimme zurückzugeben, denen sie genommen wurde und die durch die Gesellschaft und durch patriarchale Strukturen ihrer Herkunft zum Schwiegen gezwungen wurden.

Es geht darum, denjenigen eine Stimme zurückzugeben, denen sie genommen wurde und die durch die Gesellschaft und durch patriarchale Strukturen ihrer Herkunft zum Schwiegen gezwungen wurden

Welche Fotos sind in der Ausstellung zu sehen?
Viele verschiedene. Die Mädchen porträtieren in den Fotos ihr Innenleben. Sie zeigen alles, was die Mädchen von ihrer Vergangenheit bis heute beschäftigt. So geht es um den Zugang zur Bildung, um Kinderheirat, die Flucht selbst, die Rolle der Frau, Zukunftsängste und die Frage: Was bedeutet Heimat? Ein Mädchen hat zum Beispiel ein Foto von sich mit ihrem Reisepass gemacht. Dabei steht sie am Tag, wo sie das Flüchtlingsheim verlassen und nach Deutschland gehen kann, vor ihrem Container, in dem sie vier Jahre gelebt hat. Hinter ihr eine Strichliste mit den Wochen, die sie im Camp verbracht hat.

“They stole my youth” (Sie haben meine Jugend gestohlen) nennt sich ein Foto von Zohre Mussakhan, die in der Ausstellung in Meran zu sehen ist.

Wenige Monate nach deiner Flüchtlingsarbeit in Diavata hast du als Ärztin in der Ukraine gearbeitet. Welche Erfahrungen hast du dort gesammelt?
Zu Beginn meiner Arbeit war ich an der polnisch-ukrainischen Grenze. Das war kurz nach der Zeit, als die ganzen Fotos von Kilometer langen Menschenschlangen an den Grenzen in den Medien kursierten. Als wir vor Ort waren, war die Situation medizinisch betrachtet schon viel besser, weil es wärmer war und die Menschen in Autos und nicht mehr zu Fuß vor der Grenze warteten. Die Arbeit dort war fast ausschließlich Sozialarbeit.

Wem habt ihr geholfen?
Viele haben notwendige Medikamente zu Hause vergessen, denen wir dann Medizin zur Verfügung gestellt haben. Dort habe ich eine junge Frau aus Butscha kennengelernt, die ein Blutdruckmittel für ihre Mama gebraucht hat. Sie war eine der wenigen, die das russische Massaker, in dem auch ihr Vater getötet wurde, überlebt hat. Zwei junge Männer haben kurze Zeit bei uns gelebt, weil sie nicht über die Grenze gelassen wurden. Sie hatten die Zusage einer ausländischen Universität, was damals Recht auf Flucht bedeutete. Allerdings wurden sie nur als Deserteure von willkürlichen Grenzbeamten beschimpft, bis sie nach einer Woche durch Glück durchgewunken wurden.

Du warst anschließend in Lviv in der Ukraine, um zu helfen. Was hast du dort gemacht?
Ich habe kriegsversehrte Patienten aus der Ukraine mit Intensivtransporten nach Polen zum Militärflughafen gebracht, die dann nach Deutschland ausgeflogen wurden. Unter den Patient:innen war nur ein Soldat, sonst alles Zivilist:innen und sehr viele Kinder: zwei Frühchen mit 23 Wochen oder ein sechsjähriges Mädchen, das beim Spielen in eine Miene getreten war.

Die Flüchtlinge in Griechenland fühlen sich, als hätte sie die Welt vergessen.

Bei der Anfrage für dieses Interview hast du betont, dass du vor allem über das Fotoprojekt der Mädchen in Diavota und weniger über deine Arbeit in der Ukraine sprechen möchtest. Warum?
Ich habe beide Extreme der Flüchtlingsarbeit in Griechenland und in der Ukraine innerhalb eines halben Jahres erlebt. Das Ausmaß an Aufmerksamkeit und Unterstützung, das Menschen der Ukraine im Vergleich zur absoluten Gleichgültigkeit gegenüber den Menschen in Griechenland bekommen haben, hat mich sehr traurig und wütend gemacht. Ich will in keinster Weise den Einsatz von uns und die Hilfsarbeit in der Ukraine schmälern. Es ist menschlich extrem wichtig, dass wir die Ukraine unterstützen.

Aber?
Aber die Flüchtlinge in Griechenland fühlen sich, als hätte sie die Welt vergessen. Im Lager sind sie abgestellt und können „gut“ warten. Das hat nichts mit dem europäischen Gedanken zu tun. Dort herrschen keine europäischen Standards. Ich habe auch bei der Ukraine Angst, wenn der Krieg noch lange andauern sollte, dass Menschen Ukrainer:innen irgendwann mit derselben Gleichgültigkeit begegnen, wie sie es jetzt mit den Flüchtlingen in Griechenland tun.

Womens strength nennt sich ein weiteres Bild der Ausstellung.

Was würdest du dir wünschen?
Es braucht einen medialen Aufschrei bezüglich der Lebensumstände in den Lagern, der Dauer der Bürokratie und der mangelnden Reintegration. Diese Menschen werden in Einrichtungen wie in Diavata noch mehr traumatisiert, als sie es durch ihre Vergangenheit schon sind. Ich wünsche mir, dass Menschen aufhören Flüchtlinge, je nach Herkunft an zweierlei Maß zu messen und dass die Aufmerksamkeit dorthin gelenkt wird, wo sie übersehen wird, wie nach Griechenland. Diese Menschen sind still und leise abgestellt, in einem Flüchtlingslager, wo sie niemand hört und wo sie niemand sehen muss. Das ist unfair und unmenschlich.

Planst du aktuell weitere Flüchtlingsarbeit-Aufenthalte in Krisenländern?
Ich beende zuerst meine Ausbildung als Ärztin und bin dann auch mal urlaubsreif, weil ich die Flüchtlingsarbeit immer während meinem Urlaub vom Krankenhaus gemacht habe. Ich werde aber sicher immer wieder in der Flüchtlingsarbeit tätig sein. Diese Arbeit ist für mich ein wichtiger Reality-Priviligien-Check. Das ist sicherlich eine masochistische Tendenz, aber es ist einfach wichtig, sich immer wieder vor Augen zu führen, wie gut es uns geht.

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