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Teresa Putzer
Veröffentlicht
am 29.07.2020
LebenPsychisch krank im Studium

Bedrohliche Freiheit

Veröffentlicht
am 29.07.2020
Sie leiden an Depressionen, Zwangsstörungen und Ängsten. Warum werden so viele Studierende psychisch krank?
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„Tick-Tack, Tick-Tack.
Es ist sieben Uhr. Ich will aufstehen, doch ich kann nicht. Ich muss lernen, doch mir fehlt die Kraft. Ich bin gefangen. Gefangen in meinem Denken. Gefangen in meinem Körper. Gefangen in Trübsal.
Tick-Tack, Tick-Tack.
Es ist acht Uhr. Mein Gefängnis besteht aus wiederkehrenden Gedanken: Ich muss ausbrechen und lernen. Zu meinem Unmut gesellt sich Wut. Ich bin wütend auf mein Studium. Wütend auf die Uni. Wütend auf mich.
Tick-Tack, Tick-Tack
Es ist neun Uhr. Anstatt die Zeit, die mir noch bleibt, sinnvoll zu nutzen, liege ich in einem dunklen Zimmer und die Zeit verstreicht. Zeit, die ich ohnehin nicht übrig hätte. Zeit, die ich dringend benötige.
Es ist zehn Uhr.
Tick-Tack, Tick-Tack.“ (Lena, Studentin, 23)

Lena** studiert Biologie in Graz. Sie versucht es zumindest, denn sie leidet an Depressionen. Eigentlich ist Lena voller Vorfreude in ihren langersehnten neuen Lebensabschnitt gestartet. Allerdings wurde der Studentin bereits nach ihrer ersten Vorlesung mit rund 300 Studierenden klar, dass ihr Studium nicht dem typischen College-Filmmuster entspricht. „In den Vorlesungen traf ich immer nur eingeschweißte Gruppen aus anderen Bundesländern oder ehemalige Schulfreund*innen. Nur vereinzelt saßen Studierende allein da. Wenn man allerdings auf die zuging, wurde schnell ein Rucksack als Sitzfreihalter neben einem platziert.“ Der mangelnde soziale Anschluss und die ersten Prüfungsherausforderungen, welche darin bestanden, mehrere Bücher, anstatt der bisher gewohnten wenigen Seiten zu lernen, ließen Lena in ein tiefes Loch fallen.

„Es ist neun Uhr. Anstatt die Zeit, die mir noch bleibt, sinnvoll zu nutzen, liege ich in einem dunklen Zimmer und die Zeit verstreicht.“ (Lena, Studentin)

Mit solchen Schwierigkeiten ist Lena nicht allein. Rund 60 Prozent der Studierenden haben im Laufe ihres Studiums mit ihrer psychischen Gesundheit zu kämpfen. Das beunruhigende Resultat einer seit kurzem veröffentlichten Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zeigt, dass ein Drittel der betroffenen Studierenden an einer ernst zu nehmenden, psychischen Krankheit leiden. Die häufigsten Störungen, die Forscher*innen ausmachen konnten, sind Depressionen, Manien, Angststörungen, Panikstörungen, ADS/ADHS sowie Alkohol- und Substanzmissbrauch.

Sind diese Zahlen auch auf Südtiroler Student*innen übertragbar? „Das ist denkbar“, sagt die Psychologin und Psychotherapeutin Martina Trafoier. In Südtirol gibt es zwar keine vergleichbaren Studien und entsprechende Daten, dennoch kann sie die Zahlen der WHO nachvollziehen. Viele ihrer eigenen Patient*innen sind selbst Studierende. Laut Martina Trafoier sind die häufigsten Beschwerden der Studierenden depressive Symptome, welche häufig mit Selbstzweifel und Prokrastination, sprich „Aufschieberitis“, einhergehen. Die Hochschulabsolvent*innen leiden zudem oft an hohen Perfektions- und Selbstansprüchen, welche in der Folge zu Überlastungssituationen führen. „Damit geht in vielen Fällen ein erhöhter Substanzmittelkonsum einher: Zum Abschalten wird dann etwa ein Joint geraucht“, so Trafoier.

Ann-Marie Küchler

Warum sind Studierende so anfällig für psychische Erkrankungen? Ann-Marie Küchler forscht in der Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Ulm gerade zu dieser Frage. Sie ist Mitarbeiterin des StudiCare-Projekts, das im Rahmen der World-Mental-Health-International-College-Student-Initiative der WHO durchgeführt wird. Sie nennt als Ursache für das vermehrte Auftreten psychischer Krankheiten bei Studierenden die drastischen Veränderungen im bisherigen Leben. Die neu gewonnene und lang ersehnte Freiheit birgt viele Herausforderungen: Das gewohnte, soziale Umfeld wird verlassen, der familiäre Rahmen aufgelöst und plötzlich heißt es: Auf eigenen Beinen stehen. Dafür müssen neue Strukturen und Routinen erst aufgebaut werden.

Dies betrifft wohl besonders auch viele Südtiroler*innen, da das Land nur begrenzte Studienmöglichkeiten bietet und so meistens auf Österreich, Deutschland oder andere Regionen Italiens als Studienort ausgewichen werden muss. Der Verlust des vertrauten Umfelds führt bei vielen schnell zur Orientierungslosigkeit. Ein ganz ähnliches Phänomen findet sich mit dem sogenannten Praxisschock auch beim Einstieg in die Arbeitswelt, so Martina Trafoier.

So erging es auch Lena. Mit großen Erwartungen kam sie nach Graz, doch bald traf sie die Ernüchterung. Irgendwie hatte sie es sich doch anders ausgemalt: „Ich dachte, das anonyme Studentenleben bedeutet frei zu sein. Aber auf einmal bist du nur noch eine achtstellige Matrikelnummer unter vielen. Es gibt keine Professor*innen oder Mitstudent*innen, die dich an Abgaben erinnern oder zumindest deinen Namen kennen. Anonymität bedeutet Segen und Fluch gleichzeitig.“

„Ich dachte, das anonyme Studentenleben bedeutet frei zu sein. Aber auf einmal bist du nur noch eine achtstellige Matrikelnummer unter vielen.” (Lena, Studentin)

Neben der Anforderung, sich in eine neue Struktur einzufinden, der Organisation des Studiums und dem Versuch, den akademischen Ansprüchen zu genügen, stellt besonders das soziale Leben eine Hürde dar. Nicht selten kommen dazu auch finanzielle Probleme. Aufgrund der zunehmenden Semesterzahlen, der teuren Lebenshaltung und der steigenden Mieten müssen viele Studierende parallel zum Studium jobben. Wenn es darum geht, all diese verschiedenen Herausforderungen zu meistern, spricht Psychologin Ann-Marie Küchler nicht umsonst von „Jonglieren“.

Wie lässt sich das psychische schwarze Loch, in das Lena und andere Studierende in den ersten Semestern fallen, vermeiden? Trafoier sieht den kritischen Augenblick im Übergang von der schulischen Struktur zur Studienrealität. Das Studium darf dann nicht als Fortsetzung der Oberschulzeit gesehen werden, sondern als eine neue Entwicklungsphase, in der zunächst eigene – zuvor nicht in Frage gestellte – Bedürfnisse geklärt werden müssen. Dies reicht von alltäglichen Bedürfnissen, wie „Brauche ich wirklich ein Mittagessen?“ bis hin zu grundsätzlichen Entscheidungen „Passt mein Studium überhaupt zu mir?“.

Dadurch gehören Identitätskrisen zum Alltag vieler Studierenden, weil eigene oder auch elterliche Vorstellungen mit der Realität des Studiums kollidieren. „Plötzlich entspricht dann das Jurastudium nur noch den elterlichen Erwartungen und nicht mehr den eigenen Interessen“, veranschaulicht die Psychotherapeutin Martina Trafoier das Problem.

Trotz des hohen Risikos für die Entwicklung psychischer Probleme betont Forscherin Ann-Marie Küchler auch den „Vorteil“ der herausfordernden Lebensphase „Studium“: Es sei eine wichtige Zeit für den Aufbau effektiver Bewältigungsstrategien für das weitere Leben. Aber wie genau können nun Bewältigungsstrategien gelernt und wie kann psychischen Problemen im Studium vorgebeugt werden?

Martina Trafoier

Trafoier, die in ihrer Praxis für Psychotherapie mit vielen Studierenden arbeitet, sieht in allem, „das einen innerlich stabiler macht und somit das Selbstbewusstsein und die Belastbarkeit fördert, den Schlüssel zur psychischen Gesundheit“. Dazu zählen für sie Bewegung, gesunde Ernährung und gute soziale Beziehungen. Ebenso hilft eine realistische Selbstwahrnehmung in Bezug auf eigene Stärken und Schwächen. Besonders die Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse, ohne Über- und Unterschätzung der eigenen Person, hilft, auf Herausforderungen im Studium zu reagieren.

Ann-Marie Küchler von der WHO-Studie ist sich sicher, dass dabei das StudiCare-Hilfsangebot eine gute Möglichkeit darstellt. Dieses Hilfsangebot wurde parallel zu den Ergebnissen der Studie entwickelt und arbeitet mit sogenannten IMIs und E-Coaches. IMIs sind digitale Interventionen zur Gesundheitsförderung und Prävention psychischer Belastungen. Begleitet werden diese von den sogenannte E-Coaches, hinter welchen Psycholog*innen stecken, die betroffene Student*innen professionell unterstützen. Die StudiCare Online-Trainings sind kostenlos und helfen beispielweise beim Erlernen von Achtsamkeit, Stressbewältigung, Überwindung von Ängsten oder Smartphone Reduktion und unterstützen den Aufbau von körperlicher Aktivität und Schlafrhythmus.

Laut WHO-Studie lassen sich nur ein Drittel aller betroffenen Studierenden bei psychischen Problemen unterstützen.

Leider lassen sich sich laut der WHO-Studie nur ein Drittel aller betroffenen Studierenden bei psychischen Problemen unterstützen. Das bedeutet, dass die Hemmschwelle bei Student*innen für die Inanspruchnahme von professionellen Unterstützungsangeboten nach wie vor sehr hoch ist und das Thema der psychischen Gesundheit noch immer ein gesellschaftliches Tabu darstellt. Auch für Lena war es schwer, sich ihre psychische Krankheit einzugestehen. Seit einem Jahr wird sie nun psychologisch betreut. Die Therapiestunden und die medikamentöse Behandlung mit Antidepressiva haben der Studentin über eine sehr schwere Zeit hinweggeholfen. Lena weiß, dass sie sich erst am Anfang eines weiten Weges ihrer Besserung befindet. Dennoch sieht die Studentin bereits ein wenig Licht am Ende des Tunnels und ist zuversichtlich, in zwei Semestern den Bachelor in der Tasche zu haben. Danach will die 23-Jährige, sofern es ihre psychische Gesundheit zulässt, gleich mit dem Master starten. „Die Zeit bleibt schließlich ja nicht stehen“, sagt Lena.

** Name von der Redaktion geändert

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