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Illustrations by Sarah
Barbara Plagg
Veröffentlicht
am 19.08.2025
MeinungMotherhood unPlagged

Trigger & Trauma: die Erziehungsparanoia

Das Kind heute angemault – schon droht morgen eine Angststörung. Unsere Autorin Barbara Plagg über eine aus dem Ruder gelaufene Psychologisierung der Elternschaft, die Erziehung so überfrachtet, dass Eltern nur noch scheitern können.
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Na, heute schon dein Kind verhunzt, weil du kurz mal die Nerven verloren hast? Dafür gesorgt, dass aus deinem Wonneproppen später mal ein Waschlappen, ein Wichtigtuer oder ein Wrack wird? Weil du es angemault hast, weil du zu wenig aufmerksam warst, weil du dein verletztes inneres Kind nicht im Griff hattest und deswegen jetzt aus deinem eigenen ein ängstlich-vermeidendes, co-abhängiges und bindungsunsicheres gemacht hast? Nö? Da gehörst du nicht dazu? Du hast alles richtig gemacht und es heute geduldig für jede Erbse, die es sich in die Nase geschoben hat, gelobt? Dann hast du leider auch alles falsch gemacht und vielen Dank auch für den kleinen Narzissten, den du da heranziehst.

Willkommen im Zeitalter der hyperpsychologisierten Elternschaft! Wir sind die Muttis, die nicht nur Karottenkuchen, Kryo-Facial und Karriere machen, sondern auch reflektiert, reguliert und responsive unser Kind durch eine völlig irre Welt zu einem stabilen Erwachsenen durchlotsen sollen – obwohl weder die Welt noch wir selbst ganz stabil sind. Und obwohl uns niemand gesagt hat, wie genau das eigentlich gehen soll, weil wir zwar bestens darauf vorbereitet wurden, den Umfang des Quadrats zu berechnen, in dem unsere Dreijährige mal wieder springt, aber keinen Plan haben, wie wir sie da jetzt gewaltfrei rauskommunizieren könnten. Dass wir keinen Kitaplatz gekriegt haben ist kacke, dass wir uns zwischen Lohn- und Carearbeit zerreiben ist krank – aber der absolute Endgegner im Elterngame ist die übertriebene Psychologisierung der Erziehung. Denn daran kann man nur scheitern.

Es ist schön, wenn einem die Erziehungsarbeit zwischen Lohn-, Care-, Haus- und Beziehungsarbeit problemlos gelingt, ohne dass man regelmäßig den Verstand verliert. Es ist aber leider auch ein Märchen.

Dabei ist Erziehung natürlich schon immer „psychologisch“ und auch ideologisch (mit jeweils unterschiedlich Trends) gewesen und es ist durchaus begrüßenswert, dass man die Rute irgendwann mit Reflexionsgesprächen ersetzt hat. Fortschritt in der Kindererziehung ist gut, aber WTF ist denn da bitte in den letzten Jahren passiert? Wir sind nicht mehr nur Mama und Papa, wir sind Projektleiter:innen der kindlichen Entwicklung und vollständig und alleinig verantwortlich für Potenzialentwicklung, Persönlichkeitsstörungen und Psychopathologien unserer Kinder. Wir wissen nicht mehr, welchen von den tausend Ratgebern wir lesen sollten, welche von den hundert Mumfluencerinnen Recht hat und welcher der fünfzig unterschiedlichen Erziehungsstile jetzt aktuell der beste ist – und wie wir das alles ohne einen PhD in Pädagogik, Psychologie und Kommunikationswissenschaften überhaupt händeln sollen. Aber auch wenn uns der PhD fehlt, haben wir immerhin alle inzwischen genug Instagram-Kacheln gelesen, um uns jeden Abend scheiße zu fühlen, weil wir zur Dreijährigen heute nicht „Ich sehe, du bist wütend, weil ich versehentlich deine Banane geschält habe, aber ich halte dich in deinem Sturm“ gesagt, sondern irgendwann „Meine Güte, das ist jetzt echt nicht schlimm und sonst lässt du es halt!“ geschrien haben.

Es ist schön, wenn einem die Erziehungsarbeit zwischen Lohn-, Care-, Haus- und Beziehungsarbeit problemlos gelingt, ohne dass man regelmäßig den Verstand verliert. Es ist aber leider auch ein Märchen. Denn niemandem gelingt das immer. Und dein Kind wird auch kein dysregulierter Vollpfosten, wenn dir das mal nicht gelingt. Jedenfalls nicht deswegen, jedenfalls nicht deinetwegen. Und genau hier liegt auch eines der Grundprobleme der hyperpsychologisierten Erziehung: Man schiebt die Verantwortung wieder bequem ins Private. Auf die Eltern. Vor allem auf die Mütter. Dabei ist das Bullshit. Natürlich ist Sicherheit, Liebe, klare Orientierung und eine echte Beziehung die Grundlage für die kindliche Entwicklung. Aber die liebevollste Mama und der zugewandteste Papa kann nicht alles kompensieren, was Didaktik und Notenkultur in der Schule, Mobbing und Gruppendynamik im Freundeskreis, TikTok und Instagram auf dem Handy, zu wenig Platz und zu viel Enge in der Wohnung, Unflexibilität und Leistungsdruck in Papas Vollzeitberuf, mangelnde Aufstiegschancen und geringes Gehalt in Mamas Teilzeitjob, kaum Verfügbarkeit und Sicherheit im öffentlichen Raum und zu wenig Zugang zu Vereinen, Sport- und Musikangeboten verhunzen.

Wir können zuhause nicht alles retten, was ringsum schief läuft, nur weil wir die richtigen Bücher lesen, die neuesten Erziehungspodcasts hören, die richtige Sprache finden und permanent nicht nur unsere eigenen, sondern auch die Traumata unserer gesamten Ahnenlinie intergenerational aufarbeiten. Erziehung ist auch eine kollektive und politische Verantwortung – nicht nur eine private. Am Vollpfosten, der am Ende rauskommt, sind wir alle mit schuld.

Kinder entwickeln keine generalisierte Angststörung, nur weil sie morgens unter Zeitdruck mal zur Tür rausgescheucht werden.

Und eben nicht nur die Mami, die ihr Kind zu viel „rumgestresst“ hat, weil sie morgens los musste, wie Instagram gerade wieder gern behauptet. Denn das zweite Grundproblem im Psychodiskurs ist: Er ist in großen Teilen unwissenschaftlich. Er stimmt zu oft nicht. Wenn „Expertinnen“ auf Instagram und in Podcasts erzählen, dass der „number one reason“, warum unser Baby als Erwachsener eine Angststörung haben wird, wir Eltern sind, die es „stressen und abhetzen“, dann erzählen sie Mist. Kinder entwickeln keine generalisierte Angststörung, nur weil sie morgens unter Zeitdruck mal zur Tür rausgescheucht werden. Damit liegen die „Expertinnen“ genauso daneben wie die Schwiegermutter, die sagt, man soll das Kind doch „einfach mal schreien lassen“. Oder wie die Nachbarin, die meint, man müsste einfach „weniger arbeiten und mehr beim Kind sein.“ Oder wie der Onkel Herbert, der saufend gerade noch sagen kann, ihm habe das alles „auch alles nicht geschadet“, bevor sein Kopf auf den Tresen knallt. Küchenpsychologie, Hobbydiagnosen und Instakacheln helfen Eltern nicht, sondern treiben sie in den ultimativen Wahnsinn. Wissenschaftlich ist davon längst nicht alles belastbar, praktisch umsetzbar ist davon fast gar nichts – aber verunsichernd ist es immer.

Dabei ist es natürlich gut, wenn wir uns im angebrachten Maße Gedanken um die Psyche unserer Kinder machen. Unserer Kinder, wohlgemerkt, weil die Psyche der anderen Kids ist uns ja eher egal und dient maximal als Aufreger im Elternchat. Und so liegt die Millenial-Mutti in ihrem Zirbenbett wach und sorgt sich, dass sie bei der Einschlafbegleitung schon nach zehn Minuten aufgestanden ist, während die Migranten-Mutti ein paar Blöcke weiter in ihrer Mietwohnung ebenso wachliegt und überlegt, ob die zehn Euro noch bis zum Wochenende reichen. Elternschaft bleibt trotz aller Ähnlichkeiten eine geteilte Erfahrung, die sich in unterschiedlichen Klassen völlig anders anfühlt – und die Psychologisierung ist dabei einer der deutlichsten Klassenmarker: Sie bleibt das Privileg der akademischen Mittelschicht, die sich verrückthelikoptert und den kleinen Leonard zum Resilienztraining und Mindfulness-Workshop schickt, während die untere Einkommensgruppe Pragmatik über Ratgeberkultur stellen muss, und der kleine Denis mit seinen Sorgen allein im Stockbett liegt.

Und so scheitern alle gemeinsam, aber jede:r auf seine eigene Art und Weise: Die einen an zu vielen Maximen, die anderen an zu wenig Möglichkeiten. Und man scheint beim gegenseitigen Verurteilen allzu oft zu vergessen: Wir sitzen vielleicht nicht alle im selben Boot, aber befinden uns alle im selben Sturm. Die Kinder der anderen sind auch immer die Spielkamerad:innen der eigenen. Sie sitzen in denselben Klassenzimmern, hängen in denselben Parks ab, teilen dieselben Fußballplätze und prägen sich gegenseitig. Wer das Beste für sein Kind will, muss auch das Beste für die anderen Kinder wollen.

Vielleicht sollten wir uns wieder öfter daran erinnern, dass alle Eltern ihr Bestes geben, so gut sie eben können.

Und was das Beste angeht: Vielleicht sollten wir uns wieder öfter daran erinnern, dass alle Eltern ihr Bestes geben, so gut sie eben können. Und dass das Beste von permissiv bis autoritär für unterschiedliche Familien sehr unterschiedlich aussehen kann. Die absolut allermeisten Eltern stemmen die Mammutaufgabe Erziehung bemerkenswert gut und mit einem erstaunlich zuverlässigen, ganz eigenen Kompass. Und egal welchen Erziehungsstil wir wählen: Niemand kann nach Feierabend zuhause noch die Cheftherapeutin des gesamten Systems geben und die kleinen Psychen permanent analysieren und therapieren, kompensieren und stabilisieren, optimieren und regulieren. Niemand, wirklich niemand, kann das immer leisten. Doch weil „Versagen“ in der Erziehung keine Option ist – man könnte das Kind ja gleich für das ganze Leben verhunzen – tut jede:r so, als würde es doch irgendwie gehen. Und so wird aus Psychologisierung Stigmatisierung: Wo selbst kleinste Fehler zu Folgeschäden, Auffälligkeiten zu Anklagen und Kinder zu Katastrophen werden, verurteilen wir andere und vereinzeln uns selbst. Die psychische Gesundheit der Kinder muss wichtig sein, darf aber nicht zur überpsychologisierten Dauerbedrohung für Eltern werden. Denn dann schadet sie mehr als dass sie nutzt. Und irre werden damit am Ende dann nicht die Kinder – sondern wir Eltern.

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