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Der Schaden ist schon angerichtet, der Scherbenhaufen groß. Nach Kritik, Protest und einer „medialen Hetzkampagne“ – O-Ton Klaus Rainer, Bürgermeister von Innichen – reagierte endlich Bischof Ivo Muser. Er zog die Berufung des Priesters Giorgio Carli zum Leiter der Seelsorgeeinheit für das Obere Pustertal zurück.
Enttäuscht über die Linie ihrer Kirche äußerten sich Katholische Jungschar und Katholische Jugend; sie bezeichneten die – zurückgezogene – Ernennung als fatales Signal. Mehr noch: Die Jugendorganisationen finden es unerträglich, dass die Kirche erst auf Druck von außen reagiert und ihre Entscheidung revidiert.
Wie kam der Bischof dazu, Don Carli befördern zu wollen? Warum holte er sich nicht Rat beim engagierten Gottfried Ugolini, Priester und Beauftragter der Diözese für die Prävention von sexuellem Missbrauch? Erneut sei Vertrauen verloren gegangen, sagte Ugolini auf RAI Südtirol.
Warum die Kritik und der Protest?
Priester Giorgio Carli sollte in diesen Tagen die Leitung der Seelsorgeeinheit für das Obere Pustertal übernehmen. Vorab wurden die Betroffenen, der Pfarreienrat, über die mögliche Versetzung informiert. Bischof Ivo Muser soll auch mit Seelsorgern und Pfarrgemeinderatsvorsitzenden vor Ort gesprochen haben.
Warum diese kircheninnere Diplomatie? Priester Carli war vor 25 Jahren in Untersuchungshaft und musste sich vor Gericht wegen sexuellen Missbrauchs „verantworten“. Während er zweitinstanzlich deshalb verurteilt wurde, wurde die Strafe von der Kassation aufgrund der Verjährung nicht bestätigt. Freispruch wegen Verjährung! Dennoch kam es nach einem Zivilverfahren zu einer Strafzahlung von 700.000 Euro.
Wird die Kirche damit den Betroffenen gegenüber ihrem Auftrag gerecht, für die Schwachen und Schutzsuchenden da zu sein? Oder gelten gar die Täter als die Schwachen und Schutzsuchenden?
25 Jahre danach sollte Priester Carli Karriere machen dürfen. Diese Beförderung sorgte für entsprechende Diskussionen. Die Kirche und ihr Umgang mit missbrauchenden Priestern. Deren Betroffene stehen nicht im Mittelpunkt kirchlicher Sorgen. Zwischen 1963 und 2023 sind 67 Missbrauchsfälle belegt, recherchierte immerhin im Auftrag der Kirchenleitung die Münchner Kanzlei Westphal Spilker Wastl.
Das Anfang des Jahres 2025 vorgestellte Gutachten dokumentiert die Aussagen von 75 Betroffenen, 29 nachgewiesene Fälle und führt 41 beschuldigte Priester an. Darunter auch den „Fall 16“, den unter Verjährung gefallenen Missbrauchs Don Carlis.
Ganz wohl scheint sich die Kirchenleitung nicht zu fühlen. So erklärte Bischof Muser, dass er die Verantwortung für den weiteren Einsatz des Priesters übernimmt – und zwar „auf Grundlage der Empfehlungen der Fachgruppe und der bestehenden Rahmenbedingungen“.
Wird die Kirche damit den Betroffenen gegenüber ihrem Auftrag gerecht, für die Schwachen und Schutzsuchenden da zu sein? Oder gelten gar die Täter als die Schwachen und Schutzsuchenden?
Rücksicht vor „kulturbedingten Umständen“?
Beispiele dafür gibt es. 2005 ermordeten zwei Brüder in Berlin ihre Schwester Hatun Sürücü – bekannt geworden als „Ehrenmord“. Sie hatte sich von ihrem Cousin in der Türkei, mit dem sie mit 15 Jahren zwangsverheiratet worden war, getrennt, kehrte nach Berlin zurück, legte ihr Kopftuch ab und beendete ihre Ausbildung. Sie wurde von ihrem jüngsten Bruder, wartend an einer Bushaltestelle, erschossen.
Ein Auftragsmord der kurdischen Familie, wie die Ex-Freundin des jüngsten Bruders vor Gericht bestätigte. Die Familie warf der Tochter u. a. vor, außerehelichen Sex mit einem Deutschen gehabt zu haben.
Der Richter zweifelte die Aussage der Zeugin an, für ihn war sie nicht glaubwürdig, und er sprach die beiden Brüder Mütlü und Alpaslan frei. Der Richter dozierte über andere Länder und andere Sitten, die von einem deutschen Gericht zur Kenntnis genommen werden müssten. Der Prozess ging als Ehrenmord-Verhandlung in die Justizgeschichte ein.
Was haben kulturbedingte Umstände in der Rechtsprechung verloren?
2007 beantragte die Berliner Staatsanwaltschaft Haftbefehle für die beiden Brüder. Diese leben seit dem Freispruch unerreichbar für die deutsche Justiz in der Türkei.
Die „Süddeutsche Zeitung“ recherchierte für ihr Dossier „Ehrenmord“ zudem, dass einer der Brüder seine Schwester immer wieder missbraucht haben soll. Wie sagte der Richter? Andere Länder, andere Sitten? In fundamentalistischen muslimischen Kreisen wird nicht der Täter, sondern die Betroffenen bestraft.
Der „Fall Hatun Sürücü“ ist einer von vielen Fällen von angeblichen Ehrenmorden; der „Fall Norhan A.“, die von ihrem Ex-Mann Yasser B. vor einer Schutzwohnung in Berlin erstochen wurde, war laut ihrer Nichte zuvor von ihm gestalkt und mit dem Tod bedroht worden. Google listet eine Vielzahl von „Ehrenmord“-Urteilen auf, die wenig überraschend ausfallen – meist zugunsten der Täter.
Laut dem Orientalisten Hans-Peter Raddatz urteilen deutsche Gerichte zu milde gegen islamisch motivierte Gewalttäter. Die deutsche Gerichtsbarkeit ziehe in zunehmender Weise „kulturbedingte Umstände bei muslimischen Straftaten mit in Betracht“, kritisierte Raddatz im Bayern2Radio. Bei Fällen von Körperverletzung an Frauen komme es sehr häufig dazu, dass die Gerichte nicht so verfuhren, „wie es erforderlich gewesen wäre“. Will heißen: Das Verständnis für die Täter war übermäßig groß.
Hier versagte der Rechtsstaat; seine Justiz hatte Verständnis für die Täter, aber keines für die Betroffenen. Denn: Was haben kulturbedingte Umstände in der Rechtsprechung verloren? Auch der angebliche Ehrenmord ist Mord. Anscheinend galt die Ehre der Ermordeten weniger als die „beschädigte“ Ehre der Familie. Einfach nur absurd.
Scharia statt österreichisches Recht
Wenig überzeugend lief auch die jüngste Diskussion um religiöse Vorgaben in der österreichischen Rechtsprechung ab. Ein Wiener Gericht urteilte ohne Not auf der Grundlage einer Regelung, die in der islamischen Scharia basiert. Eine doch übliche Praxis, kommentierte „Der Standard“, „sowohl im Umgang mit privaten Schiedsgerichten als auch im internationalen Privatrecht“. Die österreichische Tageszeitung fügte noch an: „Die Scharia beinhaltet nicht nur religiöse, sondern auch zivilrechtliche Vorschriften, die das Verhältnis von Menschen untereinander regeln.“
Was haben Scharia-Regeln in der europäischen Rechtsprechung verloren? Dies gilt auch für das
Laut einer Entscheidung des Landesgerichts für Zivilrechtssachen kann in Österreich das Urteil eines privaten Schiedsgerichts durchgesetzt werden – selbst dann, wenn es auf einer Regelung in der islamischen Scharia basiert. „Ein Schiedsspruch auf Scharia-Regeln ist auch in Österreich gültig“, schlagzeilte die Tageszeitung „Die Presse“.
„Entsetzlich“, tobte die in Teilen rechtsradikale FPÖ; Liberale und Linke würdigten den „juristisch sauberen Einzelfall“. Das Gegenstück dazu: Wenn die Kirchenoberen nach Kirchenrecht missbrauchende Pfarrer und Priester vor staatlichem Zugriff schützen – da wird verharmlosend von „Disziplinarverstößen“ gesprochen –, hagelt es von liberaler und linker Seite heftigste Kritik.
Was haben Scharia-Regeln in der europäischen Rechtsprechung verloren? Dies gilt auch für das Kirchenrecht im Fall von sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung. Allzu gern und allzu oft gibt es Versuche, diese Straftaten kirchenintern zu regeln – abseits der staatlichen Rechtsprechung. Deshalb forderte beispielsweise 2019 die damalige deutsche Justizministerin Barley die Kirchen auf, Missbrauchsfälle bei den Staatsanwaltschaften anzuzeigen.
Missbrauch, ein Disziplinarverstoß?
Der Priester Carli stand vor Gericht, kam wegen Verjährung frei. Carli und sein „Disziplinarverstoß“ werden von der Münchner Kanzlei Westphal Spilker Wastl in ihrer Recherche über Missbrauch in der Südtiroler Kirche als „Fall 16“ geführt. Sichtlich beeindruckt schilderte Anwalt Ulrich Wastl bei der Vorstellung des Reports diesen Fall.
Landtagsabgeordneter Paul Köllensperger vom Team K warf in der „Neuen Südtiroler Tageszeitung“ der Kirchenleitung vor, nichts gelernt zu haben: „Priester Carli vergewaltigte jahrelang ein minderjähriges Mädchen und einen Buben noch gleich mit. Er ist nur auf freiem Fuß, weil die Straftat leider schon verjährt war. Wenn man das Kassationsurteil dazu liest, wird einem schlecht.“ Köllensperger erinnert den Bischof und den Generalvikar an das Gutachten des Münchner Anwaltstrios. Es empfiehlt Null-Toleranz gegenüber Sexualtätern in der Kirche; vor allem aber sollten diese nie mehr in der Seelsorge arbeiten – und schon gar nicht mit Kindern in Kontakt kommen!
Es empfiehlt Null-Toleranz gegenüber Sexualtätern in der Kirche; vor allem aber sollten diese nie mehr in der Seelsorge arbeiten – und schon gar nicht mit Kindern in Kontakt kommen!
Offensichtlich sind der Kirchenleitung das Gutachten und die Empfehlungen egal. Die Entscheidung des Bischofs wird überraschenderweise im Oberen Pustertal geteilt. Der Innichner Bürgermeister Klaus Rainer kann die Bedenken nicht nachvollziehen. Er trifft den Punkt: Es handelt sich um eine kirchliche Entscheidung. Der Bürgermeister wundert sich hingegen entrüstet über die angebliche mediale Hetzkampagne.
Auch die Präsidentin des Innichner Pfarrgemeinderates stellt sich hinter die Entscheidung ihres Bischofs, dem sie voll vertraut. Immerhin verfügte Bischof Muser eine Reihe von Auflagen, die Priester Carli zu erfüllen hat. RAI Südtirol fasste diese zusammen:
• Psychologische Begleitung
• Seelsorgliche Tätigkeit mit Kindern und Jugendlichen nur in Anwesenheit weiterer erwachsener Personen
• Kontinuierliches Monitoring durch benannte Ansprechpersonen
Laut Diözese wurden die Maßnahmen auf Grundlage kirchenrechtlicher, zivilrechtlicher und medizinischer Kriterien sowie unter pastoralen Erwägungen getroffen.
Eine reichlich absurde Geschichte. Priester Carli war es, der um Versetzung nachfragte. Offensichtlich gab es am Ort seines bisherigen Wirkens öffentliche Kritik und wachsendes Misstrauen. Also wird er unter Auflagen versetzt, verschickt. Köllensperger hat Recht: Die Kirche hat nichts gelernt. Sie lässt Schutzbefohlene im Stich, aber auch Täter, denen mit einer Versetzung nicht geholfen wird. Noch ein Zitat von Paul Köllensperger: „Mir kommt zum Kotzen, wenn ich sehe, dass jetzt alles gleich weitergeht wie früher. Habt ihr wirklich gar nichts gelernt?“
War all das notwendig, um eine falsche Entscheidung zu widerrufen? Eine Entscheidung, die konsequent gegen die Betroffenen „sexueller Übergriffe“ in der Kirche gerichtet war.
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