Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus
Am ersten Tag herrschte ein gnädiger Rückenwind. Die Pedale drehten sich wie von selbst und die Weltstadt Wien fiel rasch hinter mir zurück. Ich schaute nach oben. Da war jetzt keine erbärmliche blaue Schneise zwischen betongrauen Sozialbauten mehr, sondern ein echter, schrankenlos blauer Himmel. Und darunter eine Welt, die ihr ursprüngliches, duftendes Grün wiedergefunden hatte. Durch diese Landschaft wollte ich weiterfahren, bis ich irgendwann in Südtirol ankommen würde.
Jetzt, wo ich darüber nachdenke, hätte mich der euphorische Aufbruch aus Wien gleich schon misstrauisch stimmen sollen. Aber in dem Moment saß ich noch unbeschwert auf dem Sattel und trudelte durch den pannonischen Frühsommer Richtung Süden.
Am Rand des Radwegs rankten sich so viele unbewachte Kirschbäume und Walderdbeeren, dass ich meinen Proviant bis zum Abend gar nicht anrühren musste. In den Kanälen tummelten sich Biber; auch sie bedienten sich an dem, was sie vorfanden, um ihre Dämme und Behausungen zu zimmern. Wie ein dämlicher Naturfetischist beobachtete ich ihr Treiben, identifizierte mich mit den Nagern und fühlte mich in der Welt gut aufgehoben. Dann setzte ich mich wieder auf den Sattel und trat in die Pedale, ohne zu wissen, wie weit ich heute noch kommen werde oder wo ich morgen aufwachen werde, nur neugierig auf das, was ich auf dieser Reise noch sehen und erleben werde. Was will man mehr?
Aber gute Reisen beginnen gewöhnlich nicht so.
Die Reisen, die auf Komfort verzichten, ohne Zeit- und Fahrplan, ohne Reiseführer und vorgebuchtes Hotelzimmer, sind zwar die erinnerungswürdigsten, dafür beginnen sie fast immer mit einer Krise. Der plötzlich Reisende, der seiner Routine bis vor Kurzem noch so beharrlich gefolgt war wie ein ausgehungerter Dackel der Fährte eines fernen Leckerlis, hat nun weder Ziel noch Zukunft. Alles spielt sich im Augenblick ab, in jener unmittelbaren Gegenwart, die man ansonsten zugunsten großer und wichtiger Pläne gerne mal vergisst. Sobald man sich nach ein paar Tagen auf die neuen Umstände eingestellt hat, wird das Reisen zum willkommenen Abenteuer – aber bis dahin fühlt man sich verloren, auf einem geradezu fahrlässigen Irrweg. Welcher Depp gibt sein sicheres Obdach auf und setzt sich bereitwillig den Gefahren aus, die da draußen überall lauern? Wenn man allein unterwegs ist, kommt zum Ganzen außerdem noch ein beißendes Gefühl der Einsamkeit hinzu.
Das bemerkte ich aber erst am Abend dieses so glänzend verlaufenen ersten Reisetages. Jetzt kam es nämlich darauf an, einen Schlafplatz für die Nacht zu finden. Je tiefer die Sonne stand, desto gründlicher spähte ich die Landschaft nach geeigneten Flecken ab. Ich hatte kein Zelt mit, und Unterkünfte standen wegen der Corona-Maßnahmen vorerst nur für Geschäftsreisende zur Verfügung. Aber ein paar Nächte unter freiem Himmel schreckten mich grundsätzlich nicht ab. Im Gegenteil. Diese Art kurzfristiger Obdachlosigkeit kannte ich noch von meiner Reise per Anhalter von Amsterdam nach Südfrankreich. Damals übernachtete ich mal in einer unbewachten Sporthalle, mal in einem Park, und ausgerechnet als es regnete, hatte ich das Glück, von einem französischen Paar mit zwei Kindern aufgenommen zu werden. Diesem Paar und vor allem dem kleinen Jungen, der sein Zimmer für mich räumen musste, bin ich heute noch dankbar.
Regen hatte ich diesmal keinen zu befürchten, deswegen entschied ich mich für eine Anhöhe mit prächtiger Aussicht. Dafür fürchtete ich mich jetzt aber vor allem anderen: die verzweigten Hecken – ein Brutkasten für Schlangen; das lange Gras – ein ideales Habitat für Zecken; die Rehböcke, die am Waldrand röhrten – konnten mich nachts, wenn sie auf den Wiesen herumtobten, versehentlich zertrampeln. Die Farben des Sonnenuntergangs und der Dämmerung übertönten kurz diese Sorgen, aber mit der anbrechenden Dunkelheit ging es erst richtig los. Die Krise, die für den Aufbruch zu solchen Reisen charakteristisch ist, war endlich da. Mit einer Wucht, die ich aus früheren Erfahrungen nicht kannte.
Ich weiß nicht, woher die Ängste kamen. Ist man mit 27 wirklich so viel älter und bornierter als mit 22? Sind es die veränderten Lebensumstände, der Berufseinstieg, die Langzeitbeziehung? Zu den eingebildeten Bedrohungen kam jedenfalls schnell eine echte hinzu. Diese Juninacht auf den Hügeln südlich von Wiener Neustadt war kalt. Saukalt. Bis Mitternacht war der Schlafsack schon mit einer Schicht Tau überzogen, die drohte, jederzeit ins Innere zu sickern. An tiefen Schlaf war vor Kälte gar nicht zu denken, also nutzte ich meine Zeit, um auf meinem Smartphone zu googlen: „Wie schützt man sich vor Tau?“ oder „Tipps gegen Tau“. Ich fand heraus, dass „Tau“ auch der Name eines gegnerischen Stammes in irgendeinem Online-Strategiespiel mit erstaunlich vielen Fans ist. Außerdem erfuhr ich, dass es sogenannte Biwaksäcke gibt, wasserdichte Hüllen, die den undichten Schlafsack vor Feuchtigkeit schützen sollen. Im Grunde Schlafsäcke für Schlafsäcke.
Mit der richtigen Ausrüstung ist eine Nacht im Freien ein Naturerlebnis – ohne Ausrüstung ist sie nur lästig bis hin zu lebensbedrohlich.
Nützlich war mir im Augenblick beides nicht. Ich begriff, was als Gedanke ernüchternd, als Erfahrung unter einem kalt glänzenden Sternenhimmel aber völlig niederschmetternd ist: Ohne Geschäfte, in denen er sich mit hochtechnologischer Schutzausrüstung eindecken kann, ist der Mensch lebensuntauglich – auf ganzer Linie ein Abfallprodukt der Evolution, ein Versager, der sich durch irgendwelche zwielichtigen Tricks bis heute erhalten und sogar an die Spitze der Nahrungskette gemausert hat. Der ganz natürliche Kreislauf, den kulturkritische Städter gerne verehren und aus Verdruss an der ökologischen Katastrophe wiederherstellen möchten, würde einen im Handumdrehen wieder zu dem machen, was man eigentlich zu sein verdient: Wurmfutter.
So erklärt sich vielleicht auch das paranoide Verhältnis zum Tod, das in hochtechnologischen Gesellschaften verbreitet ist. Ein Zurück zur Natur gibt es nicht, denn das würde Aussterben bedeuten. Mit der richtigen Ausrüstung ist eine Nacht im Freien ein Naturerlebnis – ohne Ausrüstung ist sie aber nur lästig bis hin zu lebensbedrohlich. Den point of no return hat der Mensch längst überschritten; er kann nur versuchen, mit immer neuen Manövern seine eigene Sterblichkeit auszutricksen und aufzuschieben.
Jetzt war ich unendlich froh um meinen in Fernost hergestellten Schlafsack. Er war dünn, aber immerhin ersparte er mir in dieser Nacht noch Schlimmeres. Zur Natur gehören nicht nur die am Wegesrand wachsenden Früchte, sondern auch Gefahren, die ein Mensch ohne ein Minimum an Technik keine paar Tage überleben würde. Eine Binsenweisheit, sicher. Aber sie galt im Endeffekt auch schon für die Menschen, die vor 10.000 Jahren diese Landschaft besiedelten. Auch sie kleideten sich in Felle ein, fertigten Speere an, machten Feuer. Was sie in der Wildnis vorfanden, verarbeiteten sie zu Werkzeugen, um sich wiederum vor der Wildnis zu schützen. Dasselbe Prinzip steckt hinter den Biberdämmen oder hinter dem Schlafsack, der mich vor der Unterkühlung bewahrte. Und irgendwann in der Menschheitsgeschichte fand dann der Quantensprung von Ressourcennutzung zu -ausbeutung statt.
„Wichtig ist nur, dass du morgen bis 10 Uhr wieder weg bist. Da hat ein Kollege Schicht, der weniger locker ist.“
Bis Bozen, so hatte ich mir in Wien ausgerechnet, sollte man mit dem Fahrrad höchstens zehn Tage unterwegs sein. Mit letzter Sicherheit überprüfen konnte ich es nicht. Nach drei Tagen erreichte ich Graz und die Nächte im Freien waren bis dahin nicht angenehmer geworden. Mehrmals war ich um zwei oder drei Uhr früh von Schauern in notdürftige Unterschlupfe getrieben worden, einmal musste sogar die überdachte Terrasse eines Kindergartens dafür herhalten. Ich spielte deswegen mit dem Gedanken, mir in Graz ein Zelt zu kaufen – dem standen aber nicht nur konsumethische Bedenken, sondern auch der Wetterbericht entgegen. Es waren mindestens drei Tage Dauerregen angesagt. So lange konnte ich meine Weiterreise nicht aufschieben, denn zuhause wartete viel Arbeit.
Insgeheim war mir das ein willkommener Vorwand, um mit dem Zug weiterzufahren. In Klagenfurt verbrachte ich dann noch eine letzte Nacht im Park des Flughafens, mit einem Security-Mann als Komplizen: „Wichtig ist nur, dass du morgen bis 10 Uhr wieder weg bist. Da hat ein Kollege Schicht, der weniger locker ist. – Willst du etwas Obst?“
Wegen Corona war der Flughafen in Klagenfurt noch immer völlig stillgelegt. Der Rasen, auf dem ich meine Matte ausbreitete, war frisch gemäht und der Baum neben mir spendete mit seinem Laubdach Schutz vor der nächtlichen Feuchtigkeit. Zusammen mit der Tatsache, dass mich hier keine reviersüchtigen Rehböcke mehr anbrüllten, waren das unverkennbare Anzeichen, dass ich mich hier wieder im sicheren Bereich menschlicher Zivilisation befand. Und für jeden Fall war auch noch mein gutmütiger Security-Mann in der Nähe. Seit 300.000 Jahren der wirksamste Schutz gegen alle Bedrohungen: andere, wohlgesinnte Menschen. Obwohl ich noch immer obdachlos war, war das zum ersten Mal auf dieser Reise wieder eine gute, angenehm milde und ruhige Nacht.
Support BARFUSS!
Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus:
https://www.barfuss.it/support