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Illustrations by Sarah
Sarah Meraner
Veröffentlicht
am 24.06.2025
MeinungErfahrungsbericht

„Dori, du Schlampe“

Am helllichten Tag wird am Wiener Hauptbahnhof eine Frau geschlagen. Viele sehen es, niemand greift ein – auch unsere Autorin und ihr Freund nicht. Was bleibt, ist ein Gefühl von Ohnmacht, Wut und die Frage: Warum handeln wir nicht, wenn es darauf ankommt?
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„Dori!“, ruft einer quer über den Platz am Eingang des Hauptbahnhofs in Wien. „Dori, komm rüber“, ruft er weiter, nein, eigentlich schreit er es, aber ich nehme es doch nur beiläufig wahr. „Hierher, Dori, checkst du’s net?“

Wir sind auf dem Heimweg und zu früh dran, mein Freund und ich, an diesem Sonntagmorgen. Also wollen wir noch kurz frische Luft schnappen, bevor unser Zug um 09.25 Uhr abfährt. Es ist neun, als wir uns auf eine Bank in die Sonne setzen. Wir sind zu früh dran und vielleicht gerade rechtzeitig hier, aber das ist uns noch nicht bewusst. 

Die Schreie haben aufgehört, mein Freund holt sich einen Kaffee und ich lasse den Blick über den Platz schleifen, weil ich wieder laute Stimmen vernehme. Etwa 30 Meter weiter drüben sitzen einige Männer und eine Frau. Einer der Männer streitet sich mit der Frau, es ist wohl Dori und sie hat seiner unfreundlichen „Bitte“ rüberzukommen, nachgegeben. Der Kerl schreit sie an, beschimpft sie, bäumt sich vor sie auf. Er scheint betrunken zu sein oder auf Drogen oder beides. Auch die Frau scheint nicht gerade nüchtern zu sein. Sie hält die Hände vor den Kopf, schimpft, scheint verzweifelt, hat Angst. 

Wir bewerten die Situation als zu gefährlich – der Kerl ist aggressiv, außer sich und er hat Freunde dabei.

Mein Freund kommt mit seinem Kaffee zurück, ich sage, der da drüben ist voll aggressiv, wollen wir vielleicht Hilfe holen? Ich sage, ich glaube, er schlägt sie gleich. Keine zehn Sekunden später sehen wir, wie der Mann sie ohrfeigt. Mein Partner und ich springen auf. Rüber gehen? Wir bewerten die Situation als zu gefährlich – der Kerl ist aggressiv, außer sich und er hat Freunde dabei. Auf dem Platz ist weit und breit keine Polizei zu sehen, mein Freund geht in den Bahnhof, um Sicherheitskräfte zu suchen. Ich bleibe, wo ich bin, habe einen Knoten im Bauch. Die Frau weint, steht auf, geht weg vom Schläger, beschimpft ihn als Arschloch. „Lass mich in Ruhe, oder ich rufe die Polizei“, schluchzt sie. Sie setzt sich auf eine andere Bank, weiter weg, wo sie vorher schon war. Warum geht sie nicht ganz weg?

Das Paar neben mir hat sich dazu entschieden aufzustehen und wegzugehen, den beiden war die Situation wohl zu unangenehm. Ich schaue mich um, es sind einige Leute da, aber niemand scheint sich in der Verantwortung zu fühlen. Sie starren oder schauen weg. Niemand sagt oder tut etwas. Ich sage auch nichts, ich habe Angst, aber ich will nicht nichts tun … Nur: Was soll ich bloß tun?

Ununterbrochen schreit er zu ihr rüber, sie solle kommen. „Komm rüber Dori … Schlampe.“ Er zieht sein Shirt aus, will wohl zeigen, wie stark er ist. Mein Partner ist noch nicht zurück, ich zücke mein Handy, weil ich nicht länger warten will. Ich rufe bei der Polizei an, niemand nimmt ab. Plötzlich sehe ich, wie der Kerl über den Platz läuft, direkt auf die Frau zu, er schlägt sie ein zweites Mal ins Gesicht. Scheiße, denke ich. Scheiße, Scheiße, Scheiße.

Mein Freund kommt zurück, er hat niemanden gefunden. Warum zur Hölle ist hier am verdammten Hauptbahnhof, mitten in der österreichischen Hauptstadt, kein:e einzige:r Polizist:in zur Stelle? Ich wähle die Notrufnummer.
Notruf Wien, ja, bitte?“
Hallo, hier auf dem Platz am Eingang vor dem Hauptbahnhof sind zwei Personen, die sich streiten, eine weibliche und eine männliche Person, sie schreien sich an, der Mann ist gewalttätig, er hat sie geschlagen, zwei Mal.“
Sind Sie sicher, dass Sie am Hauptbahnhof sind?“
Ja, natürlich bin ich mir sicher.“
Es zeigt uns an, dass Sie am Westbahnhof sind.“
Nein, ich bin am Hauptbahnhof.“
Sind Sie sicher?“ 
Ja, ich bin vom Westbahnhof gestartet, aber jetzt bin ich am Hauptbahnhof und ich glaube, die Situation hier könnte eskalieren.“ 
Sind die Personen noch vor Ort?“ 
Ja natürlich.“ 
Am Hauptbahnhof also? Komisch, dass wir das hier nicht richtig sehen. Ok, wir schicken jemanden.“

Hätten wir mehr tun müssen, als nur die Polizei zu rufen?

Es ist 09.12 Uhr. Unser Zug fährt in 13 Minuten und wir müssen den Bahnsteig erst suchen. „Glaubst du, die sind bald da?“, frage ich meinen Partner. Eigentlich will ich nicht gehen. „Sollen wir kurz warten? Vielleicht wäre es gut, wenn wir noch hier sind, wenn die Polizei kommt.“ Einer der anderen Männer geht zur schluchzenden Frau, nimmt beschwichtigend ihre Hand und führt sie wieder rüber zu dem Kerl. Keine Ahnung, was dann passiert. Wie sollen wir sie einfach so zurücklassen? Aber schlussendlich – und so ehrlich muss ich jetzt im Nachhinein mit mir selbst sein – tun wir genau das: Wir lassen sie zurück.

Wir gehen zum Zug und ich habe ein schlechtes Gewissen. Ich bin sauer, weil niemand auf dem verdammten Platz eingegriffen hat. Ich bin sauer wegen der Resignation, wegen des bewussten Wegschauens. Des Ignorierens. Ich bin sauer auf das Paar neben mir, das einfach abgehaut ist – frei nach dem Motto: „Komm, lass uns gehen, das ist jetzt schon sehr unangenehm“ –, auf die vielen Männer, die hinübergeschaut und gar nichts getan haben und vor allem bin ich sauer auf uns. Wir sind ja auch weg … Hätten wir mehr tun sollen/können/müssen, als nur die Polizei zu rufen?

Einige Minuten später stehen wir am Bahngleis, das Leben rauscht hier normal weiter, wie die Züge am Bahnhof rein- und wieder rausrauschen. Menschen hasten zum Zug, kaufen Brote für die Fahrt, schicken Whatsapp-Nachrichten auf dem Handy, quatschen miteinander. Niemand hier weiß, was draußen grad passiert ist. Und ich denke: Wie oft wissen wir es nicht? Und: Wie oft wollen wir es nicht wissen?

„Dori, her jetzt!“ Meine Gedanken sind noch draußen auf dem Eingangsplatz. Mir ist zum Heulen. Fragen tauchen auf, die mir – und das ist mir bereits in dem Moment bewusst – nie beantwortet werden: Wird die Polizei schlussendlich kommen und die Situation regeln können? Wenn ja, wird das an der Grundsituation zwischen den Beiden etwas ändern? Wie lange geht das schon so? Wird er sie wieder schlagen? 

Der Hass in seiner Stimme geht mir nicht aus dem Ohr und ich weiß: An diese Rufe werde ich mich ein Leben lang erinnern.

Dieser Mann, den ich an diesem Sonntagmorgen erlebt habe, ist ein Frauenhasser, einer, der Frauen als seinen Besitz sieht. Ein Frauenschläger. Und bei dieser Aggressivität, die ich gesehen und gespürt habe: ein potentieller Frauenmörder. Denn: Wenn er schon keine Scheu hat, sie in aller Öffentlichkeit zu schlagen, was um Himmels Willen stellt er dann Zuhause mit ihr an? Diese und dutzende andere Szenarien laufen in meinem Kopf ab. 

„Dori, du Schlampe.“ Der Hass in seiner Stimme geht mir nicht aus dem Ohr und ich weiß: An diese Rufe werde ich mich ein Leben lang erinnern. Als wir im Zug sitzen – und auch jetzt noch – lassen mich diese Gefühle nicht los: die Angst um die Frau, die Angst um uns selbst und die daraus resultierende Entscheidung, nicht aktiv, sondern nur passiv eingreifen. Hilflosigkeit. Wut.

Je weiter wir uns von Wien entfernen, desto klarer wird der Kopf. Ich hätte mit der Frau sprechen, sie aus der Situation rausholen sollen, vielleicht mit ihr einen Kaffee trinken gehen sollen. Die Situation dafür war kurz gegeben, in den Minuten, als sie alleine auf der Bank saß. Ich hätte ihr ein Taxi rufen können. Ja, das alles hätte ich tun sollen. Keine Ahnung, ob der Kerl hergekommen wäre. Ob er mich/uns auch angegriffen hätte, aber diese Option wäre weniger „invasiv“ gewesen. Wir hätten Leute ansprechen können und sie um Hilfe bitten können, damit wir mehr gewesen wären. Aber es war wie ein Film, so unwirklich, und Kopf und Körper haben nicht reagiert, wir waren perplex.

Wie können wir Zivilcourage lernen?

Ich wünschte, wir hätten klarer über das, was vor unseren Augen geschieht, nachgedacht, wären mutiger gewesen, hätten angemessener reagiert. Ich wünschte, die Leute auf diesem Platz hätten nicht weg- oder nur zugeschaut. Und ich frage mich: Wie können wir Zivilcourage lernen? Wie können wir eingreifen? Wie können wir lernen, in solchen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren? Ich hatte ihn nicht. Mein Freund hatte ihn auch nicht. 

Vielleicht versagen wir in diesen Momenten, weil wir diese Realitäten, in denen manche Menschen, vor allem FLINTA*-Personen, unter Umständen existieren müssen, nicht oder zu wenig wahrnehmen. Weil wir nicht gewappnet sind für all diese Realitäten. 

Was nun bleibt? Eine Zeit, um zu reflektieren. Das Gefühl, versagt und diese Frau ihrem Schicksal überlassen zu haben. Es tut mir leid. Ja, es tut mir leid. Denn wir haben versagt.

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