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In Turin verprügelte 2022 ein Mann minutenlang seine ehemalige Partnerin und wurde nun zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt – auf Bewährung wohlgemerkt. Also quasi zu gar nichts. Und damit nicht genug: Der Richter soll außerdem nicht von Misshandlung gesprochen haben, sondern lediglich von Körperverletzung. Ein symbolisches Achselzucken. Moment: Jetzt kommt noch die Kirsche auf dem patriarchalen Sahnetopping. Er soll den Angeklagten auch noch verteidigt haben – mit den Worten (und nun mögen sich bitte alle festhalten, die auch nur einen klitzekleinen Hausverstand und Sinn für Gerechtigkeit haben): Der Täter müsse „verstanden werden“, er habe aufgrund von „menschlichem Leid“ gehandelt.
Komisch, manche würden so ein Handeln vielleicht Besitzanspruch nennen. Nochmal zum Mitschreiben für uns alle: Er hat misshandelt, aber ihre Entscheidung, die Beziehung zu beenden, wird moralisch verurteilt. WTF.
Der Richter glaubt’s verstanden zu haben (glauben kann man der Kirche – obwohl … naja, lassen wir das): Es geht um die armen armen Männer. Wie es scheint, ist die Toleranz gegenüber Männern höher, wenn es um „verletzte Gefühle“ geht. Hier weint Justitia mit dem Täter.
Sehr geehrter Richter: Wir weinen auch. Allerdings über Ihr Versagen.
Niemand, aber auch niemand hat einen Besitzanspruch auf eine andere Person.
Empathie für Täter: das neue Must-have im Gerichtssaal
Lassen wir uns das bitte auf der Zunge zergehen: Der Richter bagatellisiert eine Tat, die der Mann ganz offensichtlich begangen hat, nämlich Misshandlung aufgrund von Misogynie, aber laut Richter nur deshalb, weil die „böse Frau“ dem „armen Kerl“ nach 20 Jahren den Laufpass gegeben hat.
Offensichtlich hat sie das aus einem für sie guten Grund getan. Keine:r weiß was hinter der Tür dieses Paares vor sich gegangen ist. Ob er vielleicht physisch oder emotional gewalttätig war, ob er oder sie ein narzisstisches Arschloch war, ob jemand psychische Probleme hatte, ob die Beziehung nur aufgrund der Kinder oder Gewohnheiten aufrechterhalten wurde oder oder oder. Es gibt zig Szenarien, warum eine Beziehung zu Ende geht. Und auch wenn er all die Jahre ein liebevoller Mann gewesen wäre: Niemand, aber auch niemand, hat einen Besitzanspruch auf eine andere Person.
Und im Grunde geht die Beziehung anderer auch niemanden etwas an. Was uns hingegen etwas angehen sollte, ist die Tatsache, dass Frauen fast immer den Kürzeren ziehen. Fällt eine Frau eine Entscheidung, die dem Partner – und vielleicht auch dem naheliegenden Umfeld – nicht gefällt, dann wird mit dem Finger gezeigt, gerichtet und verurteilt. Selbst dann, wenn seine Reaktion darauf dann eigentlich die ist, die einem zu denken geben sollte – so wie eben in diesem plakativen Fall: Sie macht Schluss und er wird als Opfer betitelt – obwohl er sie grün und blau geschlagen hat.
Sorry, aber ganz egal, wie groß die emotionale Verletzung ist: Schmerz ist kein Freifahrtschein für körperliche oder psychische Gewalt.
Aber wir alle wissen, die Realität ist eine andere:
Wenn Männer leiden, wird nach Erklärungen gesucht, erklärt, relativiert.
Wenn Frauen leiden, wird gefragt, was sie getan haben, um es zu provozieren.
Wenn Männer wütend sind, ist das „menschlich“.
Wenn Frauen wütend sind, sind sie „übertrieben“, „hysterisch“ oder „anstrengend“.
Wenn Männer verletzt sind, sind sie Opfer.
Wenn Frauen verletzt sind, sollen sie „verzeihen“, „es nicht so ernst nehmen“, „es nicht übertreiben“ oder „nicht gleich alles hinschmeißen“.
Der Fall in Turin zeigt: Die Entscheidungsfreiheit einer Frau ist ein Minenfeld.
Nein, wir müssen nicht in jeder Beziehung rumschnüffeln. Aber wir müssen in dem Moment hinschauen, wo private Gewalt öffentlich verhandelt wird – und das Rechtssystem versagt. Wieder und wieder. Wenn es Gewalt gegen Frauen verharmlost und Männer zu „armen, verletzten Seelen“ stilisiert, obwohl sie Täter sind. Wir müssen hinschauen, wenn es die Verantwortung für Gewalt dort sucht, wo sie nicht hingehört – bei der Frau, die „ja gegangen ist“, „fremdgegangen ist“ oder „mehr wollte“.
Doch der Fall in Turin zeigt: Die Entscheidungsfreiheit einer Frau ist ein Minenfeld. Und Entscheidungen, wie sie besagter Richter gefällt hat, sind eine Ohrfeige für jede weiblich gelesene Person. Und: ein Freifahrtschein für andere Männer, die ihre Partnerinnen mit Besitz verwechseln.
Man kann’s nicht anders ausdrücken: Es ist ein Witz. Als Frau kann man einfach nicht gewinnen.
Und für alle, die jetzt wieder schreien „Ihr Frauen hier in Europa braucht euch nicht beschweren“, „Jetzt haben die Feminist:innen wieder was zu lamentieren“:
Doch, wir lamentieren.
Doch, wir schreien.
Und wenn ihr das als Problem seht, dann seht ihr das eigentliche Problem nicht. So wie der Richter in Turin.
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