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Illustrations by Sarah
Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 24.01.2022
LeuteInterview zum Minderheitenschutz

„Privilegierte Zaungäste“

Schützt die EU Südtirols Autonomie oder stellt sie eine Gefahr dar? Der Experte für EU-Recht Gabriel N. Toggenburg über den Traum eines Europas der Regionen.
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Falsche Sicherheit? Das Verhältnis von Europa zu regionalen Minderheiten ist zwiegespalten.

Das zweite Autonomiestatut jährt sich heuer zum fünfzigsten Mal. Damit begeht Südtirol die Erinnerung an einen jahrzehntelangen Kampf um Autonomie mit dem Zentralstaat Italien. Wie sieht es heute aus: Ist die Südtiroler Autonomie noch immer eine reine Angelegenheit zwischen Österreich und Italien, allenfalls noch der Vereinten Nationen? Oder wird sie mittlerweile tatsächlich auch durch die EU garantiert, die sich die regionale Vielfalt so gerne auf die Fahnen schreibt? Oder ist der Binnenmarkt der EU eine Gefahr für das Schutzsystem des Autonomiestatutes?

Gabriel N. Toggenburg, Honorarprofessor für EU-Recht und Europäischen Menschenrechtsschutz an der Universität Graz, ist selbst größtenteils in Südtirol aufgewachsen und hat an der EURAC unter anderem die Bozner Erklärung zum Minderheitenschutz in der EU initiiert sowie das „ABC des Europäischen Minderheitenschutzes“ mitverfasst. Das Interview mit BARFUSS führte er in privater Eigenschaft. Seit April 2009 lebt der Jurist in Wien, nennt aber Maria Himmelfahrt am Ritten seine Heimat.

Im politischen Diskurs wird oft das Europa der Regionen beschworen – besonders für Südtirol eine vielversprechende Vision. Was hältst Du davon?
Das Problem eines echten Europas der Regionen ist sein etwas zu gewagter Genitiv. Realistisch ist allenfalls ein Europa mit den Regionen. Auch ein Europa für und durch Regionen sind realistische Ziele.

Die Regionen haben nichts zu melden in Europa?
Die EU ist spätestens seit 1992, also dem Vertrag von Maastricht, nicht mehr blind für Regionen. Dennoch bleiben die Staaten die alleinigen Piloten des Europäischen Integrationsprozesses. Die Regionen sind privilegierte Zaungäste. In Brüssel haben sie einen Ausschuss der Regionen, doch das ist ein nur bedingt aufregendes Forum zur europäischen Anhörung. Das Europa der EU bleibt ein Produkt seiner Staaten. Allenfalls können die Regionen nach jeweiligem Verfassungsrecht innerhalb der Staatsstrukturen an der Entstehung und Umsetzung von Europarecht mitwirken. Ohne aber das Sagen zu haben.

Seit April 2009 lebt der Jurist Gabriel Toggenburg in Wien, nennt aber Maria Himmelfahrt am Ritten seine Heimat.

Das klingt eher ernüchternd. Tatsächlich wurde und wird das Europarecht teilweise als Gefahr für den Südtiroler Minderheitenschutz wahrgenommen. Warum?
Ende der 80-er und in den 90-er Jahren war das tatsächlich ein großes Thema – zumindest in der Blase der Experten. 1992 war wohl ein Schicksalsjahr. Einerseits hatten wir die Streitbeilegung und die Autonomie schickte sich an, „dynamisch“ oder gar irgendwann „voll“ zu werden. Andererseits hatte Europa soeben den gemeinsamen Binnenmarkt perfektioniert und die Europäische Union an die Stelle der alten Europäischen Gemeinschaft treten lassen. Die zwei selbstbewussten Systeme schienen damals von zwei unterschiedlichen Sternen: Der Binnenmarkt zielt auf die Beseitigung jeder Abschottung ab und bekämpft die Errichtung von protektionistischen Sondersystemen. Das Autonomiestatut schreibt sich hingegen Spezialität und territorialen Sonderschutz auf seine Fahne…

…im Handbuch zur Südtiroler Autonomie hast Du damals von zwei „Kometen auf Kollisionskurs“ geschrieben. Könnten tragende Pfeiler der Südtiroler Autonomie jederzeit EU-rechtlich infrage gestellt oder sogar abgeschafft werden?
Wir waren damals an der EURAC überzeugt, dass sich die beiden Systeme vereinbaren lassen, wenn man das Spannungsverhältnis frühzeitig ernst nimmt und reformatorisch angeht. Ganz wie es der junge Tancredi im Gattopardo sah: „Se vogliamo che tutto rimanga come è, bisogna che tutto cambi“. Als wir das in der soeben von Dir erwähnten Publikation offen aussprachen, hagelte es aber politische Granaten. An zwei Schlagzeilen erinnere ich mich noch heute. In Bozen las man, dass die öffentlich finanzierte EURAC hier verräterisch handle wie eine „Schlange an der Brust der Landesregierung“. Und in Wien titelte eine Zeitung, dass die Schutzmacht „Gewehr bei Fuß“ stehe. In Wahrheit ging es um eine Banalität: Wir hatten darauf hingewiesen, dass die Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung und andere Elemente des Autonomiesystems einer Anpassung bedürften, um europarechtskonform zu sein. Als sich die Wogen beruhigt hatten, wurde das System dann in einigen Aspekten sang- und klanglos angepasst.

Die Debatte um die Europarechtswidrigkeit des Autonomiestatutes ist also viel Lärm um nichts?
Die Frage, ob und wie ein Staat regionale Autonomie gewährt, ist seine eigene Angelegenheit. Nicht die der EU. Vielmehr ist es so, dass gemäß Artikel 4 (2) des EU-Vertrages die EU die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten zu achten hat. Insbesondere auch das jeweilige „System der regionalen und lokalen Selbstverwaltung“. Das Europarecht ist für das Autonomiestatut keine Abbruchbirne, sondern allenfalls ein ungewünschter Sicherheitsberater, der Anpassungen fordert und die Verhältnismäßigkeit einiger Zimmer im Haus der Autonomie gegen die Binnenmarktmechanik abcheckt.

„Letztlich war und ist es der EU-Binnenmarkt, der den Brenner von einer bleiernen Unrechtsgrenze in den zarten Schatten einer Landkartenlinie verwandelt hat.”

Aber im Urteil Kamberaij hat der Europäische Gerichtshof 2012 Südtirol gezwungen, das Wohngeld auch Nicht-EU-Bürgern zu gewähren.
Nun, das Wohngeld ist keine Säule des Autonomiestatuts. Vielmehr ist der genannte Fall ein Beispiel dafür, dass Südtirol wie jede andere der unzähligen Regionen in der EU Europarecht zu beachten hat und sich dadurch ein Anpassungsdruck ergeben kann. Das ist nichts Südtirolspezifisches. Ähnliches gilt auch, wenn beispielsweise in der Provinz Belluno die Erlaubnis zum Skilehrerberuf de iure oder de facto auf Ortsansässige beschränkt werden sollte oder wenn Venedig argumentiert, dass es nur Fremdenführer akzeptiert, die eingesessene Venezianer sind. Jede Mitgliedschaft hat ihren Preis. Doch was ist schon ein bisschen normative Anpassung gegen die Verdienste des EU-Binnenmarktes um die Lösung der Südtirolfrage?

Die Südtirolfrage wurde vom Binnenmarkt gelöst und nicht durch das Autonomiestatut?
Es geht mir nicht um die Schmälerung der Verdienste von Accordino und Autonomiestatut. Aber letztlich war und ist es der EU-Binnenmarkt, der den Brenner von einer bleiernen Unrechtsgrenze in den zarten Schatten einer Landkartenlinie verwandelt hat. Der rege transnationale und transregionale Austausch ist es, der nationalstaatliche Grenzen osmotisch unterwandert und getrennte Grenzbevölkerungen wieder vereint. Von den Auswirkungen von EU-Förderungen ganz zu schweigen. Das sind doch Rahmenfaktoren, die der Befriedungsfunktion des viel gepriesenen Autonomiemodells Südtirol ganz wesentlich geholfen haben, oder? Bei allem Stolz auf das selbst Geleistete sollte man dies nicht vergessen.

Bist Du nicht zu EU-optimistisch? Der Misserfolg der Europäischen Bürgerinitiative „Minority Safepack“ spricht doch Bände.
Moment. Beim Safepack geht es ja darum aufzuzeigen, was die EU tun kann, um Minderheiten in ihren Politiken proaktiv mitzudenken. Dieses Potential gibt es tatsächlich. Ich hatte der FUEN (Föderalistische Union Europäischer Nationalitäten, Anm.d.Red.) im Mai 2010 in einem Vortrag in Ljubljana vorgeschlagen, das damals brandneue Instrument der Europäischen Bürgerinitiative zu nutzen, um den Forderungen, welche die EURAC mit ihrem „Paket für Europa“ gemacht hatte, neuen Schwung zu geben. Freilich hat sich dieser Prozess dann als juristischer Spießrutenlauf erwiesen. Die Minderheitenphobiker aller Herren Länder ließen keine Gelegenheit ungenützt, um dem Projekt ein Holz vor die Füße zu werfen. Aber letztlich wurde es doch ein beachtlicher Erfolg: Fast 90 Europäische Bürgerinitiativen wurden bisher bei der EU-Kommission eingebracht. Nur sechs waren bislang erfolgreich. Und eine davon ist das Minority Safepack, das über eine Million Menschen unterschrieben haben! Selten hatten Minderheiten und ihre Anliegen so viel Europäische Öffentlichkeit erfahren.

Aber dann ist nichts passiert. Die Organisatoren sind arg enttäuscht, die EU-Kommission hat nicht auf die Vorschläge reagiert.
Das Timing war schlecht. Und ja, wenn es um traditionellen Minderheitenschutz und regionale Autonomien geht, dann benehmen sich die EU-Institutionen – mit Ausnahme des Europäischen Parlaments – so, als würde man ihnen brüllheiße Kartoffeln zuwerfen, die sie lieber dort belassen, wo sie herkommen. Doch solche politische und juristische Heranführungsprozesse brauchen Jahrzehnte. Auch das Autonomiestatut wurde nicht in sieben Tagen gebaut. So würde ich meinen, dass die plötzliche Beseitigung der Südtirol-Autonomie noch vor wenigen Jahren ein rein völkerrechtliches Problem gewesen wäre. Würde so etwas morgen passieren, so wäre es auch europarechtsrelevant.

„Ungarn und Polen wollten mit ihren Alleingängen größere Spielräume für nationale Sonderwege erobern. Was sie aber letztlich ernten werden, ist das Gegenteil.”

Du sagst also nicht nur, dass das Europarecht kein Feind des Autonomiestatuts ist, sondern dass es sogar seiner Beseitigung entgegenstehen würde? Die EU als neue „Schutzmacht“ Südtirols?
Naja, Schutzmacht ist zu viel. Dafür haben wir ja die Republik Österreich, die sich auch nach der Streitbelegung nach wie vor in dieser Rolle sieht und diese auch auf Ebene der EU einige Male ausgeübt hat. Der österreichische Nationalrat hat sich ja 2006 auch darauf verstanden, diese Funktion verfassungsrechtlich zu verankern. Aber umfassende Verfassungsreformen scheinen in Österreich ähnlich schwierig wie auf EU Ebene…

Nehmen wir den Ernstfall an: Italien will die Autonomie staatsstreichartig streichen. Was hätte das heutzutage für europarechtliche Konsequenzen?
Der politische normative Kontext hat sich geändert. In den 90er-Jahren hätte das lediglich den Wegfall einer potenziellen europarechtlichen Spannung dargestellt. Im Laufe des letzten Jahrzehnts ist aber die Frage, wie die Mitgliedstaaten ihre Rechtstaatlichkeit leben, in das Visier der EU gerückt. Ich denke, die Spielräume, den bereits gewährten Minderheitenschutz plötzlich, grundlos und ersatzlos auf massive Art und Weise herunterzufahren, sind mittlerweile auch europapolitisch, und zunehmend auch europarechtlich, eingeschränkt. Das ist ein Resultat der Rechtstaatsdebatte, die wir in der EU seit zehn Jahren führen. Ungarn und Polen wollten mit ihren Alleingängen größere Spielräume für nationale Sonderwege erobern. Was sie aber letztlich ernten werden, ist das Gegenteil.

Das bedeutet konkret?
Interessant ist zum Beispiel das Urteil in der Rechtssache „Repubblika“ von April letzten Jahres. Es ging um die Frage, ob die Art, wie Richter in Malta bestellt werden EU-rechtskonform ist, und wie die neue diesbezügliche Reform in Malta einzuordnen sei. Der Europäische Gerichtshof sagte, dass die Mitgliedstaaten jeden rechtstaatlichen Rückschritt in ihren Rechtsvorschriften zur richterlichen Unabhängigkeit vermeiden müssen. Hier wurde vielleicht der Samen für ein allgemeineres europarechtliches Rückschrittverbot gesät. Es ist nicht auszuschließen, dass in Hinkunft ein massiver Rückbau von Schutzvorschriften selbst dann europarechtswidrig ist, wenn die Vorschriften einen Bereich betreffen, in denen die EU gar keine Gesetzgebungskompetenz innehat.

Was bleibt somit aus europäischer Sicht zu sagen, wenn das Autonomiestatut nun groß seinen 50. Geburtstag begeht?
Dass das Europarecht keine Bedrohung darstellt. Ganz im Gegenteil war und ist das Europa der EU ein wichtiger Erfolgsfaktor des viel gepriesenen Erfolgsmodells Südtirol.

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