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Illustrations by Sarah
Teresa Putzer
Veröffentlicht
am 02.05.2023
LeuteInterview mit KI-Experte Michael Schratz

Wer nichts weiß, muss alles glauben

„Wenn sich die Schule gegen KI-Programme sträubt, hat sie den Bildungsauftrag nicht verstanden.“ Michael Schratz über die Vorteile von künstlicher Intelligenz im Bildungswesen und der zukunftsorientierten Schule.
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Michael Schratz ist Gründungsdekan der School of Education an der Universität Innsbruck und leitete die Leadership Academy in Österreich. Als Sprecher der Jury des Deutschen Schulpreises setzt sich Schratz seit Jahren mit zukunfts- und schüler:innenorientierten Bildungseinrichtungen auseinander und engagiert sich für diverse Reformen im Bildungswesen. Für den Universitätsprofessor gehört dabei die Einbettung von Künstlicher Intelligenz im Schulunterricht ganz klar dazu.

BARFUSS: Was halten Sie davon, KI-Programme in den Schulalltag zu integrieren?
Michael Schratz: Sehr viel. Social Media, ChatGPT, Übersetzungsprogramme: Künstliche Intelligenz ist bereits aktiver Bestandteil unseres Alltags und der der Schüler:innen, weshalb wir die Lernenden definitiv zum adäquaten Umgang mit KI leiten müssen.

Wie sieht diese Herangehensweise aus?
Zunächst sollten wir uns der Funktion von KI bewusst werden und uns die Frage – innerhalb und außerhalb der Schule – stellen: Was bietet uns ein Programm, das mit künstlicher Intelligenz arbeitet? Die Antwort darauf lautet zunächst: Rechenoperationen mit gespeicherten Daten. Dadurch ist die KI begrenzt, weil sie nur abrufbare, vorhandene Daten mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsberechnungen in „intelligente“ Informationen verwandelt – eine geschickte Kombination aus Erraten und Errechnen. Die abgerufene Information allein reicht daher zum Verständnis nicht aus. Wir müssen das Unbekannte mit vorhandenem Wissen prüfen und einordnen, kritisch hinterfragen und ausbauen. Durch das kritische Auge auf die vom Programm reproduzierten Informationen vermeiden wir die völlige Abhängigkeit von der maschinellen Steuerung durch Algorithmen. Diese eigenständige Leistung ist eine sehr wichtige Funktion von Bildung, die den Menschen von der Maschine unterscheidet.

Was sind die Vorteile von KI-Programmen?
Sie bieten eine enorme, ungreifbare Unterstützung: Ich kann in meiner Arbeit beispielsweise einen Text innerhalb weniger Sekunden in verschiedene Sprachen übersetzen lassen, was mich sonst Tage beanspruchen würde. Im privaten Alltag ist das nicht anders. Wenn ich meinen Kindern am Abend eine personalisierte Geschichte erzählen möchte und mir nach zahlreichen Fortsetzungsfolgen die kreativen Ideen ausgehen sollten, kann ich ChatGPT benutzen, um mir eine Geschichte mit gewünschten Namen in einem speziellen Setting für eine bestimmte Altersgruppe zu liefern – und bei Bedarf weitere in der Folge. Aber auch hier gilt: Erst die Ergebnisse kritisch prüfen und die Geschichte zur eigenen machen.

Die KI ermöglicht es uns Schüler:innen, sich über Unbekanntes zu informieren, neue Konzepte zu erarbeiten und sich Lernstrategien anzueignen. Ohne die Nutzung von KI würde viel Qualitätszeit allein durch die Informationsbeschaffung verloren gehen.

Was bedeutet das für die Schüler:innen?
Die KI ermöglicht es uns Schüler:innen, sich über Unbekanntes zu informieren, neue Konzepte zu erarbeiten und sich Lernstrategien anzueignen. Ohne die Nutzung von KI würde viel Qualitätszeit allein durch die Informationsbeschaffung verloren gehen. Heute können wir mit einem Klick weltweit Daten abrufen, die wir benötigen. Da dieser aufwändige Schritt der Informationsbeschaffung vom Rechner übernommen wird, können wir uns in der Beziehung zu den Schüler:innen stärker pädagogischen Fragen widmen. Vom Einsatz künstlicher Intelligenz profitieren aber nicht nur die Lernenden.

Sondern?
In der Schulorganisation können beispielsweise zeitaufwändige Arbeiten wie Aussendungen von KI-Programmen übernommen werden. Dadurch lassen sich etwa personalisierte Elternbriefe in verschiedenen Sprachen nach spezifischen Kommunikationserfordernissen an die jeweiligen Zielgruppen oder Personen anpassen. Das bringt aufgrund der heterogenen, vielsprachigen Zusammensetzung von Klassen eine große Erleichterung für das Schulpersonal.

Wenn der Schulunterricht nur auf das Auswendiglernen, die Reproduzierbarkeit von Antworten oder das Ausfüllen von Arbeitsblättern abzielt und sich nun von KI-Programmen ersetzen lässt, ist das in meinen Augen ein Armutszeugnis für das Bildungswesen.

Trotzdem werden Sorgen und Vorurteile gegenüber dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Bildungswesen laut: Die Kinder lernen nichts mehr, können leichter schummeln…
Die Computerprogramme, die algorithmengetriebenen Rechenoperationen, ja die KI an sich sind in ihrer Produktionsmacht begrenzt. Genau an diese Begrenztheit sollte die Schule in ihrer ursprünglichen – teilweise vergessenen – Bildungsaufgabe anknüpfen: Der Computer kann in der Beantwortung der Anfragen nur auf vorgefertigte Datensätze und Algorithmen zurückgreifen. Wenn der Schulunterricht nur auf das Auswendiglernen, die Reproduzierbarkeit von Antworten oder das Ausfüllen von Arbeitsblättern abzielt und sich nun von KI-Programmen ersetzen lässt, ist das in meinen Augen ein Armutszeugnis für das Bildungswesen.

Inwiefern?
Dann hätte die Schule das Ziel, mündige Staatsbürger:innen auszubilden, verfehlt. Es gab erst neulich Versuche, die belegen, dass bestimmte Maturaaufgaben von ChatGPT erfolgreich abgeschlossen werden konnten. Daher sollte die Frage nicht lauten, wie man Schüler:innen vom Schummeln abhalten kann, sondern wie eindimensional Abschlussarbeiten aufgebaut sein müssen, wenn diese von einem Computerprogramm bewältigt werden können. Junge Menschen sollten Aufgaben gestellt bekommen, zu deren Bewältigung Maschinen eine Unterstützung bieten, entscheidend aber die eigene Kreativität und das Denken, die menschliche Problemlösefähigkeit gefragt sind. Die Auseinandersetzung über Mensch-Maschine-Interaktionen ist daher zu einer wichtigen Bildungsaufgabe geworden.

Wieso sind die KI-Programme dahingehend begrenzt? Was unterscheidet uns Menschen von der KI?
Die KI-Programme sind grundsätzlich nur regelgeleitet. Das bedeutet, sie bauen auf Regeln auf, die im Wahrscheinlichkeitsmodus Ergebnisse produzieren. Die dazu erforderlichen Algorithmen sind allerdings in den letzten Jahren weiterentwickelt worden, sodass Chatbots wie ChatGPT in ihrer Leistung durchaus beeindrucken. Die Schule sollte nicht derart auf das Leben vorbereiten, indem sie diese Möglichkeiten durch Verbote auszuschalten versucht. Bisher mussten Lehrbücher das geforderte Wissen zusammenzutragen, weil es keine derart elaborierte Recherchemöglichkeit oder Informationszugänge gab, wie sie heute existieren. Das Curriculum des Alltags hat die Lehrbuchinhalte oft schon überholt, ehe sie die Schüler:innen im Unterricht erreichen. Deshalb sollte sich Schule mehr an der entstehenden Zukunft zwischen gestern und morgen orientieren. Eine wichtige Aufgabe von Bildung liegt heutzutage darin, sich in der Informationsflut und dem sich wandelnden Wissen zurechtzufinden: Wie erkenne ich Fake News? Was ist echt? Wie überprüfe ich die Seriosität einer Quelle?

Ich bezweifle, dass das über Jahrhunderte kaum veränderte Schulsystem auf eine Zukunft vorbereiten kann, die nicht voraussagbar ist. Wenn sich die Schule nicht radikal verändert, wird es in disruptiven Zeiten wie diesen immer schwieriger, auf eine wünschenswerte gesellschaftliche Entwicklung vorzubereiten.

In Ihren Worten steckt viel Kritik am aktuellen Bildungswesen…
Ja, ich frage mich wirklich, ob die Schulen von heute mit der Einteilung in Jahrgangsklassen, der Aufteilung von Wissen in Unterrichtsfächer und dem lehrseitigen Vermitteln von Wissen noch zur Lebenswelt unserer Schüler:innen passen. Ich bezweifle, dass das über Jahrhunderte kaum veränderte Schulsystem auf eine Zukunft vorbereiten kann, die nicht voraussagbar ist. Wenn sich die Schule nicht radikal verändert, wird es in disruptiven Zeiten wie diesen immer schwieriger, auf eine wünschenswerte gesellschaftliche Entwicklung vorzubereiten. Anzeichen dafür zeigen sich heute ja bereits genügend …

Was hat die mangelnde Bildung von heute mit dem gesellschaftlichen „Well-being“ von morgen zu tun?
Schule ist die einzige staatliche Institution, die alle Bürger:innen verpflichtend besuchen. Daher ist es ihre Aufgabe, kritische mündige Menschen zu entlassen, die für das gesellschaftliche Wohlergehen der Zukunft sorgen. Die Pandemie, der Klimawandel und die gegenwärtigen Kriegswirren sind drastische Beispiele, wie sich die Gesellschaft in gegensätzliche Richtungen entwickeln kann. Es wird heute noch wenig gelehrt, wie man herausfinden kann, was wissenschaftlich fundiert und was fake ist. Die Entstehung von Wissen wird im Bildungswesen zukünftig mehr im Vordergrund stehen müssen als die Vermittlung vorhandenen Wissens.

Was muss sich ändern? Was ist Ihre Definition von guter Schule?
Schule ist Vermittlerin zwischen Vergangenheit und Zukunft. Wir können auf das Erreichte aufbauen, denn wir haben gesellschaftlich einen hohen Wissens- und Lebensstandard erreicht. Aktuell orientiert sich die Schule aber zu stark an der Vergangenheit, deren Wissen über Lehrbücher im Unterricht zur Verfügung gestellt und von den Lehrer:innen pflichtgemäß überprüft werden muss. Ich empfehle Lehrer:innen mindestens einmal pro Unterrichtsstunde eine Frage an die Schüler:innen zu stellen, die sie selbst nicht beantworten können.

Wissen ist nicht mehr etwas, das man sich von der Lehrperson unkritisch aneignet, um schulische Prüfungen zu bestehen, sondern etwas Dynamisches, das zusammengetragen und auf seine Brauchbarkeit geprüft wird.

Wozu?
Dadurch verändert sich radikal die Dynamik und Hierarchie des Unterrichts. Üblicherweise sind die Lehrer:innen die Wissensexpert:innen, die den Unterricht inhaltlich und methodisch steuern. Kurz gesagt: Was im Lehrplan steht, wird unterrichtet und soll von den Schüler:innen gelernt werden, das wird auch in den Prüfungen verlangt. Durch die „unbeantwortbare“ Frage müssen alle Schüler:innen inklusive Lehrperson gemeinsam recherchieren. Dadurch wird der Umgang mit Wissen neu organisiert: Es steht nicht mehr das Auswendiglernen von Fakten im Fokus. Wissen ist nicht mehr etwas, das man sich von der Lehrperson unkritisch aneignet, um schulische Prüfungen zu bestehen, sondern etwas Dynamisches, das zusammengetragen und auf seine Brauchbarkeit geprüft wird.

Inwiefern ist Wissen dynamisch?
ChatGPT gibt beispielsweise auf dieselbe Frage verschiedene – sogar gegensätzliche – Antworten. Daher müssen diese gesichtet, eingeordnet und strukturiert werden. Es geht um eine kritische Auseinandersetzung mit Wissen: Wissen ist nicht etwas Vorgegebenes im Sinne von Richtig und Falsch, sondern beruht auf einer endlichen Datenmenge, die bis dato zur Verfügung steht und mit der gearbeitet werden muss.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen, wie ChatGPT im Unterricht gut eingesetzt werden kann?
Im Sprachunterricht kann differenziert auf individuelle Erfordernisse der Schüler:innen und persönliche Bedürfnisse eingegangen werden. Hat jemand ein spezifisches Problem mit der Umsetzung einer Grammatikregel kann das Programm vielseitige Beispiele zum Verständnis liefern, die auf das jeweilige Vorverständnis abgestimmt sind. Die KI ermöglicht hierbei ein hoch differenziertes Lernen, während das Schulbuch für alle dasselbe anbietet. Im Unterricht kann also viel mehr aus der aktuellen Situation entstehen, als daraus Kapitel nach Kapitel in Schulbüchern abarbeiten zu müssen. Im Geschichtsunterricht verweise ich hier auf den Ukraine-Krieg: Er ist nicht im Schulbuch, doch die Schüler:innen werden im Alltag damit konfrontiert. Hier können Lehrkräfte im fachübergreifenden Zugang historische, geografische, staatspolitische, sprachliche, kulturelle und gesellschaftspolitische Themen erarbeiten, an denen Schüler:innen lernen, wie mit Wissen dynamisch umgegangen werden kann.

Was ist die Rolle der Lehrkraft in einer zukunftsorientierten Schule?
Wenn wir die Schulen als gesellschaftliche Zukunftswerkstätten denken, sind Lehrer:innen die Architekt:innen der Zukunft: Sie vermitteln in der Welt zwischen bekannter Vergangenheit und unbekannter Zukunft. Wir müssen uns dabei die Frage stellen, ob es Schulfächer dazu noch braucht, zumal uns im Alltag das Wissen ohne Fächergrenzen, also interdisziplinär begegnet. Hierzu fällt mir Ali Mahlodji, Unternehmer und Begründer des Web-Portals whatchado ein, der beklagte, dass es in der Schule für alle Fächer ein Buch gab, aber kein Buch zur Beantwortung der für ihn wichtigsten Frage: „Was kann ich aus meinem Leben machen?“ Kurzum: Es sollte vermehrt um die Zukunft der Schüler:innen in der Gesellschaft von morgen gehen.

ChatGPT war in Italien für kurze Zeit gesperrt. Was sagen Sie zu einem solchen Verbot?
Ich halte von Verboten nicht viel, speziell wenn es um Kinder und Jugendliche geht. Pädagogik sollte Zugänge zu neuen gesellschaftlichen Entwicklungen schaffen und nicht die Augen vor ihnen verschließen. Schule ist der einzige verbindliche Ort, wo alle Bürger:innen kritische Medienbildung lernen können. Wenn nicht in der Schule, wo dann? Das Beharren auf alten Mustern wird ungenügend auf die Bewältigung zukünftiger Herausforderungen vorbereiten, in der künstliche Intelligenz eine wichtige Rolle einnehmen wird, ob wir das wollen oder nicht. Wir sollten alles tun, um Schüler:innen in kritischer Urteilsfähigkeit zu stärken, damit sie die Informationsflut der Medien seriös filtern können. Ansonsten sind sie den Fake News und mediatisierten Meinungen hilflos ausgeliefert. Oder, um es in den Worten von Marie von Ebner-Eschenbach zu sagen: „Wer nichts weiß, muss alles glauben.“

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