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Illustrations by Sarah
Teresa Putzer
Veröffentlicht
am 16.04.2024
LeuteInterview Regisseurin Karin Duregger: Face to Face

„Südtirols Schweigekultur aufbrechen“

Dem Unbequemen entgegen: In ihrem neuen Film „Face to Face“ beleuchtet Karin Duregger die negativen Auswirkungen traditioneller Geschlechterrollen in Südtirol.
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Von der Rolle der Frau in der Politik über den Coming-out-Prozess als schwuler Mann in Südtirol bis hin zu sexistisch-übergriffigem Verhalten in der Theaterszene: Der Dokumentarfilm „Face to Face“ wirft ein Licht auf die Welt der Rollen- und Geschlechterstereotype in Südtirol. Als Teil der Medienlandschaft sieht sich Karin Duregger verpflichtet, neue Perspektiven auf Geschlechterrollen aufzuzeigen und die Hintergründe veralteter Stereotype zu hinterfragen. In einem Interview mit BARFUSS spricht die Regisseurin über ihren Film und ihre persönlich-feministische Entwicklung, vom Streben nach Harmonie hin zu einer kritischen und manchmal auch unbequemen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen.

Regiesseurin Karin Duregger

Karin, wie entstand die Idee zu „Face to Face“?
Das war ein langer Prozess. Ursprünglich wollte ich mich mit dem Thema Migration befassen. Es spukten aber viele Themen in meinem Kopf herum. Schließlich fiel die Entscheidung auf das Thema Geschlechterrollen und Rollenstereotype in Südtirol, da der neue Koordinator von Rai Südtirol (Zeno Braitenberg, Anm. d. Red.) sehr offen und aufgeschlossen gegenüber Diversität und Geschlechterthemen ist. Der Film entstand in Zusammenarbeit mit Rai Südtirol und dem Amt für Medien und Film. Mit der Dokumentation wollen wir die Zwangsjacken der Geschlechterrollen, diese Stereotypen, aufbrechen. Wir zeigen eindrücklich die persönlichen Erfahrungen der einzelnen Protagonist:innen, aber auch ihre Geschichten des Aufbruchs und des Widerstands dagegen.

Im Film gibt es sechs Protagonist:innen: drei Männer und drei Frauen. Welche Kriterien wurden bei der Auswahl der Protagonist:innen berücksichtigt?
Ich strebte einen Ausgleich zwischen den Geschlechtern, den Generationen und auch eine Vertretung queerer Personen an. Dabei ging ich breitgefächert vor, um zu sehen, wer sich für die Kameraaufnahmen eignen und sich vor der Kamera wohlfühlen würde, um über ihre persönlichen Erfahrungen zu sprechen. Schließlich handelt es sich um sehr persönliche Geschichten, die mit echten Gesichtern und Klarnamen erzählt werden, bis auf eine Anonymisierung.

Die Themen zeigen auf, wie man aufgrund traditioneller Muster dazu erzogen wird, sich auf bestimmte Weise zu verhalten.

Karin Duregger

Was ist das zentrale Thema der Doku?
Die Kernfrage des Films bezieht sich darauf, welche Rolle uns aufgrund unseres Geschlechts in Südtirol zugewiesen wird und wie wir uns entsprechend verhalten sollen. Die Themen, die wir im Film ansprechen, umfassen Belästigung hinter den Theaterkulissen, toxische Männlichkeit, Catcalling als „verborgene“ Gewaltform sowie sexuelle Gewalt am Arbeitsplatz. Es geht also um diverse Diskriminierungsformen aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung von Personen. Diese Themen zeigen auf, wie man aufgrund traditioneller Muster dazu erzogen wird, sich auf bestimmte Weise zu verhalten. Diese internalisierten Rollenbilder sind in allen sozialen Umfeldern vorhanden, unabhängig von Bildung oder sozialem Status.

Wie erzählt „Face to Face“ die Erfahrungen von geschlechtlicher Diskriminierung?
Wir haben persönliche Geschichten von jedem:r Interviewpartner:in eingeholt, die wir in klassischen Intervieweinstellungen mit zwei Kameras in einer Garage aufgenommen haben. Zu diesen Einstellungen wollte ich ein zusätzliches assoziatives Umfeld schaffen. Zum Beispiel erzählt Brigitte Foppa, wie sie als Politikerin ständig Strategien entwickeln musste, um sich in männlich dominierten Umgebungen zu behaupten. So zeigt der Film neben dem Interview mit der Politikerin parallel Szenen, in denen sich eine Schauspielerin durch den Wald bewegt und sich von Felsen zu Felsen angelt, um den unebenen Weg für Frauen in der Politik und die Notwendigkeit von Strategien zu veranschaulichen.

Wir haben einen jungen Schauspieler in ein wackliges Boot gesteckt, um die metaphorische Reise durch die „Wellen“ der Gesellschaft als Mann zu verdeutlichen.

Karin Duregger

Kannst du uns noch andere Geschichten der Protagonist:innen verraten?
Wir haben einen jungen Mann Anfang 30 interviewt, der über seine Erfahrungen mit toxischer Männlichkeit spricht. Er musste hart an sich arbeiten, um diese abzulegen. Er erzählt eine persönliche Geschichte aus seiner Zeit als Student in Innsbruck, als er erfundene Geschichten über seine Fraueneroberungen erzählte, um seinen männlichen Status nicht zu gefährden. Für dieses assoziative Setting haben wir einen jungen Schauspieler in ein wackliges Boot gesteckt, um die metaphorische Reise durch die „Wellen“ der Gesellschaft als Mann zu verdeutlichen.

Margot Mairhofer teilt ihre Erfahrungen darüber, wie sie als aufstrebende junge Schauspielerin von einem Kostümbildner belästigt wurde. Sie wurde aufgefordert, mehrmals in knappen Outfits vor ihm aufzutreten und sich begutachten zu lassen. Im Film reflektiert sie über den schmalen Grat zwischen den Anforderungen der Schauspielerei und den Grenzen, die sie bereit war zu überschreiten, um Rollen zu bekommen. Ihre Geschichte veranschaulicht die Dilemmas, denen Frauen in einer patriarchal geprägten Gesellschaft gegenüberstehen: Welche Opfer müssen wir Frauen bringen, um einen Job zu bekommen oder berufliche Anerkennung zu erhalten? Für diese Geschichte haben wir eine Szene kreiert, in der sie selbst 25 Jahre später auf sich selbst zurückblickt, dargestellt als Puppe auf einer Bühne, um ihre Erfahrungen zu reflektieren und zu verarbeiten.

Gab es Herausforderungen während der Umsetzung der Filmidee?
Produzent und Kameramann Jochen Unterhofer und ich hatten gelegentlich Meinungsverschiedenheiten. Wir begannen bei einigen Themen – wie dem Catcalling – leidenschaftlich zu diskutieren. Mir ist es wichtig, dass der Film verschiedene Formen von Gewalt anspricht, nicht nur die offensichtlichen wie Vergewaltigung. Es ist ebenso bedeutend zu erkennen, dass Gewalt oft subtil ist und anfangs in vermeintlich harmlosen Formen auftritt, wie Catcalling, sexueller Belästigung oder verbaler Übergriffe. Der Film zielt darauf ab, das Schweigen zu durchbrechen und uns selbst auch unbequeme Fragen zu stellen, zum Beispiel: „Habe ich vielleicht auch schon einmal jemanden objektiviert oder jemandem etwas Unangemessenes nachgerufen?“ Es ist wichtig, dass wir uns fragen, wo die Grenzen liegen und wie wir als Gesellschaft darauf reagieren können. Mein Ziel mit dem Film ist es, die Zuschauer:innen zum Nachdenken und zur Selbstreflexion zu motivieren.

Inwiefern?
Ich möchte, dass sie sich fragen, ob sie möglicherweise in der Vergangenheit etwas übersehen oder falsch eingeschätzt haben und wie sie in Zukunft besser reagieren können. Es geht darum, ein Bewusstsein für die verschiedenen Formen von Gewalt und Diskriminierung zu schaffen und Veränderungen herbeizuführen. Strukturelle Gewalt beginnt nicht mit einer körperlichen Attacke oder Vergewaltigung, sondern in unseren Gedanken und Worten. Studien zeigen, dass Frauen beispielsweise oft sexuelle Gewalt erfahren, weil sie bereits als Kollektiv in den Köpfen der Gesellschaft durch viele verschiedene Aspekte objektiviert wurden. Es ist leichter, einem Objekt Gewalt anzutun als einem selbstbestimmten Subjekt.

Inwiefern thematisiert der Film Catcalling?         

Camilla Cristofoletti teilt eine sehr persönliche Geschichte über Catcalling, das häufig als erste Form von sexueller Belästigung erlebt wird. Sie berichtet davon, wie sie ein Kleid nicht mehr trug, weil ihr ständig blöd nachgerufen wurde. In der Szene hängten wir gemeinsam mit rund 12 Frauen, die wir über Social-Media-Aufruf gefunden hatten, das Kleid zusammen mit Kleidern der anderen Frauen an eine Leine, ähnlich den Wäscheleinen in alten Dörfern. Diese symbolische Geste der Solidarität war sehr bewegend und das Bild der Kleider, die im Wind wehen, hinterließ einen nachhaltigen Eindruck. Diese Szene wurde bei den „Stuanernen Mandln“ gedreht.

Konntest du neue Erkenntnisse während der Filmproduktion gewinnen?
Absolut. Ich gehöre zu den Frauen, die sich vergleichsweise spät mit Feminismus, Rollenstereotypen, Geschlechterrollen und Grenzüberschreitungen beschäftigt haben. Erst im Alter von etwa Mitte 30 Jahren begann ich zunehmend intensiver darüber nachzudenken und mich langsam feministisch zu engagieren. Gerade weil ich mich so spät erst mit dem Thema auseinandergesetzt habe, fühlen sich feministische Perspektiven jetzt für mich wie eine Welle oder ein Sturm an. Ich hatte den Großteil meines Lebens bereits bestritten, ohne mir über viele Situationen und die strukturellen patriarchalen Systeme Gedanken gemacht zu haben. Die Erkenntnis, dass sowohl Männer als auch Frauen – egal ob binär oder non-binär – Opfer des patriarchalen Systems sind, hat mir eine neue Lebensperspektive eröffnet. Mein Anliegen ist es nicht, individuelle Personen zu viktimisieren, sondern vielmehr darauf hinzuweisen, dass das gesamte Gesellschaftssystem überdacht und verändert werden muss. Brigitte Foppa bringt das im Film ganz gut auf den Punkt, indem sie von einem vertikalen Druck des Patriarchats spricht, von dem alle Geschlechter betroffen sind, auch Männer. Diese werden zum Beispiel „gezwungen“, die immer starke Rolle und den Versorger in einer Familie einzunehmen.

Mein Wunsch ist es, dass die Schweigekultur in Südtirol stärker aufgebrochen wird.

Karin Duregger

Was kann Südtirol noch in Bezug auf Geschlechterdiskriminierung lernen?
So einiges. Seit geraumer Zeit beschäftige ich mich mit Rollenstereotypen in den Alpen sowie der Rolle der katholischen Kirche und der Dorfgemeinschaften. Es ist bemerkenswert, dass in Österreich und Süddeutschland, insbesondere in Bayern, viele dieser Themen noch immer ein Tabu darstellen. Vermutlich sind wir stark von den Dogmen unserer sozialen, katholisch-patriarchalischen Gesellschaft geprägt. In letzter Zeit habe ich mich intensiv damit auseinandergesetzt, wie die Dorfgemeinschaften und die katholische Kirche in das Machtgefüge der abgelegenen Dörfer eingegriffen haben und wie sich diese Dynamik über Generationen fortgesetzt hat. Es ist erschreckend zu sehen, wie Gewalt und Unterdrückung in diesen isolierten Gemeinschaften weiterhin existieren. Es ist wichtig, dass Frauen, die oft stark und widerstandsfähig sind, sich dessen bewusst werden und ihre Stimme erheben.

Mein Wunsch ist es, dass die Schweigekultur in Südtirol stärker aufgebrochen wird. Hier hat Südtirol große Versäumnisse aufzuweisen. Obwohl es Fortschritte bei der Erforschung von Gewalt und Missbrauch gibt, müssen wir auch akzeptieren, dass das Thema in unserer Region nicht ausreichend angegangen wurde und bis heute nicht angemessen behandelt wird. Es ist unsere Aufgabe als Gesellschaft und besonders als Filmemacher:innen, nicht wegzusehen. Das habe auch ich lange Zeit aus Bequemlichkeit getan. Ich denke, es ist nicht nur meine persönliche Verantwortung, nicht länger wegzuschauen.

Inwiefern hast du früher weggesehen?

Ich habe manchmal den „bequemeren“ Weg gewählt, da sich mein feministischer Mut erst langsam durchgesetzt hat. In den vergangenen Jahren habe ich mich als freischaffende Filmemacherin neben zeitgeschichtlichen Dokumentationen über Nazis hauptsächlich mit eher unproblematischen Themen beschäftigt. Doch je älter ich werde und je etablierter ich in der Branche bin, desto stärker spüre ich den Drang, gesellschaftskritische und feministische Themen anzugehen, ebenso Themen wie Migration und Umweltfragen. Aktuell arbeite ich an einer Dokumentation, in der ich nach dem Unbequemen suche. Dafür habe ich bereits drei Personen ausgewählt, die verschiedene kontroverse Perspektiven vertreten: eine umstrittene Volkskundlerin, die Themen wie Heimat und Tracht diskutiert, einen veganen Jungmediziner und eine feministische Künstlerin.

Planst du noch weitere „unbequeme“ Dokumentationen?
Ja, ein weiteres Projekt, an dem ich arbeite, beschäftigt sich mit dem Thema „Frauen und Tabus im Alpenraum“, bei dem es darum geht, das Schweigen zu brechen und hinter die Kulissen einer von Traditionen und Heimatgefühlen geprägten alpinen Gesellschaft zu blicken. Ich freue mich darauf, meine bisherige Arbeit filmisch umzusetzen und mich von den traditionellen harmonischen Bergthemen zu lösen, um auch Kontroverses anzugehen.


Die Dokumentation „Face to Face“ von Karin Duregger und Jochen Unterhofer ist beim Bolzano Filmfestival Bozen für die Kategorie „Local Heroes“ nominiert. Zu sehen ist der Film am 19.04.2023 um 16:00 im Filmclub Bozen.

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