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Illustrations by Sarah
Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 29.11.2021
LeuteElide Mussner im Portrait

Massen essen Seele auf

Schon als Assistentin von Michil Costa meldete sich Elide Mussner immer wieder öffentlich zu Wort. Jetzt mischt sie in Abtei die Gemeindepolitik auf.
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Kein Fähnchen, das mit dem Wind weht: Elide Mussner.

Sie befürchtete schon das Schlimmste. Dachte, sie könnte sich kaum noch auf der Straße blicken lassen. Was danach eintritt, ist genau das Gegenteil. Menschen, die sie bestenfalls vom Sehen kennt, halten sie plötzlich auf der Straße auf. Nicht, um sie zu beschimpfen, sondern um sich zu bedanken. „Endlich hat’s eine verstanden“. „Danke, Elide, dass du uns vor diesem Kelch bewahrt hast“. „Gut, dass es da drinnen noch einige vernünftige Menschen gibt.“

Da drinnen, damit ist der Gemeinderat von Abtei gemeint. Der hat im Mai dieses Jahres gegen eine Austragung der Ski-WM 2029 im Gadertal gestimmt. 10 von 18 Mitglieder des Gemeinderats stimmten dagegen, fünf dafür, drei enthielten sich. Ein klares Votum. Das Gesicht für die WM-Gegnerschaft gab sie jedoch hauptsächlich allein her: Elide Mussner, eine Frau, die viel lacht und vielleicht auch deshalb jünger als 37 Jahre aussieht, fast mädchenhaft, mit einer sanften und offenen Art, aber mit eisernen Prinzipien. Im Gemeindeausschuss von Abtei ist sie verantwortlich für Jugend, Chancengleichheit, Spielplätze, nachhaltige Mobilität – und für Tourismus.

Sie könne doch gut schnitzen, warum ist sie nicht beim Schnitzen geblieben, wurde Elide Mussner nach ihrer Kandidatur gefragt.

Dass ausgerechnet sie für Tourismus zuständig ist, mag in den Ohren mancher Gadertaler Touristiker so klingen, als wäre ein „Fridays for Future“-Demonstrant plötzlich Fluglotse. Oder noch drastischer: als wäre ein Impfskeptiker mit medizinischer Verantwortung betraut worden. Deswegen gab es als Reaktion auf die WM-Absage auch einen Protestbrief einiger Hoteliers und Tourismusleute. Das Hauptargument der Hoteliers: Die WM findet ohnehin statt, ob hier oder anderswo. Wir könnten sie „grüner“ austragen, als andere es tun würden. Doch Elide Mussner bleibt bei ihrem Standpunkt: Wir brauchen kein weiteres Großevent. Die Absage an die WM ist ein Zeichen, das weit über diese einzelne Veranstaltung hinausgeht.

Den Ruf, gegenüber Massentourismus skeptisch zu sein, hat sich Mussner schon lange vor ihrer Wahl in den Gemeinderat aufgebaut. Über zehn Jahre ist es her, da klopfte sie beim Ausnahme-Hotelier Michil Costa in Corvara an. Damals studierte sie noch Sprachen, als das Familienleben sie überrumpelte, ein Sommerjob und Geld mussten her. Dass zu dieser Zeit eine Stelle im Front-Office zu besetzen war, erwies sich als glücklicher Zufall. Und so rutschte sie hinein, in einen Job, der schließlich zehn Jahre ihres Lebens füllte.

Wenn man ihr eines nicht vorwerfen kann, dann ist es mangelnde Sachkenntnis. An der Seite von Michil Costa lernte sie die Gastwirtschaft in allen ihren Höhen und Tiefen kennen. Von der Erschöpfung in der Hochsaison bis hin zum dankbaren Lächeln zufriedener Gäste. Als Assistentin von Michil Costa organisierte sie Termine und Auftritte, begleitete das Management, war für Costa Sprachrohr und argumentstarke Gesprächspartnerin zugleich.

Dadurch sind Synergien entstanden, erinnert sich Mussner, „vom Philosophischen her, von den Visionen her“. Diese Energie sei mit der Zeit gewachsen – „bis sie so groß war, dass kein Platz mehr da war für Anderes und Neues“. Und das wollte Mussner unbedingt auch noch ausprobieren.

Die Touristifizierung aller Lebensbereiche

In ihrem neuen Leben geht Mussner deshalb in Schulen oder Vereinshäuser und hält Vorträge und Workshops zu Themen wie Nachhaltigkeit, Chancengleichheit und zukunftsfähigen Tourismus. Oder sie engagiert sich als Gemeinderätin politisch. Was gleichgeblieben ist, sind die Fragen: Wann wird aus „immer mehr“ zu viel? Was macht ein gutes Leben aus? Wie hängt unser Wohlstand mit der Armut in anderen Weltteilen zusammen?

Was die Menschen an ihr schätzen – das merkt man an den Kommentaren, die mancher Leser unter den kritischen Texten, die sie ab und zu für Medien wie Barfuss oder Salto verfasst – ist ihr ganzheitliches Denken oder, wie sie selbst sagt, ihr weibliches Denken: „Ein Mann pflegt eher die technische Herangehensweise, er schaut sich ein Problem an und versucht es zu lösen. Frauen sind da, glaube ich, weniger voreingenommen, fragen sich unter anderem auch: Ist dieses Problem überhaupt problematisch? Oder entsteht dadurch, dass ich es löse, vielleicht ein neues Problem?“

In touristischen Angelegenheiten äußert sich diese Denkweise so: Brauchen wir überhaupt noch mehr Touristen? Wofür? Und wer profitiert davon, wenn nicht diejenigen Hoteliers, die ohnehin schon groß sind und deshalb ausreichend investieren können, um noch größer zu werden? „Dadurch entstehen Monokulturen, die Großen fressen die Kleinen auf, in der Landwirtschaft wie im Tourismus“, beobachtet Mussner. Freilich, diese weibliche Herangehensweise hat nach wie vor einen schweren Stand. Sie könne doch gut schnitzen, warum ist sie nicht beim Schnitzen geblieben, wurde Mussner einmal gefragt.

„Irgendwann wird die intakte Natur, mit der wir stets werben, nicht mehr existieren. Was zeigen wir dann auf unseren Werbefotos?“

Konfliktscheu ist Mussner nicht, dafür aber ist sie vorsichtig mit vorschnellen Aussagen. Ob der Tourismus, den wir jetzt haben, schon zu viel ist, wagt Mussner nicht zu beantworten. Was sie aber eindeutig sehe, sind Warnzeichen: Menschen, die an ihrer Arbeit keine Freude mehr haben; Hoteliers, die dem Ende der Saison geradezu entgegenfiebern; Einheimische, die durch die Staus, den Lärm, die hohen Preise frustriert sind; und Landschaften, die immer weiter ausgebeutet werden, damit nach etlichen Ausgrabungen und Betonierungen eine weitere Attraktion herausschaut.

Wobei die Ausgangsfrage vielleicht falsch gestellt ist, gibt Mussner wieder zu bedenken: Es gehe nicht darum, dass es genug ist mit dem Tourismus an und für sich. Es ist aber genug mit der ständigen Touristifizierung aller Lebensbereiche in Südtirol. „Dass man Dorfzentren nur während der touristischen Saison schmückt, dass man gegen ein öffentliches Schwimmbad ist, weil er touristisch irrelevant ist, dass Traditionen zur touristischen Show werden, dass ständig neuer Boden mit touristischer Infrastruktur versiegelt wird“.

Und dann die Eingriffe in die Umwelt: die Speicherbecken für den Kunstschnee, die artifiziell inszenierte Bergwelt, etwa die Rummelplätze an den Bergstationen. Oder die Pläne von ganzen touristischen Dörfern, mit hunderten von Betten, wie zuletzt in Schnals. „Durch die Summe all dieser Aktionen wird irgendwann die intakte Natur, mit der wir stets werben, nicht mehr existieren. Was zeigen wir dann auf unseren Werbefotos?“

Alles ist miteinander verbunden

Dass Elide Mussner jemand ist, die in großen Zusammenhängen denkt, zeigt sich auch dann, wenn man versucht, ihr konkrete Anekdoten zu entlocken. Erst nach einigem Nachhaken stößt man von der allgemeinen Aussage, etwa dass „alles miteinander verbunden ist“, zur individuellen Erfahrung vor, die diese Erkenntnis erst angestoßen hat. Zum Beispiel bei ihrer Arbeit für die Costa Family Foundation.

Die gemeinnützige Organisation setzt sich mit Projekten verschiedener Art in Afrika, Asien und Südamerika für die Wahrung und den Schutz der Rechte von Kindern ein. Mussner ist nach wie vor Leiterin der Organisation, auch jetzt als Freiberuflerin. Bis vor Corona ist sie dadurch mehrmals auf Reisen gewesen, etwa in Indien oder in Uganda. Diese Lokalaugenscheine waren für sie jedes Mal sehr prägend.

Zum Beispiel dieses eine Mal in Uganda, als es darum ging, Arzneimittel und Impfungen an Familien aus der Umgebung zu verteilen. Stundenlang warteten unzählige Mütter mit ihren Kindern, die Kleinen im Arm, die Größeren an der Hand, auf einem offenen Platz unter der prallen Sonne. Wer eine Impfung wollte, musste stundenlang dort ausharren. „Und die Menschen taten es, ohne Wenn und Aber“, erinnert sich Mussner, „weil sie genau wussten, dass es kein Gesundheitssystem gab, das einen im Notfall auffangen würde. Die Diskussion, Impfung ja oder nein, ist ein Luxus für reiche Länder.“ Die Kindersterblichkeitsrate in Uganda betrug im Jahr 2019 noch immer rund 46 Prozent.

Ist es glaubwürdig, dass ein Michil Costa, der seine Schäfchen schon längst im Trockenen hat, sich gegen mehr Tourismus ausspricht?

Auch während der Pandemie musste Elide Mussner oft an diese Erfahrungen zurückdenken. Etwa wenn hier das Schreckgespenst des Zusammenbruchs der intensivmedizinischen Versorgung beschwört wurde: In Afrika gibt es in den allermeisten Fällen gar keine Intensivstationen. Wenn hier zum regelmäßigen Händewaschen aufgerufen wurde: In Afrika gibt es in vielen Gegenden nicht einmal sauberes Trinkwasser. Oder wenn hier die Grenzen geschlossen wurden, in einem erbärmlichen Versuch, das Virus zu stoppen: Für viele Kleinbauern und Tagelöhner, die auf den Absatz ihrer unterbezahlten Produkte auf dem Weltmarkt angewiesen waren, war das ein Todesurteil.

Dass alles miteinander verbunden ist, führt aber auch zu Widersprüchen: Ist es glaubwürdig, dass ein Michil Costa, der seine Schäfchen schon längst im Trockenen hat, sich gegen mehr Tourismus ausspricht? Und trifft dasselbe nicht auch für Elide Mussner zu, die doch nur dank der florierenden Tourismusbranche zu ihrer Zeit eine Stelle im Front-Office gefunden hat? Das, wogegen sie sich nun auflehnt, hat ihr doch selbst zum Vorteil gereicht.

Mussner ist sich dieser Widersprüche bewusst. Und sie sagt auch: Wehe, wenn das mit dem Tourismus in Südtirol nicht auch weiterhin gut funktioniert! Den Tourismus brauche es, er habe Südtirol sehr weit gebracht. Was sie sich aber wünsche, ist, dass die Branche langsam aus ihrer Teenager-Haltung herausfindet, erwachsen wird und Verantwortung übernimmt. Dass sie nicht nur an Expansion und möglichst hohe schwarze Zahlen denkt, sondern auch an die Auswirkungen, die ihr Wirtschaften für Anrainer und Umwelt hat. Also weg von einer „monokulturellen Forma Mentis“ hin zu einem friedlichen und respektvollen Zusammenleben. „Es wird sich auch ökonomisch rentieren“, sagt Elide Mussner.

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