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Dass man ihn einen Südtiroler Journalisten und Schriftsteller nennen kann, hat man – wie Claus Gatterer es nannte – einer „Schlamperei der Weltgeschichte“ zu verdanken. Denn eigentlich sollte Sexten, das Dorf, in dem Gatterer 1924 zur Welt kam und auch aufwuchs, zu Osttirol und damit zu Österreich gehören, auch nach 1919. Hier befindet man sich nämlich schon jenseits der Wasserscheide, welche nun die Staatsgrenze zwischen Österreich und Italien bilden sollte. Aber daraus wurde nichts: Aus strategischen Gründen und auf Anraten eines gewissen Salvatore Barzilais, eines italienischen Abgeordneten, zog man in diesem Gebiet eine willkürliche Grenze, was den Friedenshändlern in Saint-Germain auch nicht weiter auffiel.
So kam es, dass Gatterer seine Kindheit in einer Heimat erlebte, die keine Heimat mehr sein durfte. Der italienische Faschismus ersetzte deutsche Schulen durch italienische, deutschsprachige Beamte durch eigene Parteileute, und die Kirchenlieder der Dorfkapelle durch das „Giovinezza“-Lied. Protest wurde den Menschen durch eine Portion Rizinusöl schnell vergällt. Im schlimmsten Fall erzielten auch eine Tracht Prügel oder Exilierung die gewünschte Wirkung. Von solchen Begebenheiten aus seinem Umfeld erzählt Gatterer in seinem autobiographischen Buch „Schöne Welt, böse Leut“.
Aber nicht nur die Brutalität und Selbstverherrlichung der Faschisten, auch die Scheinheiligkeit und Heuchelei der Südtiroler Bevölkerung in jener Zeit kommt bei Gatterer nicht zu kurz. Dazu gehören zum Beispiel die Opportunisten, die während des Faschismus das schwarze Hemd trugen, um dann Jagd auf die „Heimatsverräter“ zu machen, die sich in der Option gegen das Auswandern nach Deutschland entschieden. Dabei schildert er Menschen und Ereignisse durch eine Ironie und eine bildreiche Sprache, die ihn zu weit mehr als einen reinen Historiker und Journalisten machen: Claus Gatterers Werke gehören längst zum Kanon der Südtiroler Literatur.
Er selbst, scharf und kompromisslos in Schrift und Wort, wird von Gerd Bacher, seinem langjährigen Freund und Vorgesetzten beim ORF, als ein zurückhaltender und leiser Mensch beschrieben. Hier, beim ORF, entdeckt Gatterer dennoch den Fernsehjournalismus für sich, ein Medium, in dem es vor allem auf Kommunikation ankommt. In der Sendung „teleobjektiv“ präsentiert er zehn Jahre lang investigative Reportagen und Berichte, in denen er auf soziale Missstände eingeht. Dabei offenbart sich immer mehr der Claus Gatterer, der sich unverhohlen auf die Seite der Schwachen und Benachteiligten schlägt. In den späten Jahren sah sich Gatterer selbst als links – wahrscheinlich auch der Grund, weshalb seine Sendung abgesetzt wurde.
Mit der Südtiroler Geschichte hat Gatterer sich noch in einigen anderen Büchern auseinandergesetzt (z. B. „Im Kampf gegen Rom. Bürger, Minderheiten und Autonomien in Italien“, „Erbfeindschaft Italien-Österreich“). Auch hier geht er mit der Objektivität desjenigen vor, der zwischen den Fronten aufgewachsen ist, und mit der Scharfsinnigkeit desjenigen, der die Dinge nicht von der einen oder der anderen Seite, sondern von der Grenze aus beobachtet. Diese Haltung ist es vor allem, was Gatterers Zeitlosigkeit ausmacht. Wer heute „Schöne Welt, böse Leut“ liest, meint nicht nur, ein Stück verstaubte Landesgeschichte kennenzulernen – Gatterer will keine Daten, keine harten Fakten auf den Tisch legen, sondern exemplarische Geschichten erzählen. Worum es ihm geht, sind nicht irgendwelche historischen Papiere und Verträge, sondern die Menschen, die dahinter oder darunter stehen. „’Werde, was du bist’, lehrt Pindar aus Theben. (…) Und wie schwer war es zuweilen, das zu sein, ‘was man ist’: Mensch.”, schreibt Gatterer. Bei der Erörterung dieses menschlichen Seins dient der historische und geographische Hintergrund den Geschichten Gatterers letztlich nur als Kulisse. Das kleine Sexten als Vorwand. Eine Grenze, zwei Völker, die einen die Unterdrücker, die anderen die Unterdrückten – das ist das eigentliche Muster, und es lässt sich auch heute noch beliebig oft finden.
In diesem Muster stecken die essentiellen Fragen, denen Gatterer in seinem Werk nachgeht: Was passiert, wenn der Mensch willkürliche Grenzen zieht, und was bedeutet es, seine Heimat zu verlieren? Anstatt dadurch Ressentiments der Vergangenheit zu schüren, stand der einflussreiche Journalist dafür ein, ein Zusammenleben in der Gegenwart zu gewährleisten. 1984, im Alter von nur 60 Jahren, starb er an Krebs. Er selbst kann es nicht mehr miterleben, aber die Situationen seiner Bücher wiederholen sich noch heute, auch hier in Europa. Menschen werden vertrieben, sie verlieren ihre Heimat und ihr Leben hängt ab von den Grenzen, die einige Mächtige aufgestellt haben: Was würde Gatterer zu Europas Umgang mit Flüchtlingen sagen? Wer seine Arbeiten kennt, für den ist die Antwort klar.
Einige bezeichnende Texte, Ton-, und Videoaufnahmen aus Gatterers Journalistenkarriere sind auf dem Onlineportal Gatterer9030 zu finden.
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