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Teresa Putzer
Veröffentlicht
am 11.07.2024
LeuteInterview mit Andrea Fleckinger

„Das Matriarchat ist keine Frauenherrschaft“

Veröffentlicht
am 11.07.2024
Eine Gesellschaft im Gleichgewicht: Sozialwissenschaftlerin Andrea Fleckinger über das Matriarchat – ein Modell für eine gesamtgesellschaftliche nachhaltige Zukunft?
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Andrea Fleckinger ist Sozialwissenschaftlerin, Forscherin und Dozentin an der Universität Trient. Sie arbeitete 13 Jahre im Frauenhausdienst und war täglich mit geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen konfrontiert. Trotz Präventions- und Öffentlichkeitsarbeit sowie besserer Gesetze veränderte sich die Situation kaum, weder in Südtirol, in Italien noch anderswo. Diese Erfahrung ließ Fleckinger hinterfragen, warum unsere Gesellschaft so hohe Gewaltzahlen aufweist und wie Gesellschaft ohne systematische Gewalt an Frauen organisiert werden kann. In der modernen Matriarchatsforschung fand sie ein interessantes Modell: Sie ließ sich von Heide Göttner-Abendroth, der Begründerin der modernen Matriarchatsforschung, ausbilden und gründete, gemeinsam mit Anna Pixner, Martina Engel-Fürstberger und Simone Plaza das MatriForum. Ziel der Organisation ist es, das Wissen um Matriarchate zu verbreiten und einen Raum für die Entwicklung konkreter Zukunftsvisionen zu schaffen. Aber was genau ist das Matriarchat und wie könnte es der westlichen Gesellschaft nützlich sein? BARFUSS hat sich mit der Sozialwissenschaftlerin getroffen und nachgefragt.

BARFUSS: Frau Fleckinger, was versteht man unter „Matriarchat“?
Das Wort „Matriarchat“ wird oft schnell als Frauenherrschaft missverstanden. Frauenherrschaft gab es noch nie, matriarchale Gesellschaften jedoch schon. Linguistisch betrachtet bedeutet „matri“ Mutter, und „archat“, entlehnt vom dem grieschischen „arkhé“  bedeutet nicht nur Herrschaft, sondern auch  „Anfang, Ursprung oder Beginn“. Man könnte daher das Wort Matriarchat mit „am Anfang die Mütter“ übersetzen. Der Begriff bezieht sich auf Gesellschaften, in denen mütterliche Werte und die Sorge um das Leben zentral sind. Matriarchate sind Gesellschaften, die auf dem Schutz und der Förderung des Lebens basieren. Sie können auch als egalitäre Gesellschaften in Balance beschrieben werden.  

Gibt es historische oder gar aktuelle Beispiele für matriarchale Gesellschaften?
Die moderne Matriarchatsforschung zeigt uns historische und aktuelle Beispiele von matriarchalen Gesellschaften. Zunächst geht es darum, eine völlig andere Gesellschaftsordnung zu verstehen. Dies passiert zum einen mit dem Blick auf das Wirtschaftssystem, das entlang der Schenkökonomie (Anm. d. Red.: Wirtschaft, die nicht auf Tausch und Handel basiert. Menschen oder Organisationen gehen freiwillig in Vorleistung, ohne unmittelbar dafür vergütet zu werden.) organisiert ist, zum anderen auch mit Blick auf das politische System, das sich entlang des Konsensprinzip gestaltet. Genauso wichtig ist der Blick auf das Geschlechter- und Generationenverhältnis. Historisch gesehen können wir bis ins Neolithikum zurückblicken, um matriarchale Strukturen in Europa zu finden. Aktuell gibt es matriarchale Gesellschaften, nur nicht mehr in Europa. Ein prominentes Beispiel sind die Minangkabau in West-Sumatra, oder auch Juchitán in Mexico, bekannt als „Die Stadt der Frauen“.

Was genau könnte unsere Gesellschaft von diesen matriarchalen Strukturen lernen?
Vieles. Matriarchale Gesellschaften zeichnen sich durch Geschlechtergleichwertigkeit und eine Balance zwischen den Generationen aus. Diese Gesellschaften bieten auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Organisation Inspiration für unsere Zukunft. Es geht nicht darum, diese Gesellschaften direkt zu kopieren, sondern um das Kennenlernen und Verstehen bewährter Modelle, die über Jahrtausende erprobt wurden. In matriarchalen Gesellschaften gibt es zum Beispiel keine riesigen Nationalstaaten, die von oben herab herrschen, sondern regionale Netzwerke, in denen über das Konsensprinzip alle Personen in die Entscheidungen betreffend die Region einbezogen werden. Auch das spirituelle Verständnis ist fundamental und beeinflusst das gesellschaftliche Leben stark, für die Struktur und das Zusammenleben.

Was bedeutet spirituelles Verständnis? Wie sieht dieses konkret aus?
Um eine Gesellschaft zu verstehen ist es hilfreich, ihre Ursprungsmythen zu betrachten. In unserer patriarchalen Kultur finden wir in der Bibel die Schöpfungsgeschichte, in der es heißt: „Bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen“. Die Hierarchie und die Herrschaftsidee sind somit von Anfang an präsent. Zudem spalten wir zwischen heilig und profan. Während Heiliges geehrt wird, darf profanes beliebig ausgebeutet und zerstört werden. Um ein konkretes Beispiel zu machen: Niemand würde seinen Müll in einer Kirche entsorgen, weil diese als heilig gilt, den Müll ins Meer zu kippen ist hingegen eher tolerierbar, weil es nicht als heilig gilt.

In matriarchalen Gesellschaften hingegen existiert dieses hierarchisch, spaltende Herrschaftsdenken nicht. Im Matriarchat wird alles als göttlich, heilig und schützenswert betrachtet. Bei den Minangkabau zum Beispiel wird die Natur als Lehrerin betrachtet, was ein tiefes Verständnis und eine enge Verbundenheit mit der Umwelt zeigt und somit der Nachhaltigkeit enorm dienen kann.

Geschlechtergleichgewicht und Balance: Das bedeutet, dass Männer und Frauen gleichermaßen wichtige Aufgaben und Rollen in der Gesellschaft haben und dafür geachtet und geschätzt werden.

Andrea Fleckinger

Wie steht es sonst um den Glauben im Matriarchat?
Ein weiteres charakteristisches Merkmal ist der Glaube an die Wiedergeburt. In matriarchalen Gesellschaften wird jede Frau als fähig angesehen, Ahn:innen wiederzugebären. Frauen werden für diese Fähigkeit, den Tod ins Leben zu verwandeln, besonders geehrt. Kinder sind ebenfalls hochgeschätzt, da sie als zurückgekehrte Ahn:innen angesehen werden. Diese Sichtweise steht im Gegensatz zu den monotheistischen patriarchalen Religionen, wo die Transzendenz und das Jenseits eine zentrale Rolle spielen. In matriarchalen Gesellschaften ist das Heilige und Göttliche im Hier und Jetzt verwurzelt, was einen tiefgreifenden Einfluss auf das soziale und spirituelle Leben hat.

Und wie sieht es mit den Männern aus?
Männer spielen natürlich auch eine sehr wichtige Rolle. Die Gesellschaft besteht aus Männern, Frauen und Menschen, die sich keinem der beiden Geschlechter zuordnen. Ich habe bereits über das Geschlechtergleichgewicht und die Balance gesprochen. Das bedeutet, dass Männer und Frauen gleichermaßen wichtige Aufgaben und Rollen in der Gesellschaft haben und dafür geachtet und geschätzt werden. In der Politik besetzen zum Beispiel oftmals Männer sehr wichtige Positionen, während die Ökonomie in den Händen der Frauen liegt.

Wie funktioniert Politik im Matriarchat?
Die Politik wird entlang des Konsensprinzips gestaltet. Wenn wir über Politik sprechen ist es wichtig, dass wir auch die ökonomische, spirituelle und soziale Ebene im Auge behalten. Eine Grundlage des Konsensprinzips ist der Matriclan: Alle in der Mutterlinie verwandten Personen leben im selben Matriclan zusammen. In traditionellen Matriarchaten gibt es keine Verwandtschaft entlang der Vaterlinie. Der Matriclan, in dem alle über 13-Jährigen stimmberechtigt sind, bildet die kleinste und gleichzeitig zentralste politische Einheit, dort werden die Entscheidungen für den Clan, das Dorf und die Region getroffen.

Was bedeutet dieses Konsensprinzip?
Entscheidungen werden nur durch Einstimmigkeit getroffen … Gibt es unterschiedliche Meinungen, wird versucht, diese zu verstehen und zu integrieren, anstatt sie abzulehnen. So kann niemals eine Mehrheit über eine Minderheit bestimmen. Hat ein Matriclan eine Entscheidung getroffen, wird ein Delegierter gewählt, der in den Dorfrat geht. Dort treffen sich alle Delegierten und tauschen die Entscheidungen der Clans aus. Diese wichtige Rolle übernehmen häufig Männer. Die Delegierten haben allerdings keine Entscheidungsbefugnis; sie tragen die unterschiedlichen Standpunkte zurück in ihren Klan, um eine Lösung zu finden. Die Delegierten wandern zwischen Clan-, Dorf- und Regionalrat so lange hin und her bis eine einstimmige Entscheidung gefunden ist, so wird das Dorfleben und die Region durch das konsensorientierte Modell gesteuert. Ein konkretes Beispiel, wie dieses Modell auch über große Distanzen funktioniert, zeigen uns die Irokesen.

Grundsätzlich denke ich, dass jede westliche Gesellschaft enorm von Matriarchaten profitieren könnte, weil diese Gesellschaften im Gleichgewicht und friedlich leben.

Andrea Fleckinger

Zu Beginn haben Sie erwähnt, dass das Matriarchat eine Lösung gegen die systematisierte Gewalt an Frauen sein kann. Warum genau?
Weil die Geschlechter in Matriarchaten gleichwertig sind. Im Patriarchat wird der Mann ins Zentrum gestellt und erhöht. Das Männliche wird als das Vollständige, die menschliche Norm erachtet und alles was davon abweicht gilt als minderwertig und darf beherrscht werden, dieses Prinzip nennt man Androzentrismus. In matriarchalen Gesellschaften ist das anders. Frauen spielen eine zentrale Rolle – nicht nur aufgrund ihrer Fähigkeit, Leben zu schenken und den Tod ins Leben zu verwandeln –, sondern sie haben auch in der Ökonomie eine bedeutende Position. Die Ökonomie liegt in den Händen der Frauen, weil ihnen eine besondere Fähigkeit zur gerechten Verteilung zugeschrieben wird. Gemäß der Schenkeökonomie ist Akkumulation, also das Anhäufen und Horten von Geld und Besitz, verpönt und eine Person erhält Ansehen über ihre Fähigkeit gerecht zu verteilen. Die Matriarchin, die die Ökonomie ihres Klans verwaltet, tut dies gerecht für alle im Clan lebenden Personen und wird in ihrem Tun auch beobachtet. Verteilt sie nicht gerecht, kann sie abgewählt werden. Die Rolle der Matriarchin ist kein Geburtsrecht, ganz anders als wir das aus unseren Gesellschaften kennen.

Inwiefern könnte unsere Gesellschaft von matriarchalen Elementen profitieren?
Grundsätzlich denke ich, dass jede westliche Gesellschaft enorm von Matriarchaten profitieren könnte, weil diese Gesellschaften im Gleichgewicht und friedlich leben. In matriarchalen Gesellschaften gibt es beispielsweise kein Militär zur Durchsetzung von Herrschaftsansprüchen. Die Frage ist, wie wir diese Elemente in unsere Gesellschaft integrieren können und wo wir damit anfangen sollten.

Und wie können wir das tun?
Auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig. Ich sehe meine Rolle vor allem darin, die Zusammenhänge und Prinzipien matriarchaler Gesellschaften zu erklären und sie für uns zugänglich zu machen. Erst wenn Vielen die Lebenszusammenhänge von Matriarchaten bekannt sind, können daraus konkrete, tragfähige Modelle für unsere Zukunft entstehen. Um ein paar Beispiele anzureißen. Ein wichtiger Schritt, auf der ökonomischen Ebene kann es sein, ein stärkeres Bewusstsein für Regionalität zu schaffen, angefangen bei der lokalen Lebensmittelproduktion und -verarbeitung oder eine gerechte Verteilung des Vermögens unter den Geschlechtern zu fordern und zu fördern. Es gibt bereits Forderungen, dass beispielsweise 50 Prozent des Gesamtvermögens der Gesellschaft in die Hände von Frauen fließen sollten, nicht in Einzelpersonen, sondern in Frauenverbände, -organisationen und Frauengeführte Unternehmen. Wir können auch auf unsere Entscheidungsprozesse blicken und uns im Konsensprinzip üben – dann öffnen sich natürlich sehr viele Fragen mit Blick auf unser Familienverständnis. Wie können wir aus dem überholten und überlasteten Modell der Kleinfamilie aussteigen und unser Zusammenleben neu organisieren?

Ein Missverständnis besteht darin zu glauben, dass eine matriarchale Gesellschaft völlig konfliktfrei wäre oder das absolute Ideal darstellen würde.

Andrea Fleckinger

Reicht das aus?
Nein, das ist nur der Anfang einer Balance. Wir müssen uns bewusst sein, dass allein die Verteilung des Vermögens nicht automatisch zu einer matriarchalen Gesellschaft führt. Wir werden sicherlich Frauen sehen, die Entscheidungen treffen, die nicht förderlich für eine nachhaltige Zukunft sind, genauso wie Männer, die nachhaltige und wichtige Entscheidungen treffen können. Es geht darum, dass wir uns alle bewusstwerden und unsere Entscheidungsprozesse überdenken, um eine wirkliche Veränderung zu ermöglichen. Eine wichtiger Punkt sind auch die Werte und die Art wie eine Person Wertschätzung erhält: Solange Reichtum Anerkennung schafft, gestaltet sich Veränderung schwierig. Wird eine Person jedoch geachtet aufgrund ihrer Fähigkeit zu verteilen und erfährt sie Anerkennung für ihre Beiträge zur Gemeinschaft und zur nachhaltigen Entwicklung, dann wird eine echte Veränderung möglich.

Wie begegnen Sie der Kritik, dass der Begriff „Matriarchat“ romantisiert oder idealisiert wird und fernab der Realität sei?
Die Kritik kommt häufig daher, dass nur wenig Wissen über diese Gesellschaftsform vorhanden ist und viele nur die Grundzüge verstehen. Ein Missverständnis besteht darin zu glauben, dass eine matriarchale Gesellschaft völlig konfliktfrei wäre oder das absolute Ideal darstellen würde. Vielmehr sehe ich darin eine konkrete Alternative zur systematischen Zerstörung, die wir heute erleben. Menschen, die solche Ansätze leichtfertig abtun, lade ich ein, zuzuhören, sich mit dem Thema zu beschäftigen und es genauer zu verstehen. Oft löst allein schon der Begriff „Matriarchat“ starke Emotionen aus – sei es Neugierde, Interesse oder Ablehnung. Dies zeigt, dass es ein Thema ist, das das kollektive Unterbewusstsein berührt und als Wissenschaftlerin finde ich es daher besonders spannend, diesem Phänomen nachzugehen.

Sind westliche Gesellschaften bereit für die Integration matriarchaler Elemente?
Natürlich gibt es viele Widerstände, da die Akzeptanz matriarchaler Elemente bedeuten würde, dass unsere Gesellschaft grundlegende Veränderungen durchlaufen müsste – in Wirtschaftssystemen, politischen Strukturen und darüber hinaus. Dies kann vielen Menschen Angst machen, da es bedeutet, etwas Bekanntes loszulassen. Deshalb geht es um Schritte, sowohl kleine als auch konkrete, die jede:r von uns unternehmen kann – angepasst an unsere jeweiligen Möglichkeiten und Rahmenbedingungen. Niemand von uns wird diesen Weg perfekt gehen können, auch ich nicht. Ich bin ebenfalls Teil des kapitalistischen Systems, in dem ich lebe, und nutze die vorhandenen Spielräume, um Veränderungen anzustoßen. Es ist unrealistisch zu erwarten, dass diese Veränderungen über Nacht geschehen können.

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