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Illustrations by Sarah
Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 27.01.2017
LeuteInterview mit einem Holocaust-Überlebenden

Das lebende Mahnmal

Er überlebte vier Konzentrationslager und ist nun 103 Jahre alt. Doch der Antisemitismus sei längst noch nicht gebannt, sagt Marko Feingold.
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„Trink doch erst mal einen Kaffee“, fordert Hanna Feingold ihren Ehemann Marko auf. Der hat sich inzwischen auf einen Stuhl gesetzt. Dem 103-jährigen Mann steht gleich ein Interview bevor. „Trink einen Kaffee, dann wirst du wieder frischer“, wiederholt Hanna. Doch Feingold winkt energisch ab. „Der Kaffee wird frischer“, entgegnet er und lacht.

Marko Feingold ist Österreichs ältester Holocaust-Überlebender und Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg. Seine 103 Jahre konnten seinem Charisma, seiner Lebhaftigkeit und seinem Humor nichts anhaben. Im Gegenteil. Als einer der letzten Zeugen jener Zeitereignisse reist er noch heute viel herum, hält Vorträge, folgt Einladungen in Schulen und macht immer wieder darauf aufmerksam: Der Antisemitismus ist noch nicht besiegt.

Mitte Dezember nahm Feingold in Meran an einer Podiumsdiskussion zum Thema „Alle Opfer? Meran und seine Juden” teil, welche die Volkshochschule Urania organisiert hatte. Dort hatte ich die Gelegenheit, ihn zu treffen und mit ihm ein Gespräch zu führen. Es war eine Gelegenheit, die mich zugegebenermaßen in Aufregung versetzte. Ein Überlebender des Holocausts, das ist ein Mensch, der Unfassbares erfahren musste, einer der letzten Zeitzeugen des mit Abstand dunkelsten Kapitels der Menschheitsgeschichte; und als solcher ist es ein Mensch mit einer enormen moralischen Autorität. Nach dem Interview verließ mich schließlich die Aufregung – und wurde ersetzt von Ratlosigkeit. Es waren plötzlich mehr Fragen offen als zuvor. Dabei war die Formfrage noch die einfachste: Sollte ich diese Begegnung zu einem klassischen Interview, zu einem idealisierenden Porträt verarbeiten? Oder sollte ich auch ein gewisses Maß an Subjektivität einbauen und dadurch die neuentstandenen Fragen mit dem Leser teilen? Ich entschied mich für diese Variante.

Schließlich bestimmt Feingold: Den Kaffee trinkt er später, inzwischen soll das Interview beginnen. Der passionierte Erzähler richtet sein Hörgerät, sein Blick wird erwartungsvoll. Ich stelle die erste Frage.

Herr Feingold, an dem, was Sie erlebt bzw. überlebt haben, sind manche Menschen auch schon zerbrochen. Man denke zum Beispiel an den jüdischen Dichter Paul Celan. Sie aber scheinen die Lebenslust nie verloren zu haben.
In Wirklichkeit habe ich die Vergangenheit gegenwärtig. Denn das interessiert die Leute: Wie war es im Konzentrationslager? Und was wahrscheinlich auch Sie wissen wollen: Ich war in vier verschiedenen Lagern. Zusammen mit meinem Bruder bin ich deportiert worden. Das erste Lager war Auschwitz.

Tatsächlich haben Sie meine nächste Frage schon vorweggenommen. Wie ging es dann für Sie weiter?
Mein Bruder und ich waren die zwei ersten Österreicher, die nach Auschwitz kamen. Gleich bei der Ankunft nahm man uns alle Wertsachen ab, einschließlich unseres Bargelds. Als ich dann fragte: „Was macht ihr mit meinem Geld?“, bekam ich nur zur Antwort: „Das werdet ihr ab jetzt nicht mehr brauchen. Ihr habt hier eine Lebenserwartung von maximal drei Monaten“.

Das hat man Ihnen gleich zu Beginn so gesagt?
Das war die Begrüßung. Man konnte es anfangs gar nicht glauben. Dann folgte die Ganzkörper-Rasur. Mein Bruder und ich, die damals noch sehr eitel waren, konnten uns einige Bemerkungen über unser neues Aussehen nicht verkneifen: „Weißt du wie du aussiehst? Wie ein Arsch mit Ohren!“ – „Und du siehst auch nicht besser aus!“ Daraufhin kam das Bürokratische. In einem Abteil war die Gestapo untergebracht. Dort legten sie einem Dokumente vor, die man unterschreiben musste. Es ging um die Freigabe des Kontos, um die Enteignung anderer Besitztümer. Unter normalen Umständen hätte das kein Mensch unterschrieben, aber man wusste, was folgte. Ein paar Leute weigerten sich tatsächlich, zu unterschreiben – und sind so bearbeitet worden, dass man sie auf einer Tragbahre hat wegbringen müssen. Nach einigen Tagen haben auch sie unterschrieben. Untergebracht wurden wir dann mit 450 anderen Häftlingen in einem kahlen, fensterlosen Raum. Dann kam der erste Arbeitstag, an dem wir verschiedene Holzkästen schleppen mussten. Es wurde mir schnell klar: Hier wird nicht auf die Arbeit Wert gelegt, sondern hier versucht man, Häftlinge fertigzumachen. Überleben kann das keiner. Wenn nicht irgendwelche besonderen Umstände eintreten.

Welche Umstände waren das zum Beispiel?
Wie gesagt, der normale Durchschnittshäftling konnte das nicht überleben. Man muss aber auch berücksichtigen: Den normalen Durchschnittshäftling gab es nicht. Wenn gleich bei der Ankunft herauskam, dass man beispielsweise einer gewissen Partei angehörte, hatte man schon gute Chancen, eine leichtere Arbeit zugeteilt zu bekommen. Ich selbst wurde wegen einer Bekanntschaft in der Schreibstube behalten. Dadurch musste ich nicht beim Morgen- und Abendappell antreten. Das war wohl entscheidend, denn etwas vom Gefährlichsten war gerade der Appell. Dabei musste man oft eineinhalb Stunden lang strammstehen. Bei minus 10 Grad im Winter mit der leichten Häftlingskleidung steht man das nicht lange durch. Nichtsdestotrotz war ich nach wenigen Monaten nicht mehr fähig zu arbeiten. Viele von den Häftlingen um mich herum sind stehend gestorben. Man gibt sich irgendwann einfach auf. Das habe ich an mir selbst erlebt.

Was geschah da?
Als wir einmal auf einem Feld schaufeln mussten, wurde mir nach und nach klar: Ich kann nimmer. Also halte ich mich buchstäblich an meiner Schaufel fest. Langsam merke ich, wie mein Körper absackt. Die Vorarbeiter und Wächter haben auch nichts dagegen unternommen. Sie wussten, dass so jemand vielleicht noch eine Viertel Stunde dasteht, danach ist er tot. In dem Moment kommt ein anderer Häftling an mir vorbei und sagt: „Du! Deinen Bruder haben sie für einen Transport ausgesucht.“ Das hat mich wieder wachgerüttelt. Man wollte ihn mit anderen tausend Häftlingen nach Neuengamme bei Hamburg schicken. Auch ich wurde schließlich da hin geschickt.

Insgesamt war Marko Feingold in vier verschiedenen Konzentrationslagern: Auschwitz, Neuengamme, Dachau und Buchenwald. Sein Bruder überlebte Neuengamme nicht. Als Frau Feingold vom gestreiften Anzug spricht, den Marko Feingold damals tragen musste, wird er plötzlich wütend: „Das ist ein Reden ohne zu zeigen!“ sagt Feingold aufgebracht. „Die könnens glauben oder nicht.“ Als seine Frau nun ein Buch herauszieht, in dem die Häftlingsuniform abgebildet ist, ist Feingold zufrieden. Immer wieder beteuert Feingold während des Gesprächs, er könne seine Schilderungen beweisen, weist auf Dokumente und Unterlagen hin, die seine Aussagen bestätigten. „Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht lügen. Es ist alles dokumentiert“, sagt Feingold. Seine Vorsicht mag befremdend wirken – aber sie hat leider ihren Grund. Noch immer gibt es Menschen, die den Holocaust leugnen. Und erst kürzlich forderte der AfD-Politiker Björn Höcke „eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“.

Im Konzentrationslager mussten Sie erfahren, zu welchen Verbrechen der Mensch fähig ist. Hat das Sie und Ihr Menschenbild nachhaltig verändert?
Wir Überlebenden haben uns eigentlich nicht nennenswert verändert. Wer zuerst einen lockeren Lebensstil führte, der wurde später vielleicht „anständiger“. Man muss sich aber vorstellen, was ein Häftling alles zu sehen bekam: Da ist zum Beispiel die Einfahrt zu einem Lager und es kommt ein Zug mit neuen Häftlingen an. An der Rampe steht ein SS-Mann mit einem Stock in der Hand, er hat die Aufgabe, die auszusuchen, die unmittelbar zur Vergasung bestimmt sind. Da sind unter den Neuen auch Frauen mit Babys im Arm. Eine von ihnen will ihr Kind nicht hergeben, man reißt es ihr daraufhin mit Gewalt aus dem Arm, erschießt die Frau und das Kind wird an der nächsten Mauer zerschellt. Ich hab mir immer gedacht: Man muss von guten Eltern kommen, um das aushalten zu können.

Blicken wir nun auf die heutige Zeit. Ist der Antisemitismus inzwischen gebannt?
Nein! Und ich gebe Ihnen ein Beispiel, das aussagekräftig ist. Seit 1945 lebe ich in Salzburg. Im Jahr 1946 lebten noch 600 Juden in Salzburg. Und heute sind wir zehn. Das war nicht nur freiwillige Auswanderung. Einmal zum Beispiel kamen einige jüdische Schüler, die vor der Matura standen, zu mir und erklärten mir, bei ihren Professoren würde man als Jude keine Matura schaffen. Man war ihnen daraufhin behilflich, ins Ausland zu gehen. Schließlich gingen sie in die Schweiz, nach England, auch nach Amerika. In diesen Ländern wurden sie wohlwollend aufgenommen, sie haben die Schule abgeschlossen, ein Studium begonnen und so weiter. Nur ein einziger von ihnen kam zurück.

Sie waren in der Nachkriegszeit auch selbst sehr aktiv, um jüdischen Flüchtlingen ins Ausland zu verhelfen, vor allem ins Gebiet des heutigen Israel. Was halten Sie eigentlich heute vom Staat Israel?
Auf dieses Land muss man mit Hochachtung schauen, denn es ist in jeder Beziehung anderen Ländern voraus. In der Verteidigung, im Warenexport, in der Technologie. Jedes dritte Medikament kommt heute aus Israel, überall, in jedem Computer, in jedem Handy sind Bestandteile drin, die aus Israel kommen.

Soweit, was den Entwicklungsstand Israels betrifft. Was ist aber mit der Einhaltung von Menschenrechten? Sehen Sie da Anlass zur Kritik?
Sehen Sie, die Moslems schaden sich ja selbst. Gewisse Medikamente lehnen sie ab, aber dann sterben sie eben. Antisemitismus ist heute vor allem das Modell der Moslems. Sie behaupten, Jerusalem sei ursprünglich arabisch. So macht man den Juden alles streitig. Auch der abgedankte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hat nun zugeben, dass es die ganzen Jahre hindurch ein Krampf war, weil so viele UN-Abstimmungen immer auf Kosten der Juden ausfielen. Die UN ist eine Organisation, die inzwischen nur noch benutzt wird, um den Juden eins auszuwischen. Es gibt dutzende arabische Staaten, wogegen eine Handvoll europäische Staaten nicht die Oberhand gewinnen kann. Die arabischen Länder sind immer die Sieger. Ich sehe keinen Anlass zur Kritik.

Hier endete das Interview mit Marko Feingold. Dieses Interview war mit Abstand das außergewöhnlichste, das ich bisher geführt habe. Vielleicht deswegen, weil es eine der letzten Möglichkeiten war, mit einem Überlebenden des Holocausts zu sprechen. Vielleicht aber auch deshalb, weil nur selten ein Interview mehr Fragen aufwirft, als es beantworten konnte. Viel mehr Fragen.

Die Fakten geben Feingolds Besorgnis über den arabischen Antisemitismus recht: In den meisten arabischen Staaten wurde in den letzten Jahrzehnten eine politische Propaganda entwickelt, die nicht nur antiisraelisch, sondern ausdrücklich antisemitisch ist. In dem antiisraelischen Klima der arabischen Staaten fielen alte antisemitische Mythen nämlich auf fruchtbaren Boden. Auch die unter Verschwörungstheoretikern beliebte Vorstellung, dass die Macht über die ganze Welt in den Händen einiger weniger superreichen und böswilligen Zionisten liege, ist in der arabischen Welt weit verbreitet und akzeptiert.

Aber was ist mit den Menschenrechtsverletzungen, die Israel selbst begeht? Es sind Menschenrechtsverletzungen, die ein Staat begeht und nicht eine Volksgruppe. Sollte man nicht jenseits des Antisemitismus-Vorwurfs sachlich darüber diskutieren können? Sowohl Israel-Kritiker als auch Israel-Unterstützer scheinen aber oft an diesem Ziel vorbeizuschießen. Die einen, weil sie tatsächlich antisemitische Vorurteile bedienen, die anderen, weil sie auch objektive Kritik als antisemitisch motiviert abtun.

Marko Feingold vertritt entschieden den zionistischen Standpunkt. Ich frage mich: Gehört nicht auch der Zionismus – als ein Nationalismus – zu jenen chauvinistischen Denkmustern, aus denen auch der deutsche Antisemitismus hervorgegangen ist? Ist doch die Gemeinsamkeit aller Chauvinismen der Glaube an die Überlegenheit der eigenen Gruppe.

Können die Lebenserfahrungen eines Menschen, so schlimm sie auch gewesen sind, den Chauvinismus, der teilweise seinen Ansichten innewohnt, rechtfertigen? Und wenn nicht: Darf man einen solchen Menschen, der ein lebendes Mahnmal an die größte Schande der Menschheit ist, kritisieren? Oder würde das seiner Funktion als Mahner zu sehr schaden?

Marko Feingold hat als Holocaust-Überlebender zweifellos eine überragende moralische Autorität. Als sein Gegenüber in diesem Gespräch muss ich aber zugeben: In meinen Augen konnte er dadurch, dass er selbst gewissen chauvinistischen Ansichten unterliegt, seiner eigenen Autorität nicht ganz gerecht werden. Lange hab ich überlegt, ob ich Feingolds streitbare Aussagen nicht lieber streichen und den Text nur auf seine Erlebnisse im KZ fokussieren sollte. Ich entschied mich dagegen. Denn Marko Feingold ist nicht nur ein lebendes Mahnmal an die Verbrechen der Nationalsozialisten. Er ist ein lebendes Mahnmal an den Menschen: mit all seinen Vorzügen, aber genauso mit all seinen Fehlern, vor denen auch keine Vergangenheit ihn bewahren kann.

Doch der Mahner ist gleichzeitig ein Mann der Hoffnung. Im persönlichen Gespräch machte der 103-Jährige eine Anmerkung, die in einer Zeit des Beifalls für autoritäre Trumps, Putins, Le Pens und Erdoğans Zuversicht gibt: „Ich habe einen festen Glauben an die Demokratie“, sagt Feingold. „Aus dem einfachen Grund, dass Diktaturen nie lange gehalten haben. Diktaturen zerstören sich selbst, am Ende siegt immer die Freiheit – das weiß ich aus eigener Erfahrung.“

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