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Eine Menschenmenge auf dem Bozner Landhausplatz, kaum jemand trägt Maske. Eine Frau weist übers Mikrophon an: „Bitte setzt eure Masken auf und verteilt euch ein wenig. Auch wenn wir dagegen sind, ein bisschen müssen wir uns an die Regeln halten.“ Die Rednerin schaut zu den anwesenden Ordnungskräften. Dann fügt sie hinzu: „Wir haben heute auch Pressevertreter hier, hoffentlich berichten sie wahrheitsgetreu.“ Ich schlucke. Ich fühle mich wie der Staatsfeind Nummer Eins inmitten von Menschen, die mich für die Marionette eines diktatorischen Regimes halten.
Vor einer Woche las ich in der Zeitung von einem wütenden Anti-Impf-Mob, der in Berlin gemeinsam mit Rechtsradikalen das Reichstagsgebäude stürzte. Als für den 4. September in Bozen eine Demo aus ähnlichem Grund angekündigt wurde – gegen die Impf- und Maskenpflicht, gegen die „Lügen von Medien und Politik“ – beschloss ich, hinzugehen. Ich wollte mir selbst ein Bild von den Demonstranten und ihren Anliegen machen. Sind das alles verrückte Spinner? Warum wollen sie ihre Kinder nicht impfen? Und weshalb vertrauen sie Youtube-Bloggern mehr als Virologen?
In Bozen geht es harmonisch zu: Da tummeln sich junge Eltern, die ihre Kinder auf den Schultern tragen, Familien auf Picknickdecken, spielende Kinder. Keine wütenden Gesichter, keine Nazi-Flaggen-schwingende Gestalten. Doch die Anwesenden sind frustriert. Frustriert vom Umgang der Politik und Medien mit dem Virus, frustriert von den vielen Verbote, den fehlenden Antworten. Auch Karin gehört dazu. Die Mutter aus Sterzing sagt: „Ich finde es furchtbar, was auf dem Rücken unserer Kinder ausgetragen wird.“ Die Saunameisterin möchte selbst entscheiden, was gut für ihre Tochter ist. Warum sie Impfungen nicht vertraut, die Krankheiten wie Kinderlähmung oder Pocken ausgerottet haben? „Für mich persönlich war es eine Bauchentscheidung. Ich will meinem gesunden Kind nicht etwas potenziell Krankmachendes einspritzen.“
Die meisten der Teilnehmenden an der Demo sind Impfskeptiker. Doch unter ihnen sind auch Eltern, die nicht grundsätzlich gegen Impfungen sind. Sie halten die Entscheidung der Landesregierung, nicht geimpften Kindern den Kindergarten zu verwehren, aber für falsch. So auch Franzi, Lehrerin aus Völs und Rednerin auf der Demo. Ihr Sohn darf kommende Woche nicht in den Kindergarten, da sein Impftermin kurzfristig abgesagt wurde. Die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus hält sie für heuchlerisch. Am Nachmittag kämen auf den Spielplätzen doch alle Kinder zum Spielen zusammen – ganz ohne Maske.
Die meisten Demonstranten in Bozen sind sich einig: Das Virus würde benutzt, um die Gesellschaft zu kontrollieren. Das ginge auf Kosten der Kinder, die nicht mehr mit Freunden spielen und Kindergarten und Schule besuchen können. „Kinder und Jugendliche sind Menschen, keine Verseucher!“ rufen die Rederinnen und Redner. Darauf folgt Beifall.
Ich kann den Frust vieler Eltern verstehen, ihren Unmut gegenüber Regeln, die unmöglich konsequent umzusetzen sind. Auch die Frage nach der Legitimation bestimmter Verbote ist berechtigt. Doch kann man der Politik vorwerfen, sie verkauften Kinder als „Virusschleudern“, aufgrund von Maßnahmen, die doch gegen ein Virus gerichtet sind, und nicht gegen Kinder? Es befremdet mich, wenn eine Mutter sagt, ihr Kind werde instrumentalisiert, nur um ihm im nächsten Augenblick das Mikrophon unter die Nase zu halten, damit es „Freiheit, Freiheit“ hineinschreit. So ein Kind ist stolz, weil es etwas macht, das Mama will, ohne dass es aber versteht, worum es geht.
Dabei versteht niemand von uns wirklich, worum es geht. Unsere Gesellschaft hat eine solche Pandemie noch nie erlebt. Eben deshalb ergeben sich neue moralische Fragen, auf die es keine endgültigen Antworten gibt: Ist die Einschränkung von Grundrechten temporär zum Wohle der Gesamtbevölkerung zulässig? Wo liegen die Grenzen? Und hört meine Freiheit auf Bewegung dort auf, wo die Freiheit auf Gesundheit des anderen anfängt?
Das Stichwort „Freiheit“ prangt an diesem Abend auf vielen Plakaten. Doch was ist damit gemeint? „Freiheit heißt für mich, ‚Nein’ sagen zu dürfen zu Verboten und Regeln“, sagt Klaus, einer der Organisatoren der Proteste. Die Corona-Verbote hält er für übertrieben, Krankheiten hätte es schließlich immer schon gegeben. Skeptisch macht ihn, dass die Todesfälle während des Lockdowns angestiegen, nach den Lockerungen aber gesunken sind – eine absurde Aussage. Bevor ich ihn darauf hinweisen kann, dass die Zahlen eben wegen des Lockdowns gesunken sind, sagt er: „Niemand leugnet Covid. Aber mit dieser Panikmache hat die Politik an Macht gewonnen, und die will sie jetzt nicht mehr abgeben.“
Lehrerin Franzi beunruhigt das Mehr an Macht, das Regierungen seit dem Lockdown für sich beanspruchen, ebenso. „Wir können innerhalb weniger Stunden mit einer Unterschrift von einem Ministerpräsidenten, der nicht gewählt wurde, eingesperrt werden, ohne etwas verbrochen zu haben.“ Sie fragt sogar: „Haben wir aus der Geschichte nichts gelernt?“ Das Wort Holocaust will sie zwar nicht in den Mund nehmen, doch sie erzählt: „In den sozialen Medien kursieren Kommentare, die fordern, nicht-geimpfte Kinder abzuführen und ins Ghetto zu sperren.“
Franzis Geschichte ist ein klarer Fall von „Hate Speech“. Von „Hassrede“ spricht man, wenn Menschen abgewertet werden oder wenn zu Hass oder Gewalt gegen sie aufgerufen wird. Dieses Phänomen kommt vor allem im digitalen Raum vor und betrifft sowohl das Pro- wie auch das Anti-Impflager. Es macht einen konstruktiven Diskurs unmöglich und ist somit undemokratisch. Doch dürfen anonyme Haterinnen und Hater in sozialen Netzwerken nicht mit der politischen Führungskraft eines Landes verwechselt werden, denn solche respektlosen Kommentare haben nichts mit den Sicherheitsmaßnahmen der Regierung bezüglich der Kindergärten und Impfungen zu tun. Salopp ausgedrückt: Nur weil eine Minderheit im Internet Nazi-Parolen schreit, befindet sich unsere Demokratie noch lange nicht am Scheidepunkt zur Diktatur.
Auch der Umweltberater Reinhold aus Bozen will seine Freiheit. Er spricht sich für mehr Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger aus, für mehr direkte Demokratie. „Ich habe manchmal das Gefühl, wir leben im Mittelalter. Früher war es die Kirche, jetzt ist es der Markt, der uns falsche Informationen gibt.“ Auf meine Frage, warum der Markt eine Pandemie erfinden sollte, die ihm selbst am meisten schadet – Stichwort Wirtschaftskrise – weiß er keine Antwort. Er will sich aber keinesfalls als Verschwörungstheoretiker beschimpfen lassen, denn, so sagt er: Wer früher behauptete, die Erde sei eine Kugel, galt ebenfalls als Verschwörungstheoretiker. Dass sich letztere auf die faktenbasierte Wissenschaft bezogen, welche Impfgegnerinnen und -gegner heute in Frage stellen, lässt er nicht gelten, denn Impfungen seien auch nur ein Dogma. Weil die Medien für ihn nicht mehr frei sind, vertraut Reinhold lieber auf Youtube und sein Bauchgefühl: „Wir alle haben einen Hausverstand. Man muss kein Wissenschaftler sein, um Widersprüche zu erkennen.“
Saunameisterin Karin informiert sich wie viele auf der Demo bei „alternativen Medien“. Was diese vertrauenswürdiger mache, will ich wissen. „Sie machen keine Panik, sie wollen die Menschen nicht kleinhalten und zeigen mir, dass ich handeln kann,“ so die junge Mutter.
Auch Mitorganisator Klaus ist enttäuscht von den Massenmedien. Sie hätten die Panikwelle genutzt, um ihre Auflagenzahlen zu stärken. Dabei arbeitete Klaus früher selbst als Publizist im Radio: „Seit Covid wurden die Medien zu Hofberichterstattern. Sie transportieren kritiklos das weiter, was von den Regierungen kommt.“ Die sogenannte vierte Macht hätte sich selbst abgeschafft und müsse sich fragen, woher diese Anti-Medien-Stimmung kommt, anstatt die Bevölkerung als Verschwörungstheoretiker abzustempeln.
Ich kenne den Spruch „Bad News are Good News“, also das Medienprinzip, nach dem emotionale und schlechte Nachrichten mehr Leser anziehen. Ich selbst bemängle die Tendenz vieler Medien zu negativer Berichterstattung. Doch wer in Südtirol und Europa von kritiklosen Marionetten des Staates spricht – dessen Schlussfolgerung kann ich nicht nachvollziehen.
Pauschalisierungen und fadenscheinige Argumente fielen einige auf der Demo. Um sie nicht stehen zu lassen, habe ich mit Gegenfragen versucht, ihre Widersprüchlichkeiten aufzudecken – erfolglos. Doch was ich ebenfalls ungern stehen lasse, ist eine Pauschalisierung von der anderen Seite aus: Alle Kritiker des Lockdowns als Verschwörungtheoretiker oder Rechtsradikale abzustempeln, treibt beide Lager nur noch mehr auseinander und treibt besorgte Bürgerinnen und Bürger weiter in die Arme „alternativer Meinungsmacher“, die an den Haaren herbeigezogene Geschichten als „objektive Wahrheiten“ im Internet verbreiten. Ideologische Grabenkämpfe führen am Ende nur dazu, dass unsere Gemeinschaft in schwarz-weiß denkt und den Sinn für die Grautöne verliert. Und die sind essentiell in einer Demokratie.
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