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Barbara Plagg
Veröffentlicht
am 22.11.2023
LebenSternenkinder

Wenn Gott eine Frau wär’

Veröffentlicht
am 22.11.2023
Etwa jede sechste Schwangerschaft endet in einem Verlust. Trotz der weitverbreiteten Erfahrung von Kleinen oder Stillen Geburten bleibt dies ein Tabuthema. Das Buch „Sternenkinder“ öffnet behutsam die Tür zu dieser sensiblen Thematik. Das erste Kapitel.
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Unsere Autorin Barbara Plagg hat über Schwangerschaftsverluste ein Buch geschrieben und gemeinsam mit Jörg Oschmann herausgegeben. Neben unterschiedlichen Expert:innen kommen auch Sternenkindeltern zu Wort. Ein Buch, nicht nur für den Notfall, sondern auch für den Normalfall: Warum das Wissen rund um Schwangerschaftsverluste nicht nur für unmittelbar Betroffene, sondern für uns alle eine wichtige Gesundheitskompetenz ist, beschreibt die Autorin im ersten Kapitel, das wir hier auszugsweise vorstellen.

Bikini-Medizin und Yentl-Syndrom

1983 spielte Barbra Streisand ein Mädchen namens Yentl, das sich im Polen der Jahrhundertwende als Junge verkleidet und Anshel nennt, um zur Schule gehen zu dürfen. Der Film mit dem gleichnamigen Titel Yentl, bei dem Streisand außerdem Regie führte und dafür einen Golden Globe kassierte, fand 1991 Eingang in die medizinische Forschung – allerdings aus einem wenig preisverdächtigen Grund: Wolle man als Frau mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus ernst genommen werden, so sei den Frauen angeraten, sich als Mann zu verkleiden, schrieb die Kardiologin Dr. Bernadine Healy im renommierten New England Journal of Medicine. Im Gegensatz zu Frauen würden bei Männern nämlich erstens die Symptome schneller erkannt und zweitens gezielter behandelt.[1]

Dass die Symptome von Frauen häufig erstmal als „nur“ psychisch oder stress-assoziiert abgetan werden und sich die Diagnosefindung und damit oft auch der Therapiebeginn nach hinten verschiebt, ist inzwischen ein alter Hut in der Medizingeschichte und in der Wissenschaft hinlänglich beschrieben. Phänomen erkannt, Phänomen gebannt? Leider nein. Noch 2022 ergab eine Studie, dass Frauen mit einem Herzinfarkt – wo bekanntlich jede Minute zählt – in der Regel 11 Minuten länger auf eine:n Doktor:in in der Notaufnahme warten müssen als Männer und dass bei ihnen seltener die Herzstromkurve (med. Elektrokardiogramm, auch EKG) gemessen wird.[2] Noch schlechter sind Women of Color und Frauen mit Beeinträchtigungen dran: Bei ihnen „addieren“ sich die Diskriminierungserfahrungen, weil sich überlagernde Diskriminierungsmerkmale gegenseitig beeinflussen und verstärken können. Klischees können tödlich enden, wenn Frauen im Untersuchungszimmer weniger ernst genommen und trotz eindeutiger Symptome mit Beruhigungsmitteln und Floskeln abgewimmelt werden, weil selbst lebensbedrohliche Symptome zu psychischen gemacht werden.

Während aber in anderen Ländern wie Kanada, Schweden oder den USA Genderaspekte schon breiter in das Medizinstudium integriert sind, zeigen sich in Deutschland teils noch deutliche Defizite. Wie in dem Gutachten der Charité in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Ärztinnenbund von 2020 deutlich wurde, ist die Vermittlung von geschlechtersensiblem Wissen an 70% der medizinischen Fakultäten in Deutschland „als unzureichend zu bezeichnen“.

Deutscher Ärztinnenbund (2021)

Es ist ein historisches Problem: Der menschliche Prototyp ist männlich, wiegt 75 kg – und kann nicht schwanger werden. Frauen gehen deswegen häufig als „kleinere Männer mit Brüsten und Eierstöcken“ durch. Aber diese sogenannte „Bikini-Medizin“ greift zu kurz, denn Frauengesundheit ist sehr viel mehr als Brüste und Gebärmutter, weil auch die restlichen Organe z.T. anders ticken und auf Krankheiten und Therapien mit anderen Symptomen und Reaktionen als der männliche Körper antworten. Diese Gender-Lücke macht sich nicht nur mit Blick auf die Gesundheitsversorgung, sondern auch in der Gesundheitskompetenz der Allgemeinheit bemerkbar: Die Vorgänge im Frauenkörper sind für einen Großteil der Gesellschaft mysteriös. Weltweit belegen Studien, dass Menschen kaum Ahnung haben, was eigentlich bei einer Menstruation passiert, wann das mit dem Eisprung ist und wie häufig Kleine Geburten sind. Das führt letztlich dazu, dass nicht nur beim Herzinfarkt, sondern auch bei frauenspezifischen Themen wie Schwangerschaft und Geburt das Erleben der Frauen vonseiten der Gesellschaft, aber auch innerhalb von Gesundheitsstrukturen oft bagatellisiert wird. Nach Fehlgeburten greift bislang kein Mutterschutz (siehe Appendix, Seite XX) und der Kaiserschnitt ist wohl die einzige Operation, bei der sich Patientinnen schon Tage später nicht nur um sich selbst, sondern um jemand anders kümmern – und in den allermeisten Fällen ohne ambulant-häusliche Unterstützung.

Kürzlich wurde bekannt, dass es in Großbritannien für Medizinstudent:innen obligatorisch wird*, ein Modul zur Gesundheit von Frauen zu belegen. Wir haben alle gesagt: “Was, es war vorher nicht obligatorisch? Das war optional?“

Elinor Cleghorn (Autorin | Wissenschaftlerin; *ab 2024)

Obwohl wir alle aus einer Gebärmutter kommen und die Hälfte der Menschheit eine hat, ist Schwangerschaft und Geburt noch immer kein Kompetenzklassiker im gesellschaftlichen Gesundheitsrepertoire. Ich bin immer wieder erstaunt, dass meine Student:innen zwar problemlos eine DNA an der Tafel skizzieren können, aber auf die Frage, wie lange im Schnitt die Geburt des ersten Kindes dauert, vollkommen ratlos sind. Eine Ratlosigkeit, mit der man sich als Frau sehr einsam fühlen kann, spätestens wenn das Halb- und Unwissen in Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett für Unsicherheiten, Ängste und Schuldgefühle sorgt. Weil die Schwangerschaft und Geburt außerdem wie kaum ein anderes körperliches Geschehen seit Menschengedenken mit Geschichten, Göttern und Gerüchten aufgeladen ist, umschwirren zahlreiche Mythen und Märchen die weiblichen Reproduktionsorgane und das Gebären. Oft gut gemeint, aber meist schlecht getroffen, werden sie häufig von Frauen selbst weitergegeben und sorgen für Unsicherheit und Selbstzweifel: Warum trifft eine „Fehlgeburt“ nur mich? Hätte ich nicht joggen gehen dürfen? Warum trauere ich so sehr um ein „Windei“, wo das doch noch nicht mal ein „richtiges“ Kind war? Warum werde ich nicht schwanger, wenn das doch bei allen anderen problemlos zu klappen scheint?

Barbara Plagg & Jörg Oschmann

Das Allgemeinwissen rund um die menschliche Fortpflanzung ist bemerkenswert dünn gesät, baut zum großen Teil auf Zufallsinformationen, mitgehörten Gesprächen und halbgaren Fakten, die sich im Laufe eines jeden (Frauen)Lebens ansammeln. Weil medizinisches Halbwissen gefährlich sein kann und oft zu Schuldgefühlen führt, gibt das Buch eine Übersicht der wichtigsten medizinischen Informationen und Veränderungen rund um Schwangerschaft und Geburt. Ein besseres Verständnis von Schwangerschaft und Geburt zu bekommen ist niemals umsonst, denn mit diesem Thema werden wir zeitlebens immer Berührungspunkte haben: Als Mütter, als Väter, als Großeltern, als Freund:innen, als Arbeitgeber:in, als Bürokolleg:in, als Tante, als Onkel, als Nachbarin, als Menschen.


[1] Healy, Bernadine. “The yentl syndrome.” New England Journal of Medicine 325.4 (1991): 274-276.

[2] Banco, Darcy, et al. “Sex and Race Differences in the Evaluation and Treatment of Young Adults Presenting to the Emergency Department With Chest Pain.” Journal of the American Heart Association 11.10 (2022): e024199.

Weil im Akutfall, wenn die Eltern im Krankenhaus erfahren, dass ihr Kind nicht mehr lebt, niemand das Buch zur Hand haben wird, hat unsere Autorin eine kostenlose Broschüre mit Antworten auf die wichtigsten Fragen (Kürettage ja oder nein? Muss das Kind schnell raus? Wie und wo darf es bestattet werden? Was passiert bei einer Obduktion? Was kann in der Trauer helfen?) erstellt. Sie ist hier abrufbar: 

sternenkinder_broschuere_deutschHerunterladen

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