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Illustrations by Sarah
Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 09.03.2020
LebenGriechisches Flüchtlingsdrama

„Ein Versagen der EU“

Kristof Bender ist Vizechef des Thinktanks, der den EU-Flüchtlingsdeal mit der Türkei ausgearbeitet hat. Was jetzt an der türkisch-griechischen Grenze passiert, versetzt ihn in große Sorge.
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Im März 2016 unterzeichneten die EU und die Türkei das sogenannte Flüchtlingsabkommen. Es trug maßgeblich dazu bei, die Ankünfte von Flüchtlingen auf europäischem Boden drastisch zu senken. Ausgearbeitet wurde der historische Deal vom Think Tank „European Stability Initiative” (ESI). Das Wiener Büro der Denkfabrik leitet der Soziologe Kristof Bender. Als Treffpunkt für unser Interview schlägt er das Café Europa im 7. Wiener Gemeindebezirk vor. Erst vor Ort fällt mir die Ironie des Namens auf.

War das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und Erdogan ein guter Deal?
Der Deal war gut und schlecht. In den Monaten vor der EU-Türkei-Erklärung sind eine Million Menschen nach Europa gekommen. Es ging darum, wieder Kontrolle über die Außengrenzen zu erlangen, aber auf eine humane Art, im Einklang mit internationalen und europäischen Menschenrechtsstandards. Dies ist gelungen. Die Türkei verpflichtete sich, ab dem 20. März 2016 alle Flüchtenden, die auf den griechischen Inseln ankamen und die Griechenland zurückschicken wollte, zurückzunehmen. Die Zahl der Ankommenden auf den griechischen Inseln ist dadurch dramatisch gesunken, und damit auch die Zahl derer, die in der Ägäis ertrunken sind. Gut funktioniert hat auch die finanzielle Hilfe von sechs Milliarden Euro, die die EU für Flüchtlinge in der Türkei bereitgestellt hat. Es hat ihr Leben verbessert und ihnen bessere Integration in der Türkei ermöglicht.

Und was hat schlecht funktioniert?
Schlecht war, dass es Griechenland und die EU nicht geschafft haben, auf den griechischen Inseln für ankommende Asylwerber akzeptable Bedingungen zu schaffen und in einem absehbaren Zeitrahmen zu prüfen, wen man sicher in die Türkei zurückschicken kann. Das hat einerseits den Deal untergraben und andererseits bedeutet, dass zehntausende Menschen in inakzeptablen Bedingungen monatelang auf den Inseln festsaßen und immer noch dort festsitzen. In der Erklärung stand auch, dass EU-Staaten, sobald die Zahl der Grenzübertritte sinkt, eine größere Anzahl von Flüchtlingen direkt aus der Türkei aufnehmen würden. Diesem Versprechen ist die EU auch nur schlecht nachgekommen. In knapp vier Jahren haben EU-Staaten nur 25.000 Flüchtlinge direkt aus der Türkei aufgenommen.

Die Türkei hat über dreieinhalb Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Das sind drei Mal so viele wie alle EU-Länder zusammen.

Warum hat Erdogan jetzt die Grenzen geöffnet?
Erdogan hat immer wieder mehr Unterstützung von der EU gefordert. An der Türkei unter Erdogan kann man sehr viel kritisieren. Fakt ist aber, dass das Land über dreieinhalb Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat. Das sind drei Mal so viele wie alle EU-Länder zusammen. Jetzt sind weitere hunderttausende Menschen von Idlib in Syrien auf dem Weg in Richtung Türkei. Die Aufnahme dieser Menschen ist eine Herausforderung, welche die Türkei alleine nicht bewältigen kann. Die EU hat es in dieser Situation aber nicht geschafft, eine Verlängerung der mit Ende 2019 voll verplanten Hilfsgelder für die Flüchtlinge, die sich in der Türkei aufhalten, zu beschließen. Da ist Frustration auf der türkischen Seite verständlich.

“Ein Versagen der EU”: Soziologe Kristof Bender findet für die Frage, wer an der aktuellen Situation die Schuld trägt, klare Worte.

Ist die EU also Schuld am aktuellen Desaster?
Die Türkei hat ihren Teil des Deals erfüllt. Für die EU kann man das nicht sagen: Es wurden kaum Flüchtlinge aus der Türkei in die EU umgesiedelt. Es gab weder die in Aussicht gestellte Visa-Liberalisierungen für türkische Bürger, noch die Vertiefung der Zollunion oder die Beschleunigung der Beitrittsverhandlungen. Wenn hier jetzt also wer Grund hätte, mit dem Finger auf den anderen zu zeigen, dann wäre das die Türkei und nicht die EU. Die Mittel, mit denen Erdogan versucht, Forderungen nach weiterer Unterstützung durchzusetzen, indem er tausende Menschen im Winter vor geschlossene Grenzen schickt, sind freilich unmenschlich und klar zu verurteilen. Aber es ist völlig unverständlich, warum die EU nicht vor Monaten schon erklärt hat, dass sie die finanzielle Unterstützung für in der Türkei befindliche Flüchtlinge im selben Ausmaß weiterlaufen lassen wird. Das ist nicht nur im Interesse der Flüchtlinge und der Türkei, sondern auch der EU. Durch diese Programme sind 99,5 Prozent der sich letztes Jahr in der Türkei aufhaltenden syrischen Flüchtlinge auch in der Türkei geblieben.

Wie ist die humanitäre Lage jetzt an der griechischen Grenze? Es kursieren grauenerregende Berichte.
Die Situation ist furchtbar und gefährlich, weil beide Seiten derzeit weiter eskalieren, anstatt zu beruhigen, obwohl klar ist, dass es eine gute Lösung nur in Zusammenarbeit mit der Türkei geben kann. Alle anderen Szenarien sind schlecht – für Flüchtlinge, für die Türkei, aber auch für die EU. Wir haben alle die Bilder gesehen – von Tränengas, Gummigeschossen und Schlagstöcken bis hin zu Booten der griechischen Küstenwache, die kleine Schlauchboote beinahe überfahren. Auf den griechischen Inseln sind die Bedingungen schon jahrelang so, dass Europa sich dafür schämen muss. Jetzt sehen wir noch zunehmende Gewalt – gegen Flüchtlinge, gegen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, gegen Journalisten. Die Inseln sind ein Ort der Angst geworden.

Was kommt als nächstes: Aussetzung der Meinungsfreiheit? Aussetzung der Pressefreiheit?

Wie ist es möglich, dass Griechenland so hart vorgeht und Menschenrechte missachtet?
Was gerade passiert, ist zutiefst beunruhigend. Griechenland und Ungarn haben am 1. März international geltendes Asylrecht außer Kraft gesetzt und weigern sich, neue Asylanträge anzunehmen. Das ist ein dramatischer Schritt, den nicht einmal Trump an der mexikanischen Grenze geschafft hat. 2020 könnte als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem die Flüchtlingskonvention in Europa begraben wurde – dem Kontinent, für den sie 1951 geschaffen wurde. Das ist nicht nur schlecht für Menschen, die verfolgt werden oder vor Krieg flüchten müssen. Es ist auch für Europa eine Gefahr. Das Asylrecht ist ein Grundrecht, verankert in der UN-Flüchtlingskonvention und den Europäischen Verträgen. Das kann man nicht einfach aussetzen. Und wenn man es macht, begibt man sich auf einen sehr schlüpfrigen Pfad. Was kommt dann als nächstes: Aussetzung der Meinungsfreiheit? Aussetzung der Pressefreiheit? Wir rütteln hier an der Rechtsstaatlichkeit und somit an einem Grundpfeiler unseres demokratischen Europas.

Warum hat das keine Konsequenzen?
Griechenland bekommt viel Rückhalt aus der EU. Überall heißt es: „Solidarität mit Griechenland!“ oder „Hilfe für den Schutz der EU-Außengrenze!“ Kritische Stimmen, welche die Missachtung grundlegender Menschenrechte und der Flüchtlingskonvention beklagen, sind nur am Rande zu hören. Das ist sehr problematisch. Im Grunde gibt es nur zwei Möglichkeiten: eine humane Kontrolle der Außengrenze, was nur in Zusammenarbeit mit der Türkei gelingen kann. Oder der Versuch, das unter Ausschaltung von Menschen- und Asylrecht mit Gewalt zu regeln. So fordert das Viktor Orbán seit 2015 und so passiert es derzeit an der griechisch-türkischen Grenze. Wenn Europa bei der zweiten Option bleibt, hätte das katastrophale Folgen – ein Europa nach der Vorstellung von Orbàn, Salvini und Le Pen: eine lose Gruppe von nationalistischen Nationalstaaten, in denen Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte keine Werte mehr sind.

Wenn man nicht auf Menschen schießen will, kann man eine Grenze nur in Kooperation mit dem Nachbarstaat schützen.

Was muss die EU jetzt tun?
Wenn man nicht auf Menschen schießen will, kann man eine Grenze nur in Kooperation mit dem Nachbarstaat schützen, in diesem Fall mit der Türkei. Deshalb brauchen wir zuallererst dringend ein Angebot der EU an die Türkei für eine Neuauflage des Abkommens von 2016. Das ist die einzige Möglichkeit, diese Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. Dass nicht schon vorher auf eine Verlängerung des Abkommens hingearbeitet wurde, ist ein klares Versäumnis der EU. Zweitens wäre das ein guter Zeitpunkt, unser im EU-Türkei-Abkommen festgehaltenes Versprechen einzulösen, dass – wenn der Strom von Flüchtlingen aus der Türkei zurückgeht – EU-Staaten auf freiwilliger Basis größere Zahlen von Flüchtlingen direkt aus der Türkei aufnehmen. Drittens sollte eine Koalition von willigen EU-Staaten Griechenland helfen, die Situation auf den griechischen Inseln zu verbessern. Man sollte rasche, aber faire Verfahren etablieren und – wenn mehr Menschen, die keinen Schutz in der EU brauchen, wieder in die Türkei zurückgeschickt werden können – auch Flüchtlinge aus Griechenland, wie schon 2016 und 2017, direkt aufnehmen. Alleinreisende Minderjährige und alleinreisende Frauen mit Kindern sollten am besten gleich aufgenommen werden. Viertens braucht es eine internationale Initiative für die Flüchtlinge aus Idlib in Syrien. Es wäre absurd zu erwarten, dass die Türkei mit dieser neuen Herausforderung alleine zurechtkommt.

Nun sind der Meldung, dass die Grenzen zur EU offen sind, sofort tausende Menschen gefolgt und in Richtung Griechenland gestürmt. Ist das nicht ein Zeichen, dass es den Flüchtlingen in der Türkei doch nicht so gut geht, wie Sie es darstellen?
Zum einen sind es nicht so viele. Die meisten Medien sprechen von 13.000 bis 15.000. Das ist ein kleiner Bruchteil von den 3,6 Millionen Flüchtlingen, die in der Türkei leben. Zudem wurden sie von offizieller Seite dazu aufgefordert, sich auf den Weg zu machen, und sind teils mit Bussen zur Grenze gebracht worden. Zum anderen hat das Unterstützungsprogramm der EU für Flüchtlinge in der Türkei wichtige Schritte zur Integration ermöglicht. 685.000 Flüchtlingskinder besuchen türkische Schulen. 1,7 Millionen syrische Flüchtlinge bekommen eine monatliche Sozialzahlung (in der Höhe von etwa 18 Euro, Anm.). Alle syrischen Flüchtlinge haben Zugang zum türkischen Gesundheitssystem. Viele haben einen Job. Es geht ihnen besser als in Griechenland.

Auf einer Protestkundgebung afghanischer Flüchtlinge in Hamburg am 3. März erklärte der Sprecher, dass all diese Menschen nicht nach Europa kommen würden, wenn wir endlich aufhören würden, Waffen in ihre Herkunftsländer zu exportieren, ihre Rohstoffe auszubeuten und uns an destabilisierenden militärischen Eingriffen zu beteiligen. Ist da etwas dran?
Die Kriege in Afghanistan und im Irak und was darauf folgte, haben zweifelsohne schreckliches Leid und damit große Flüchtlingsströme verursacht. Es gibt gute Gründe, diesen militärischen Interventionen sehr kritisch gegenüberzustehen. Die Frage, was für eine Verantwortung Europa hier trägt und wie wir ihr gerecht werden können, würde sicherlich mehr Aufmerksamkeit verdienen.

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