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Illustrations by Sarah
Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 14.10.2017
LebenKommentar zur Flüchtlingspolitik

Und verantwortlich ist niemand?

Nach Adans Tod blickt die Welt irritiert nach Südtirol: eine Wohlstandsprovinz, die Kinder der Straße ausliefert.
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Es gibt bestimmte Debatten, die nie enden. Selbst dann, wenn ein großer Teil der Bevölkerung – auch jener, der politisch interessiert ist – sie eigentlich schon lange satt hat. Wie sich gezeigt hat, konnte nicht einmal der Tod eines Kindes dazu beitragen, ein paar Augenblicke des Schweigens oder wenigstens etwas Anstand ins Kreuzfeuer der Meinungen zu bringen. Im Gegenteil. Nach dem Tod des 13-jährigen Kurdenjungen Adan, dessen Familie nach der Ablehnung ihres Asylantrags in Schweden nach Südtirol gekommen war, flammten viele müßige und völlig überflüssige Diskussionen wieder auf. Flüchtlinge aufnehmen, ja oder nein? Sind wir Südtiroler kaltherzige, nur aufs Geld bedachte Unmenschen? Und was ist mit den selbstgefälligen Heuchlern, die „Refugees welcome!“ rufen, während ihre eigene Schlafcouch im Wohnzimmer immer noch unberührt ist?

Alle diese Fragen haben nichts mit dem zu tun, was eigentlich geschehen ist. Ob man für oder gegen Einwanderung ist, ob Südtirol mehr Menschen aufnehmen soll oder nicht, ist zumindest in diesem Fall völlig irrelevant. Das wurde oft genug diskutiert und fast jeder hat dazu eine Meinung. Ich auch. Aber die Tragödie, die sich abgespielt hat, liegt weit entfernt von der Frage, ob Adans Familie nun asylberechtigt ist oder nicht. Ohne weiteres kann man Schwedens Entscheidung, die Familie abzuschieben, auch unterstützen. Der entscheidende Punkt ist, dass in Ländern wie Schweden oder Deutschland niemand – vor allem nicht ein Kind mit einer akuten Behinderung – auf der Straße landet. Ob asylberechtigt oder nicht: Bis zum Zeitpunkt der Abschiebung bleiben die fundamentalen Menschenrechte jeder Person dort bewahrt. Warum also in Italien, besonders in Südtirol, nicht? Das ist die zentrale Frage. Und damit verbunden auch die Frage, wer dafür verantwortlich ist.

Das Rundschreiben

Der Grund, warum es hier anders läuft, ist genauso banal wie ernüchternd. Abschiebungen kosten. Jemanden auf die Straße zu setzen und zu hoffen, dass ihn die menschenverachtende Behandlung irgendwann in ein anderes Land oder wenigstens in eine andere Stadt treibt, kommt eben billiger. Anschließend sorgen sich die politischen Amtsträger um den „decoro“, um die Ansehnlichkeit der Stadt, die sie zuvor eigenhändig mit Obdachlosen vollgepackt haben. Wenn diese Menschen dann in der Kälte der Oktobernächte nach einem geschützten Unterschlupf suchen und ihre Sachen herumliegen lassen, ist das selbstverständlich nicht die beste Werbung für unsere Törggelen-Touristen. Also macht man es den Obdachlosen mit dem Vorwand des „decoro“ noch eine Stufe schwerer. In der Stadt Bozen werden zum Beispiel regelmäßig die Biwaks der obdachlosen Menschen geräumt, ihre Decken und Kleider entsorgt.

Die gleiche Behandlung wäre nun auch für Adan und seine Familie vorgesehen gewesen. Möglich macht es ein Rundschreiben des Amtsdirektors für Soziales Luca Critelli. Es ist ein sehr asoziales Rundschreiben, das keinerlei rechtliche Grundlage hat und gegen eine ganze Reihe von Gesetzen und menschlichen Grundrechten verstößt. Es sieht unter anderem vor, dass diejenigen Asylbewerber, deren Antrag in einem anderen EU-Staat abgelehnt wurde, in Südtirol keinen Anspruch auf Unterkunft und sozialen Beistand haben. Ob sie minderjährig, krank oder schutzbedürftig sind, spielt keine Rolle.

Landesrätin Stocker mit Amtsdirektor Critelli

Bis zum jetzigen Zeitpunkt hat niemand das Rundschreiben revidiert oder zurückgenommen. Niemand ist zurückgetreten. Der Fall Adan zieht immer weitere Kreise der Empörung. Die britische Tageszeitung The Guardian hat über die Südtiroler Schande berichtet und fragt sich, wie in der wohlhabenden Provinz so etwas geschehen kann. Auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen kritisierte die Zustände in Bozen scharf. Und das Hohe Kommissariat für Flüchtlinge der UN hat sich direkt an die Landesregierung gewandt und fordert, dass das illegale Rundschreiben unverzüglich entsorgt wird.

Passiert ist trotz des internationalen Drucks nichts. Die zuständige Landesrätin Martha Stocker reagierte lieber so, wie jeder reagieren würde, der von Verantwortung nichts wissen will: Sie führte alles auf ein Missverständnis zurück. Auf „Kommunikationsprobleme“ zwischen den verschiedenen zuständigen Sozialdiensten und den Freiwilligen Helfern. Dass sogar das Bozner Krankenhaus die Sozialdienste und das Land über Adans kritischen Gesundheitszustand informiert und um eine angemessene Unterbringung gebeten hatte, verschweigt Stocker.

Die zynische Strategie der Landes- und Stadtpolitik ist übrigens aufgegangen. Die kurdische Familie, die ihren Sohn verloren hat, wurde inzwischen in Trient aufgenommen. Auf Südtirols und Bozens Kassen lastet also wieder eine Handvoll Asylbewerber weniger. Der Preis dafür war ein junges Menschenleben.

Menschen von der Straße zu holen ist nicht eine Aufgabe von Privatpersonen, sondern der öffentlichen Institutionen.

Doch die Unfähigkeit zur Selbstkritik beschränkt sich keineswegs auf Landesrätin Stocker. Viele schweigen, so manche verteidigen sogar den aktuellen Umgang mit Flüchtlingen. In den Kommentarspalten der Nachrichtenportale und in den sozialen Medien war viel Geschmackloses zu lesen. Es gab Leute, die den Zynismus aufbrachten, die Schuld für Adans Tod seinem eigenen Vater in die Schuhe zu schieben. Unverantwortlich sei er, weil er nach der Ablehnung in Schweden noch die Unverschämtheit hatte, in einem anderen EU-Land um Asyl anzufragen (anstatt nach Nordirak zurückzukehren, wo der Islamische Staat Adans Familie vertrieben und eine Autobombe Adans fünfjährige Schwester in den Tod gerissen hatte).

Wird Südtirols Umgang mit Migranten kritisiert, fühlen sich andere wiederum gleich persönlich angegriffen. Die Überempfindlichen reagieren mit der üblichen Anklage: Und wann hast du jemanden aufgenommen? Ich bin es inzwischen zwar leid geworden, jedes Mal mein Engagement breitzutreten, doch den Vorwurf der Heuchelei hört man eben nicht gern. Wer diese Vorwürfe vorbringt und in seinem Denken nicht völlig beschränkt ist, der weiß allerdings genau, dass es nicht Aufgabe von Privatpersonen ist, Menschen von der Straße zu holen, sondern Aufgabe der öffentlichen Institutionen. Genauso wie man nicht selbst Löcher im Asphalt stopft, um überhaupt fordern zu dürfen, dass der Staat die Straßen sanieren soll.

Hier in Südtirol sind die Straßen meist einwandfrei. Es gibt Institutionen und Organisationen für alles Mögliche. Sogar der HGV hat seine eigene Jugendorganisation, wie ich erst kürzlich mit Staunen festgestellt habe. Aber dass Minderjährige, die nicht das Glück hatten, hier geboren zu sein, nicht unter der Brücke schlafen müssen, das kriegt das Land nicht auf die Reihe. Das will man nicht auf die Reihe kriegen.

Die Frage nach der Verantwortung, die oben gestellt wurde, ist inzwischen wohl beantwortet.

Liebe Frau Stocker, Herr Landeshauptmann Kompatscher, Herr Bürgermeister Caramaschi und Co., ihr habt in diesen Tagen noch die Möglichkeit zu zeigen, ob das alles so gewollt ist oder ob eure Worte des Beileids für Adans Familie aufrichtig waren. Ihr habt es in der Hand, wenigstens jetzt etwas zu ändern und zu verhindern, dass es weitere Adans geben muss.

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