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Illustrations by Sarah
Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 01.11.2020
LebenErinnerung

Der Trost der Toten

Unsere verstorbenen Großeltern haben uns heute mehr zu erzählen als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte. Hören wir hin?
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An dem Tag, als Oma bestattet wurde, war ich nicht da. Ich musste absagen. Zwar nicht „aus terminlichen Gründen“ – ein wunderbar moderner Ausdruck, den meine Großmutter nie verwendet hätte, nicht einmal in einer paraphrasierten Dialekt-Version – aber schlimm genug, ich war gerade bei der Familie meiner Freundin zu Besuch, 3.700 Kilometer entfernt, im Iran. Zum Begräbnis in Südtirol hätte ich es nicht rechtzeitig geschafft. Ich suchte also eine der vielen armenischen Kirchen in der Stadt auf und versuchte, in dieser christlichen Umgebung eine Schwingung aufzufangen, die mich meiner eben verstorbenen Großmutter und fleißigen Kirchengängerin näherbringen würde.

So richtig wollte das nicht klappen. Kirche hin oder her, ich hatte den Eindruck, dass der Gott der alpinen Weiden und Bergwälder ein ganz anderer war als das Wesen, zu dem man hier in der Wüste betete – ob man es nun Jahwe, Allah oder Heilige Dreifaltigkeit nennt. Um das schlechte Gewissen darüber, dass ich von der Verstorbenen keinen angemessenen Abschied nehmen konnte, wenigstens ein bisschen loszuwerden, schrieb ich einen Text, den meine Mutter beim Bestattungsgottesdienst vorlesen konnte. Aber sie warnte mich: „Deine Oma wollte nicht, dass wir zu viel aus ihrem Lebenslauf erzählen. Das geht niemanden etwas an, hat sie gesagt.“

Ich konzentrierte mich deshalb auf ihre Persönlichkeit, auf die Glaubenssätze, nach denen sie ihr Leben ausgerichtet hatte, und vor allem auf die Sprüche, mit denen sie den hektischen Alltag ihrer Kinder und Enkelkinder immer zynisch und treffsicher kommentiert hatte. Mit solchen griffbereiten Sprüchen hätte meine Oma eine ganze Vorratskammer füllen können. Und sie bediente sich regelmäßig daraus. Es fiel mir also leicht, mit ihren eigenen Worten ein präzises, lebendiges Bild von ihr zu zeichnen.

„Die Zeit vergeat, die Liab vergisst man und wos frisst man.“

Jetzt, etwas mehr als zwei Jahre später, habe ich diesen Text wieder ausgegraben. Beim ersten Durchlesen war ich schockiert. Vor mir stand ein Text, den ich heute nicht mehr schreiben hätte können. Nur zwei Jahre waren vergangen, aber ich erinnerte mich nur noch an einen Bruchteil der Zitate und kleinen Schrullen, die ich damals im Porträt von Oma festgehalten hatte. Es fühlte sich an wie bei einem alten Klassentreffen: Da ist dieser eine Kamerad, der sich mit unfehlbarem Gedächtnis an jedes bedeutende Ereignis erinnert und es in pointierten Anekdoten wiederbelebt, während man selbst nur zuhört und nickt, sich jede Szene eher neu vorstellt als abruft, und denkt: Ja, ja, so war es, so muss es gewesen sein.

So saß ich jetzt auch vor diesem Text und dachte wieder an die Person, die darin beschrieben war. Ich liebte meine Großmutter. Und doch beschlich mich jetzt ein Verdacht. Hatte ich sie schon vergessen?

Bäuerliche Grundwerte: Meine Großeltern mit meiner Mutter und meinem Onkel Anfang der 60er Jahre.

Eigentlich denke ich gerne an meine verstorbenen Großeltern. Auch wenn ihr Leben in Umständen und Leitsätzen mit dem Leben ihrer Enkel völlig unvereinbar war. Wären meine Großeltern meine Eltern gewesen, hätte es deshalb viel Streit, Schuldzuweisungen und gegenseitiges Unverständnis gegeben. Weil die Kinder – also meine Eltern – das aber schon ausgesühnt hatten, trat die Verbissenheit beim Verhältnis zu den Enkelkindern zurück und ließ Platz für Neugierde, Anerkennung des Andersseins und gegenseitiges Zuhören.

Das ist ein Generationending, das sich in der Menschheitsgeschichte seit Jahrtausenden wiederholt. Als Opa und Oma macht man die eigene Sache meistens besser, als man sie zuvor als Papa und Mama gemacht hat.

Was jetzt anders ist, sind die gewaltigen biographischen Unterschiede zwischen den Generationen. Die Art und Weise, wie man aufwächst, wie man denkt und arbeitet, wie man liebt und seine Freizeit verbringt, hat sich innerhalb dreier Generationen in der Menschheitsgeschichte noch nie so krass verändert wie in den letzten 70 Jahren. Der Hunger und die Knappheit, mit denen meine Großeltern aufwuchsen, sind für mich heute nicht mehr vorstellbar. Genauso fremd sind mir die Zielstrebigkeit und der Glaube an eine universelle Ordnung, die ihr Handeln gekennzeichnet haben.

„Wia i augwochsen bin, wia meine Kinder augwochsen sein und wia es iatz auwochsts: wos werd’n do no kemmen?“

Dass diese gewaltigen Unterschiede zwischen den Generationen einmalig in der Menschheitsgeschichte sind, ist mir erst seit Kurzem bewusst. Sie waren aber immer schon spürbar. Mit neun Jahren, als ich tagelang und auch am Sonntag an einer Baumhütte herumhämmerte, bückte sich Oma aus dem Küchenfenster und rief: „Am Tag des Herrn arbeitet man nicht!“. Mit 20, nach einem Jahr Studium, sagte sie: „Jetzt kannst du auch wieder heimkommen und arbeiten. Oder bist du noch nicht gescheit genug?“. Und mit 24, als ich ihr erzählte, wie ich meine heutige Freundin auf einer Reise im Iran kennengelernt hatte, fragte Oma: „Wo kommt sie nochmal her? Aus Meran?“

Im Vergleich zum geordneten Leben meiner Großeltern ist mein eigenes aus den Fugen geraten. Aber der Zerfall hat schon in der Generation meiner Eltern angefangen. Für Oma war das bis zuletzt eine bittere Pille: Zwei ihrer Kinder haben Familien gegründet ohne zu heiraten, die anderen beiden, die geheiratet haben, sind jetzt geschieden. Diese kuriose Tatsache hat sie immer wieder erwähnt, nicht als Anklage, sondern eher als ultimativen Beweis dafür, dass sich die Welt nicht mehr nach den Leitsätzen dreht, die sie als Kind während der Kanzelpredigt erstmals vernommen und die sie lange Zeit für unerschütterliche Wahrheiten gehalten hatte.

Ob sie den Wandel gut oder schlecht findet, habe ich sie dann gefragt. Zum Verfall traditioneller Werte gehörte nämlich auch ein beispielloser Wirtschaftsboom, von dem sie, die es von einer Bauernmagd zur Haus- und Landeigentümerin gebracht hatte, selbst profitiert hat. Eine klare Antwort ist sie mir bis heute schuldig geblieben. Was letzten Endes besser sei, das wisse sie nicht.

„In der Einteilung bleiben.“

Ich will nichts romantisieren. Die Antworten, die meine Großeltern auf die großen Fragen des Lebens gaben, finde ich falsch. Die Maxime, über unangenehme Fragen und leidvolle Erinnerungen nicht zu lange nachzudenken, halte ich heute für feige. Die christliche Demut, die ihnen wichtig war, lehne ich als Instrument zur Aufrechterhaltung einer jahrhundertealten Unterdrückung der Armen und Schwachen ab.

Manchmal werden die großen Fragen aber so erdrückend, dass einengende Antworten attraktiver wirken als offene Fragenzeichen. Freiheit wird dann zur Orientierungslosigkeit, YOLO wird zu FOMO. Und das Recht auf Selbstverwirklichung wird zum tyrannischen Diktat.

In solchen Augenblicken kann die Erinnerung an einen Großvater, der nach dem Rosenkranzbeten immer zur selben Uhrzeit am Küchentisch Brot, Käse und Speck zur Marende aß, tröstend sein: „Um 12 wird gegessen, ob gekocht ist oder nicht“. Diese bäuerlichen Leitsätze lassen keinen Zweifel zu, sie sind unverrückbar. „In der Einteilung bleiben“, nannte es meine Großmutter. Das bedeutete, nach bestimmten Maßstäben zu leben und darin konsequent zu sein.

Als Zweifler habe ich von ihr gelernt, dass es manchmal auch gut sein kann, nicht alles infrage zu stellen, sondern sich eine kleine Ordnung zu schaffen, einen Grundstock an Prinzipien und an persönlichen Glaubenssätzen, die dem neuen Tag Orientierung und der Beliebigkeit der Lebensentwürfe eine Richtung geben. Daraus kommt eine eigenartige Kraft, die dem Menschen Charisma verleiht und ihn durchs Leben trägt, bis zu dessen unvermeidlichem Ende.

Der Tod hat meiner Großmutter nie Angst gemacht. Sie nahm ihn an wie jemand, der rückblickend im Leben alles noch einmal genauso gemacht hätte. „Alle müssen sterben, vielleicht auch ich“, sagte sie gerne. Ich freue mich heute, dass sie es so gut gemeistert hat, und nehme mir vor, mich öfter an sie und meine anderen Toten zu erinnern, an ihre Fehler und an ihre Erfolge.

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