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Illustrations by Sarah
Barbara Plagg
Veröffentlicht
am 23.03.2020
LebenKommentar zur Corona-Prävention

#aushalten

Die Zeit in Quarantäne gleicht einem Marathon. Wir alle müssen vieles aushalten, doch nicht jeder hält sich an die Maßnahmen. Warum?
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Na, stehen Sie noch voller Startschuss-Adrenalin mit dem Fernglas am Fenster und brüllen zu Nachbars Neffen runter (der muss doch nicht schon wieder einkaufen!) oder sind Sie schon in der Ernüchterungsphase und streiten sich mit dem/der Partner*in? Wer schon immer mal wissen wollte, wie sich ein Marathon so läuft, der darf das jetzt an sich selbst ausprobieren – paradoxerweise ohne einen Schritt zu machen. Denn eines ist sicher: Der Kampf mit dem Virus wird kein Sprint, sondern ein Marathon. An dem wir jetzt alle, untrainiert und ungefragt, teilnehmen müssen. Wobei sich mit der Teilnehmer*innenzahl der Staat und die Socialmedia-Community bisher unzufrieden zeigten. Ständig musste man lesen und hören, die Leute (auch „Idioten“, „Trottel“, „coglioni“, „Verbrecher“ und ähnliches genannt) hätten es „wohl noch immer nicht verstanden.“

Lassen Sie mich eines vorweg nehmen – wer glaubt, Nachbars Neffe hat es „noch immer nicht begriffen“, hat eines nicht begriffen: Der Verstand ist ein guter Diener, aber ein schlechter Herr. Sprich: Wissen tut’s inzwischen wirklich jede*r, aber Ratio reicht eben nicht. Wovon hängt also die Bereitschaft zur Durchführung krankheitspräventiver Maßnahmen ab?

Warum es manche nicht begreifen

In der Präventivmedizin hat man zwei komplizierte Wörter – „susceptibility“ und „severity“ – für zwei einfache Fragen: Wie gefährlich finden Sie so insgesamt eine bestimmte Erkrankung (severity) und wie hoch schätzen Sie die eigene Krankheitsanfälligkeit dafür (susceptibility) ein? Ist beides gering, ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand quasi grundlos sein Alltagsverhalten einfach ändert, auch gering. Ist beides hoch, hält er/ sie sich eher daran. Beides ist in der aktuellen Notlage bei einem großen Teil der Bevölkerung tatsächlich noch immer nicht sehr hoch, denn viele sind jung und viele ohne ernste Vorerkrankungen. Was nun nicht heißt, dass man nicht trotzdem sterben könnte, was aber eben die Wahrnehmung der Gefahr beeinflusst.

Die Gretchenfrage ist weniger, wie wir jetzt #zomholten, sondern wie lange wir das #aushalten.

In der individuellen Präventionsrechnung kommt noch etwas dazu: Die Bilanzierung des Nutzens gegenüber den möglichen Kosten. Fällt diese Rechnung zugunsten eines hohen ökonomischen und sozialen Schadens aus, bleibt dem Menschen wenig Motivation und dem Staat genau eine Wahl: Sanktionen einführen und autoritär werden. Das klappt ja schon mal ganz gut, aber eventuell nicht sehr lange. Vor allem dann nicht, wenn die Maßnahmen subjektiv empfunden nicht unmittelbar den gewünschten Erfolg zeigen. Und deswegen ist – wenngleich das eine das andere bedingt – die Gretchenfrage weniger, wie wir jetzt #zomholten, sondern wie lange wir das #aushalten.

Nun gibt es in der Prävention medizinethisch viele Fragen, die man sich stellen muss und nicht immer eindeutig beantworten kann. Muss man einer Schwangeren die Kippe aus der Hand schlagen oder ist das ihre freie Entscheidung? Soll man ungeimpfte Kinder aus dem Kindergarten ausschließen? Muss ich mich anschnallen oder darf ich bei nächster Gelegenheit freiwillig und mündig durch die Windschutzscheibe fliegen? In der Regel entscheidet der Staat – und zwar nicht aus Nächstenliebe, sondern aus Wirtschaftlichkeit: Gelähmt oder tot macht man sowohl seiner Familie als auch dem Staat mehr Sorgen als gesund und arbeitsfähig.

Risikogruppe sind wir alle

Die akute Frage, ob Gruppen mit einem geringen Risiko für Hochrisikogruppen auf ihr Recht auf Freiheit, Bildung und Bewegung verzichten sollen, hat der Staat im Interesse aller mit einem eindeutigen Ja beantwortet. Müssen sie. Denn wir müssen uns Zeit kaufen, um eine punktuelle Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Rücksichtnahme auf Risikogruppen und häusliche Isolation ist der einzige Weg aus einer Akutsituation, in der alle anderen Präventionsmöglichkeiten entweder verpeilt oder schon ausgeschöpft worden sind.

Unser aller Wohl fußt auf dem Wohle der Gemeinschaft, deren Teil wir sind. Und die wiederum lebt von der Solidarität ihrer Mitglieder. Die, die können, nehmen Rücksicht auf die, die geschützt werden müssen. Das sollte im Übrigen als Selbstverständlichkeit über die Akutsituation hinaus gelten. Oder anders gesagt: Die, die jetzt rigoros von Jugendlichen die urplötzliche Aufgabe demokratischer Werte und Freiheiten fordern und sie mit Fotos erpressen, dürfen dann auch für die Jüngsten mindestens ebenso kategorisch auf ihre bequemen SUVs, die Langstreckenflüge und das viele Fleisch verzichten (ein vergleichsweise ja eher bescheidenes Zugeständnis an die Gesunderhaltung anderer). Risikogruppe ist eben ausschlaggebend für Risikoempfinden – und damit für das Gesundheitsverhalten. Und so geht #zomholten wirklich: Nicht nur in der akuten Krise, und wenn es grad einer Risikogruppe an den Kragen geht, sondern ständig. Denn eines dürfen wir nicht vergessen: Risikogruppe sind wir alle. Für irgendwas.

Man sieht die Särge in Bergamo zwar, aber man glaubt, selbst nie drinnen liegen zu werden.

Wenn Sie jetzt denken, man muss den Leuten einfach konstant ordentlich Angst einjagen, dann laufen die den Marathon zur Not auch barfuss, seien Sie versichert: Angst ist in der Not tatsächlich ein schlechter Ratgeber und in der Prävention eine eher zweifelhafte Strategie. Angst löst Ablehnung aus, weil der Mensch glaubt, dass es ihn selbst nie treffen wird. Fragen Sie mal eine*n Raucher*in, was die unschönen Bildchen auf der Packung bei ihm/ ihr bewirken. Sprich: Man sieht die Särge in Bergamo zwar, aber man glaubt, selbst nie drinnen liegen zu werden. Dabei kann man sehr wohl wegen eines Virus oder etwas anderem drinnen liegen – die Möglichkeiten der Endlichkeit sind bekanntlich unendlich. Außerdem fährt Angst, phylogenetisch zum Überleben bestimmt, als Stressreaktion das halbe Hirn und die Verdauung runter und schüttet Kortisol aus, das wiederum die Immunabwehr schwächt – und ist deshalb zwar für einen Sprint, nicht aber für den aktuellen Marathon die geeignete Strategie. Denn für den brauchen Sie alles: Ihre Geisteskraft, eine gute Verdauung und ein zuverlässiges Immunsystem.

Das Virus ist klassenlos

Wir kommen aber nur dann über die Ziellinie, wenn keiner aussteigt. Die ersten, die straucheln werden, sind die Marginalisierten, die gering oder prekär Beschäftigten, die Badanti, die Saisonsarbeiter*innen, die Alleinerziehenden, die plötzlich Arbeitslosen und die Schwarzarbeiter*innen. Krisen entwickeln sich gern zur Klimax der Klassenunterschiede und wenn wir Pech haben, haben wir diesmal alle gemeinsam Pech – und nicht nur die üblichen Verlierer*innen, die sowieso schon eine geringere Lebenserwartung, schlechteren Zugang zu medizinischer Versorgung, ein schlechteres Immunsystem, eine suboptimale Wohnsituation und ungesundes Essen haben. Oder anders gesagt: Jene, die privilegiert genug sind, die Zeit der entschlackenden Entschleunigung (Konsumzwang mittelfristig auf Amazon umgestellt) auf ihrer Dachterrasse zu erleben, sind darauf angewiesen, dass jene, die sich in ihrer Zweiraumwohnung ohne Balkon grad fragen, wie sie die nächste Miete bezahlen sollen, jetzt mitspielen. Denn das Virus ist im Unterschied zu sehr vielen anderen Erkrankungen klassenlos und die häusliche Isolation funktioniert ja nur dann, wenn alle „mitlaufen“ – auch die, die man sonst so gern auf der Ersatzbank vergisst.

Mit Aneurysmen und einer Depression belasten Sie das Gesundheitssystem mehr als mit einem Alleingang um den Block.

Schauen Sie auf sich! So schwierig es auch mit den existenziellen Gedanken im Hintergrund werden kann – bewältigen Sie wie beim Marathon einen Schritt nach dem anderen. Einen Tag nach dem anderen. Und wenn es Sie stark verunsichert, dann schauen Sie sich bitte nicht täglich die Statistiken an. Sie fänden es ja auch sonst morbide, sich täglich zum Abendessen die Mortalitätsraten zu Gemüte zu führen (und glauben Sie mir, gestorben wird täglich). Ganz abgesehen davon erfüllt die Berichterstattung in keiner Weise die Kriterien einer evidenzbasierten Risikokommunikation. Holen Sie in Ihrer Quarantäne ab und zu ein paar gute Platten oder die Yogamatte raus, damit Sie ein bisschen Quarantänze oder Quarantraining machen können, bevor es zu einem Quarantrauma kommt. Behalten Sie ihre Mannschaft im Auge und umarmen Sie ab und zu Ihre Kinder und Ihre*n Partner*in, damit es nicht auch noch zu einer Quarantrennung kommt. Und wenn Sie als Hypertoniepatient*in oder als Alleinerziehende mit Ihren Kindern auf 60 balkonlosen Quadratmetern wohnen, dann gehen Sie bitte immer mal wieder eine Runde ums Haus und tun Sie was für Ihren blassen Quaranteint – denn mit Aneurysmen und einer Depression belasten sie das Gesundheitssystem mehr als mit einem Alleingang um den Block. Vor allem aber werden Sie den Marathon nur so durchhalten.

Eine Frage der Zeit

Die Maßnahmen werden mit der Zeit justiert werden, aber im Moment müssen wir tun, was wir tun müssen – und wir tun’s gar nicht so schlecht, wie viele kreative Anpassungsleistungen und solidarische Initiativen aufzeigen. Und erst dann, wenn wir auch mit diesem Virus wie mit vielen anderen zu leben gelernt haben, wenn die Toten begraben und die Triagen abgebaut sind, werden wir wissen, welche Maßnahmen richtig, falsch oder zu spät waren.

Man wird sich dann die unangenehmen Fragen stellen und über die Kollateralschäden des gesellschaftlichen Stillstandes reden müssen. Man wird darüber diskutieren müssen, warum uns nur dieser letzte Ausweg der häuslichen Isolation blieb und ob nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vorher alle Mittel ausgeschöpft worden sind. Man wird über die psychischen Belastungen einer partiellen Isolation, über häusliche Gewaltdelikte, existenzielle Nöte, wirtschaftliche Havarien, chronischen Stress und geschwächte Immunabwehr der Isolierten reden müssen. Man wird darüber reden müssen, ob man die Infizierten tatsächlich alleine hatte sterben lassen müssen. Und man wird sich fragen müssen, warum man jahrelang in Fussball und nicht in Forschung oder Public Health investierte.

Die letzte Phase im Marathon nennt man übrigens „Wandel“: Ob wir in der globalisierten Wachstumsmaschine den Warnschuss tatsächlich gehört haben und eine einzelsträngige RNA der Gesellschaft jene sozialökologische Transformation aufzwingt, die bisher unmöglich schien, wage ich nicht zu prophezeien. Nur das eine kann ich Ihnen mit Sicherheit versprechen: Die Zielgerade wird kommen, denn den Kampf gegen das Virus werden wir gewinnen. Es ist nur eine Frage der Zeit.

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