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Illustrations by Sarah
Wolfgang Mayr
Veröffentlicht
am 04.06.2021
LebenThe Others

„Tötet den Indianer, rettet den Menschen“

Das liberale Kanada setzte auf eine radikale Assimilierung der indigenen Völker. Beginn unserer neuen Reihe "The Others".
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Assimilierung oder Tod: Diese Politik wurde vor allem an indigenen Kindern durchgeführt – ausgerechnet durch das sonst so liberale Kanada.

Ein Leichenfund als Beleg für einen kulturellen Völkermord. In der Nähe der Kleinstadt Kamloops in der Provinz British Columbia wurden auf dem Gelände eines ehemaligen katholischen Internats die Leichen von mehr als 200 Kindern und Jugendlichen gefunden. Offensichtlich haben die katholischen Ordensleute den ersten Teil des Spruchs „Tötet den Indianer, rettet den Menschen“ ernst genommen.

Einige der toten Kinder sind erst drei Jahre alt gewesen, sagte Rosanne Casimir von der indigenen Gemeinschaft Tk’emlups te Secwepemc. Mehr als 100 Jahre lang wurden in diesem Umerziehungsheim indigene Kinder zwangsweise in die Gesellschaft der europäischen Immigranten integriert.

In diesem Internat durften die Kinder und Jugendlichen ihre Muttersprachen nicht sprechen, sie waren verboten, und sie mussten zum Christentum übertreten. Ihre langen Haare wurden abgeschnitten, sie mussten Schuluniformen tragen, durften ihre Eltern nicht besuchen. Kinder, die trotzdem ihre Sprache sprachen, wurden hart bestraft. Sie mussten Seifen kauen, wurden geschlagen, in Kellern eingesperrt. Viele der Kinder wurden missbraucht und mussten hungern. Das Internat in Kamloop zählte zu den größten Umerziehungsheimen.

Immer wieder versuchten Kinder und Jugendliche zu fliehen. Die eingefangenen jungen Flüchtlinge wurden dafür hart bestraft, auch mit sexualisierter Gewalt. Viele Kinder kehrten nicht mehr in das Heim zurück. Das Verschwinden der Kinder ist von der Schulleitung nie dokumentiert worden. “Niemand sprach darüber, aber wir alle ahnten, was geschehen war”, sagte Rosanne Casimir auf einer Pressekonferenz. “Diese Ahnung hat sich nun bestätigt.” Die indigene Nachbar-Gemeinde des ehemaligen Internats drängt auf gründliche Aufklärung. Die ersten Ergebnisse sollen in diesem Monat veröffentlicht werden.

Dunkle Geschichte
Das ehemalige Heim in Kamloops und der Leichenfund erinnert an eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte Kanadas. Noch ist unklar, was genau den Kindern zugestoßen ist. Sicher ist aber: Es war für viele tödlich, kommentierte die Deutsche Welle. Der verstorbene indigene Schriftsteller Richard Wagamese war auch ein Zwangseingewiesener im Internat in Kamloops und dokumentiert in seinem Buch „Der gefrorene Himmel“ seinen Leidensweg zwischen der Entführung aus seiner Familie und dem Missbrauch durch einen freundlichen Pater im Internat.

Für die Menschenrechtlerin Sandy Naake sind die Umerziehungsheime ein Symbol des Kolonialismus. „Vom 16. bis 20. Jahrhundert machten sich die Kolonialmächte die Welt untertan. Sie fühlten sich anderen Völkern kulturell überlegen und begründeten so ihr repressives, menschenverachtendes Herrschaftssystem. Bis heute leiden viele Nachfahren der Kolonisierten unter den Folgen dieses Machtstrebens. Denn auch nach der Unabhängigkeit vieler Staaten setzten und setzen sich die unterdrückenden Mechanismen fort“, schreibt Naake in der GfbV-Zeitschrift „pogrom“. „So wie bei Evelyn Camille aus Kanada, die dem Volk der Secwepemc (Shuswap) angehört. Sie besuchte uns im April 2017 und erzählte uns von ihren furchtbaren Erlebnissen in einer Residential School. Dort durfte sie ihre Sprache nicht sprechen, musste ihre Kultur verleugnen. Ganze Generationen mussten ihre Kindheit und Jugend in solchen Einrichtungen verbringen.“

„Vom 16. bis 20. Jahrhundert machten sich die Kolonialmächte die Welt untertan.” (Sandy Naake)

In der deutschen Tageszeitung TAZ erzählt Dorothy Alpine über die Schrecken ihrer Kindheit. Alpine war sechs Jahre alt, als sie zum ersten Mal in der Schule geschlagen wurde. „Ich hatte mir gerade in der Küche ein Butterbrot geschmiert, als die Nonne hereinkam, mich böse angestarrt und mir eine Ohrfeige verpasst hat. Einfach so, ohne Grund“, erinnert sich Alpine. Danach war es für Dorthy Alpine mit der kindlichen Unschuld vorbei. Auf die Ohrfeige folgten immer mehr, und das Leben im Internat in der westkanadischen Stadt Cranbrook wurde für die junge Ktunaxa-Frau zum Horror: „Es war so traumatisch für mich, dass ich vor lauter Angst zur Bettnässerin geworden bin.“

Mehr als sechzig Jahre ist das mittlerweile her, doch die 69-Jährige kämpft bis heute mit den körperlichen und psychischen Folgen. Das ehemalige Internat, das von der katholischen Kirche im Auftrag der kanadischen Regierung betrieben wurde, war eines von 139 Zwangsinternaten, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts errichtet wurden. Es wurde 1890 eröffnet und hatte in den 50er Jahren bis zu 500 Schüler. Erst 1969 wurde das Internat geschlossen. Nach Angaben der indigenen Gemeinde beschwerte sich der Schulleiter des Heims in Kamloops 1910 darüber, dass die Regierung nicht genug Geld zur Verfügung stelle, um „die Schüler angemessen zu ernähren“.

Sexuell missbraucht und zwangsassimiliert
Dorthy Alpine erzählte ihre Geschichte der Wahrheits- und Versöhnungskommission, die von der kanadischen Regierung damit beauftragt worden war, die Zustände in den Internatsschulen zu dokumentieren. Die Kommission führte dazu über sechs Jahre hinweg über 6.000 Interviews.

Der Abschlussbericht legt eines der dunkelsten Kapitel der kanadischen Geschichte schonungslos offen. In Kanada waren ab 1874 150.000 Kinder von Indianern, Mestizen und Inuit von ihren Familien und ihrer Kultur getrennt und unter Zwang in kirchliche Heime gesteckt worden, um sie so zur Anpassung an die weiße Mehrheitsgesellschaft zu zwingen. Viele von ihnen wurden in den Heimen misshandelt oder sexuell missbraucht. 6.000 Kinder kehrten nicht zurück. Sie starben an den Folgen der Quälereien, der Erniedrigungen oder der Einsamkeit.

Der Kommissionsvorsitzende, Justice Murray Sinclair, sprach bei der Vorstellung des Berichts von einem „kulturellen Völkermord“, eine Einschätzung, die auch Kanadas oberste Richterin Beverly McLachlin teilt. Ziel der kanadischen Politik sei es lange gewesen, „den Indianer im Kind“ zu töten und das „sogenannte Indianerproblem“ ein für alle Mal zu beseitigen, so McLachlin. Laut Untersuchungsbericht müssen die Zustände horrend gewesen sein. So gehörten sexueller Missbrauch und physische Gewalt zum Internats-Alltag. 32.000 ehemalige SchülerInnen wurden wegen dieser Gewalttaten entschädigt, 6.000 Anträge werden noch bearbeitet. Knapp drei Milliarden Dollar hat die Regierung bislang an die Opfer ausgezahlt.

Ziel der kanadischen Politik sei es lange gewesen, „den Indianer im Kind“ zu töten, so Kanadas oberste Richterin Beverly McLachlin

In den Schulen waren die eigenen Sprachen verboten, ebenso kulturelle Bräuche und Feiern. Kontakt zu den Eltern oder anderen Familienmitgliedern war unerwünscht. Die meisten Kinder durften nur einmal im Monat Besuch bekommen – wenn überhaupt. Viele wuchsen ohne ihre leiblichen Familien auf. Manchmal wurde den Kindern medizinische Hilfe verweigert, um die Taten zu vertuschen.

Viele indigene Gemeinschaften machen die Heime, die ganze Generationen geprägt haben, für soziale Probleme heute wie Alkoholismus, häusliche Gewalt und erhöhte Selbstmordraten verantwortlich. Nicht wenige Ureinwohner nahmen sie sich später aus Scham und Angst über den Missbrauch das Leben. „Jeden Tag wurde uns eingetrichtert, wie schlecht wir sind, und nach einer Weile haben wir es tatsächlich geglaubt“, berichtet auch Dorothy Alpine. Es ist eine Gewaltspirale, die bis heute nachwirkt: In vielen Indianergemeinden Kanadas gibt es mehr Selbstmorde, Verbrechen und Drogenprobleme als im Rest des Landes.

Umerziehung – kultureller Genozid
Die kanadische Regierung hatte sich 2008 in einer Erklärung zu ihrer historischen Verantwortung bekannt und sich für die Vorfälle entschuldigt. Von einem „kulturellen Genozid“ aber hat die Regierung bislang nicht gesprochen. Indigene Organisationen appellierten deshalb an die Bundesregierung, die Assimilierung der vergangenen 100 Jahre als kulturellen Genozid zu bezeichnen.

Landesweit vermuten die Gemeinden der First Nations, dass solche Leichenfunde wie in Kamloops auch an anderen Standorten der ehemaligen Residential Schools zu finden sind. Sie fordern restlose Aufklärung, eine Vergangenheitsbewältigung, die endlich die Opfer rehabilitiert und die staatlichen und kirchlichen Täter benennt. Nicht nur die kanadische Staatsführung ist in der Pflicht, sondern auch die katholische Kirche, der Papst, meinen VertreterInnen indigener Organisationen und Völker.

Landesweit vermuten die Gemeinden der First Nations, dass solche Leichenfunde wie in Kamloops auch an anderen Standorten der ehemaligen Residential Schools zu finden sind.

Die „Reinwaschung“ indigener Kinder in den katholischen Umerziehungsheimen war ein erfolgreiches Instrument der Assimilierung. Neben Kindern und Jugendlichen sind indigene Frauen ebenso Opfer des kanadischen Rassismus. Die 2012 gegründete Initiative “Idle no more!” engagiert sich gegen den unerklärten Krieg gegen indigene Frauen. Für die First Nations haben die Unterjochung der weiblichen Ureinwohner und die Unterjochung der weiblichen Erde einen gemeinsamen Ursprung.

2013 veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch einen 84-seitigen Report, laut dem es in Kanada lebensgefährlich sein kann, Indianerin zu sein. Zu Hunderten waren indigene Mädchen von Polizisten der RCMP (Royal Canadian Mounted Police) vergewaltigt und misshandelt worden, Morde an indigenen Frauen waren nicht oder nur nachlässig untersucht worden. Der Highway 16 in der Westprovinz British Columbia wurde von den Angehörigen in “Highway of Tears” (“Straße der Tränen”) umbenannt – Dutzende indianischer Frauen waren entlang dieser Fernstraße vergewaltigt oder getötet worden.

Mehr zum Thema:

About the Movement – idlenomore.ca

Idle No More – Bing video

Kelly Derrickson – Idle No More Music Video (Official HD) – Bing video

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