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Illustrations by Sarah
Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 16.12.2016
MeinungPlädoyer für die Weltbürgerschaft

Die grenzenlose Freiheit

Fast jeder hat einen, nur selten denkt man darüber nach: den Reisepass. Das Sinnbild für fast alles, was auf der Welt schief läuft. Und vielleicht auch die Lösung dafür.
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Anfang Dezember in Istanbul. Ein eisiger Winterabend senkt sich schwer über die pulsierende 15-Millionen-Metropole. Mit Anbruch der Dunkelheit kommen die Touristenviertel um die Hagia Sophia langsam zur Ruhe. In diesem Jahr haben es die Ladenbesitzer schwer. Wiederholte Terroranschläge und eine angespannte politische Situation hielten die sonst zahlreichen Besucher fern. Ein paar Kinder, die noch keine zehn Jahre alt sind, versuchen auf der Straße trotzdem ihr Glück und halten den Passanten für ein paar Türkische Lira Taschentücher hin. Als zwei von ihnen darüber zu streiten anfangen, wie sie ihr Geld untereinander aufteilen sollen, versucht Hassan, eine Hostel-Bekanntschaft, mit der ich unterwegs bin, zu schlichten und spricht mit den Kindern. Ich wundere mich, seit wann der Saudi-Araber Hassan Türkisch sprechen kann. „Das war kein Türkisch, sondern Arabisch“, klärt er mich auf: „Die Kinder sind Flüchtlinge aus Syrien.“

Die beiden Kinder, die sich schließlich wieder vertrugen, gehören zu den knapp drei Millionen Syrern, die die Türkei inzwischen aufgenommen hat. Das sind mehr Flüchtlinge, als ganz Europa zusammen aufgenommen hat. In der Türkei bleiben wollen nur wenige. Die meisten wollen entweder weiter nach Europa oder zurück nach Syrien, sobald der Krieg vorbei ist. Auch Adnan, der syrische Familienvater, der ein paar Tage später neben mir im Flugzeug nach Mailand sitzt, hofft inständig, nach dem Krieg wieder nach Damaskus zurückkehren zu können, wo seine Familie lebt. Jetzt aber gibt es für ihn als Lastwagenfahrer dort keine Arbeit mehr, keine Perspektive. Zurzeit hat Adnan noch eine Aufenthaltserlaubnis für Italien. Wenn sie in drei Monaten nicht erneuert wird, hat Adnans Familie vielleicht bald kein Einkommen mehr.

Dieser Pass, der jedem zeigt: Ich habe mehr Rechte als die meisten anderen Menschen auf dieser Welt.

Nachdem wir in Mailand gelandet sind, müssen Adnan und ich durch die Passkontrolle. In der Flughafenhalle gibt es dafür zwei Schalter. Vor dem Schalter, der für Nicht-EU-Bürger vorgesehen ist, formiert sich sofort eine lange Warteschlange. Die zusätzliche Personenkontrolle verzögert das Ganze. Ein bisschen schäme ich mich, als ich Adnan hier verabschiede, um auf den Schalter für EU-Bürger zuzugehen. Hier gibt es keine Warteschlange, nur ein Blick auf meinen Pass genügt und ich darf weiter. Auch nachdem ich meinen Pass wieder zurück in die Jackentasche gesteckt habe, verflüchtigt sich das unangenehme Schamgefühl nur langsam. Wieder hat mir mein Reisepass einen Vorteil verschafft. Klar, es ging jetzt höchstens um zwanzig Minuten, die einer länger warten muss. Ist keiner Rede wert. Aber was ist mit all den anderen, weit größeren Vorteilen, die mir der italienische EU-Pass verschafft? Dieser Pass, mit dem ich als europäischer Bürger fast überall auf der Welt hin darf. Dieser Pass, der jedem zeigt: Ich habe mehr Rechte als die meisten anderen Menschen auf dieser Welt.

Überwinden der Grenzen bedeutet Überwinden des Nationalstaats
Grenzen sind heute notwendiger denn je. Migranten, Globalisierung, internationaler Wettbewerb – nur mit Grenzen kann sich der einzelne Staat davor schützen. Notfalls sogar mit Mauern.

Das ist zumindest die gängige Meinung. Doch was würde wirklich passieren, wenn wir Grenzen abschaffen würden? Wenn die Bürgerrechte nicht an eine zufällige Staatszugehörigkeit gebunden wären, sondern es so etwas wie eine Weltbürgerschaft für jeden gäbe?

Es war das Jahr 1948, als man sich das erste Mal ernsthaft mit diesen Fragen auseinandersetzte. Nur wenige Jahre, nachdem der Nationalismus die Welt in Schutt und Asche gelegt hatte, versprach die Weltbürgerschaft, plötzlich mehr als nur eine Utopie zu werden. Daran trug ein Mann besonderen Verdienst: Garry Davis, ein ehemaliger Pilot der amerikanischen Luftwaffe, einer von denen, die in Europa an der Verwüstung ganzer Städte beteiligt waren. Wie viele andere litt er nun, da der Krieg vorbei war, unter seinem Gewissen. Einer Sache war er sich sicher: Er ist es den Millionen Toten schuldig, wenigstens für die Nachkommen eine bessere Welt zu schaffen. Nur, wie?

Der Luftwaffe-Pilot Garry Davis mit seinem Weltpass.

Die erste Ursache für das große Schlachten ist der Nationalstaat und der damit verbundene Nationalismus. Davon ist der ehemalige Soldat fest überzeugt. Den Nationalstaat müsste man allerdings gar nicht abschaffen, denn der mag als Verwaltungseinheit nach wie vor notwendig sein. Und das ist das Revolutionäre an Garry Davis‘ Idee: Es würde bereits genügen, die Grenzen abzuschaffen. Jeder Weltbürger hätte das Menschenrecht auf weltweite Freizügigkeit, kein Mensch wäre mehr durch irgendeine nationale Zugehörigkeit privilegiert oder benachteiligt. Das würde reichen, um dem Nationalismus den Boden zu entziehen.

Die Idee des ehemaligen Luftwaffe-Soldaten schlug ein wie eine Bombe. Nachdem er sich während einer Tagung der Vereinten Nationen zum Thema Menschenrechte in die Mitte des Saals gestellt hat, um vor den entsetzten Augen der Anwesenden seinen amerikanischen Pass anzuzünden und sich als ersten Weltbürger zu deklarieren, hat er die internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Zu seinen aktivsten Unterstützern zählen bald Koryphäen wie Albert Einstein, Albert Camus, Jean Paul Sartre und André Breton. Hunderttausende treten seiner Bewegung bei und bestellen den Weltpass. Offiziell besitzt dieser symbolische Pass freilich keine Gültigkeit. Doch in manchen Ländern, unter anderem in Indien, lässt man Davis damit einreisen.

Seit jener Zeit hat sich viel ereignet. Die Weltbürgerbewegung ist heute den wenigsten bekannt, stattdessen gibt es die Reichsbürger. Der Lauf der Geschichte stand nicht auf Davis‘ Seite. Bereits in den frühen 50ern verlor seine Bewegung wieder an Bedeutung. Der Koreakrieg spaltete die Weltöffentlichkeit erneut in entgegengesetzte Lager, der Ruf nach einer Welt ohne Grenzen oder gar nach einer Weltregierung wurde obsolet. Menschen wie Davis, die transnational dachten, waren für den Westen nichts anderes mehr als Kommunisten, für den Osten hingegen Imperialisten.

Die Folgen der Freiheit
Zurück im 21. Jahrhundert: Jetzt, wo Wirtschaft, Finanzwelt und Technologien bereits seit Jahrzehnten immer globaler agieren, hinkt die Politik hinterher. Um der Globalisierung Herr zu werden, rufen einige wieder nach dem Nationalstaat als Allheilmittel. Dabei verkennt man, dass die Globalisierung in Wirtschaft und Technologie auch durch eine national noch beschränktere Politik nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Jenseits der lauten Trumps, Le Pens und Petrys sind aber auch wieder Stimmen zu hören, die nach transnationalen Lösungen und Kooperation rufen. Wahrscheinlich der effizientere Weg, um die Probleme zu lösen, die mit einer fortschreitenden Globalisierung einhergehen.

Es ist darum an der Zeit, sich der Frage zu stellen: Ist eine Welt ohne Grenzen in der heutigen Zeit eine reine Utopie? Was würde tatsächlich geschehen, wenn jeder Mensch dasselbe Recht hätte, sich auf der Erdkugel frei zu bewegen?

Kurzfristig – es ist nicht schwer vorauszusehen – wären die Staaten, die derzeit noch vom Wohlstandsgefälle profitieren, mit gewaltigen Herausforderungen konfrontiert: allem voran der Andrang an Migranten, die mit dem Traum eines besseren Lebens nach Europa kämen. Eine Welt ohne Grenzen kann von heute auf morgen nicht reibungslos funktionieren. Jede Veränderung kennt Gewinner und Verlierer. In diesem Szenario wären die Verlierer ganz eindeutig: wir. Die Gutgenährten dieser Welt.

Wer hätte noch Interesse daran, jemanden zu benachteiligen, der im nächsten Augenblick am eigenen privilegierten Heim anklopfen kann?

Interessant sind aber vor allem die langfristigen Folgen. Hier offenbart sich der Gewinn einer Welt ohne Grenzen und einer Weltbürgerschaft für jeden. Kein Land könnte in einer solchen Weltordnung noch das Interesse haben, andere Länder auszubeuten. Keine Waffenexporte, kein unlauterer Wettbewerb auf dem Weltmarkt, keine Stellvertreterkriege. Aus einem einzigen Grund: Alles käme zurück. Wer hätte noch Interesse daran, jemanden zu benachteiligen, der im nächsten Augenblick am eigenen privilegierten Heim anklopfen kann? In der Ökonomie nennt man das auch: Internalisierung der externen Effekte.

Auch der Syrienkrieg, der inzwischen zum Spielball internationaler Machtbestreben geworden ist, wäre wohl anders verlaufen. Aber noch ist es eine Welt der Einzelinteressen, in der Istanbuls Straßenkinder und der Familienvater Adnan leben. Wie Milliarden andere Menschen sind sie einfach nur im falschen Erdteil geboren. Und es ist schwierig, oft lebensgefährlich, ihn zu verlassen. Ob man Adnan in drei Monaten hier die Möglichkeit geben wird, seine Familie weiter zu ernähren, steht in den Sternen. Der französische Philosoph Voltaire konstatierte es schon vor 300 Jahren und solange es keine Weltbürgerschaft gibt, bleibt es dabei: „Das Leben ist ein erbärmliches Glücksspiel.“

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