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Illustrations by Sarah
Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 18.04.2018
MeinungKommentar zum Leistungswahn

Chill mal, Alter!

Viele Berufe, in denen Menschen Selbstverwirklichung suchen, enden in der Selbstausbeutung. Dagegen hilft nur eins: Mut zum Chillen.
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Neben meinen Pflichtvorlesungen besuche ich an der Uni zurzeit einen Persisch-Sprachkurs. Erwartungsgemäß traf ich da interessantere (andere würden wohl sagen: merkwürdigere) Leute als in den übrigen Lehramtsveranstaltungen. Julius zum Beispiel, ein Schweizer, der mir noch nie sein wahres Alter verraten hat, auf jeden Fall aber schon ein paar graue Haare an den Schläfen hat. Seine größte Leidenschaft besteht darin, neue, exotische Sprachen zu lernen. Als diplomierter Indologe kann er bereits fließend Hindi, Urdu und Sanskrit. Was er jetzt studiert? Na ja, er habe irgendwann doch erkannt, dass man mit einem Master in Indologie auf dem Arbeitsmarkt nicht besonders weit kommt. Darum studiere er jetzt Ethnologie mit Nebenfach Sprache, Literatur, Kultur.

Ethnologie und bessere Arbeitschancen? Was wie ein Witz klang – beinahe hätte ich über ihn gelacht – meinte Julius todernst. Irgendwo als Staatsbediensteter eine Stelle anzunehmen und in Teilzeit zu arbeiten, das ist seine Idealvorstellung für die Zukunft. Auf diese Weise hätte er noch reichlich Freizeit, um sich dem Studium weiterer entlegener Sprachen und Kulturen zu widmen – ganz ohne ökonomische Hintergedanken, die den Spaß an der Bildung nur verderben würden. Bereits jetzt, noch während seines Studiums, versucht der Sprachenenthusiast so wenig Geld wie möglich auszugeben. Das ergibt Sinn. Im gleichen Maße, in dem Julius weniger Geld ausgibt, muss er auch weniger arbeiten, um dieses Geld zu verdienen. Und das bedeutet auf der anderen Seite der Rechnung: mehr Zeit, Sprachen zu lernen, sich weiterzubilden und das Leben zu genießen.

Wenn es um die berufliche Veranlagung geht, stellt Julius einen Menschentyp dar, der recht verbreitet ist. Julius gehört zu jenen Individuen, deren Leidenschaften sich mit keiner von den Tätigkeiten decken, die wirklich zu einem Beruf taugen. Das ist sehr häufig bei Künstlern der Fall, oder bei Hedonisten jeglicher Art. Was an Julius aber besonders ist, ist die konsequente und selbstbewusste Art, damit umzugehen. Während die meisten sich doch anpassen und das Leben als freier Schriftsteller am Ende mit einer Fixanstellung als PR-Redakteur eintauschen, pfeift Julius auf gesellschaftliche Konventionen, auf Geld oder Karriere, und richtet sein Arbeitsleben so ein, dass möglichst viel Zeit für seine wahren Interessen übrigbleibt. Eine Haltung, die unter den anderen zwei Berufsmenschentypen noch seltener zu finden ist.

Da gibt es nämlich auch Menschen, die das, was ihnen Spaß macht, tatsächlich zu einem (mehr oder weniger) einträglichen Beruf machen können. Architekten zum Beispiel, oder auch Journalisten. In diesem Idealfall wird Arbeiten zum Selbstzweck. Und schlussendlich gibt es noch diejenigen, die keine besonderen Leidenschaften oder Interessen besitzen und ihren Beruf in erster Linie nach Kriterien des Einkommens, des Ansehens oder der Aufstiegsmöglichkeiten auswählen. Der Beruf wird dann zu einem Mittel, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Nennen wir mal, ohne Absicht einer Berufsdiffamierung, Wirtschaftsberater als Beispiel.

In dieser Konstellation scheinen der Architekt und der Journalist am besten dazustehen. Sie dürfen ihre Lieblingstätigkeit ausüben und verdienen damit auch noch ihren Lebensunterhalt. Doch in Wirklichkeit ist es das Modell des Wirtschaftsberaters, das seit Jahrzehnten Schule macht: Arbeiten, um Geld zu machen. Arbeiten, um die Karriere zu beschleunigen. Arbeiten, um verdammt nochmal produktiv zu sein. Und all das scheint heute auf angehende Journalisten, Architekten oder Designer – die sogenannten kreativen Berufe – noch viel stärker zuzutreffen als auf Wirtschaftsberater, Ingenieure oder Ärzte. Denn das Problem bei solchen kreativen Berufen ist: Wer darin arbeitet, definiert sich selbst meistens über seinen Beruf. Berufliches Scheitern wird da rasch zu einem existenziellen Scheitern.

Als Gegenbeispiel zu Julius könnte ich Sara nennen, 27 Jahre alt und ohne Zeit, um Fremdsprachen wie Persisch zu lernen. Sie studiert Möbeldesign. Damit meinte sie zunächst, alles richtig gemacht zu haben. Ein Beruf, in dem sie ihre Kreativität voll entfalten und zugleich auch davon leben kann. Hier sollte Arbeit Spaß bedeuten, Selbstverwirklichung. Das sahen wohl auch ihre Kommilitonen so. Heute nehmen die meisten von ihnen leistungssteigernde Amphetamine, wie ich neulich erfuhr. Sara selbst hat es erst vor Kurzem geschafft, von der Droge loszukommen. Aber auch wenn sie jetzt clean ist, ist ihr Selbstbewusstsein noch am Boden. Alles, was sie bisher erreicht hat, sieht sie manchmal nur als das Ergebnis des Amphetamins, nicht als ihren eigenen Verdienst.

Warum das so sein muss? Weil der Wettbewerb extrem hoch ist. Zum einen kommt der Druck schon von den Professoren, die mit unrealistischen Forderungen und Aufgaben die Studenten drillen, später dann vom Arbeitgeber und einem extrem kompetitiven Arbeitsmarkt. Und zum anderen sind es Sara und ihre Kommilitonen selbst, die, jeder für sich, versuchen, die Latte höher zu legen und herauszustechen. Wer nicht heraussticht, gilt als untauglich – und wer will schon als untauglich gelten, gerade in dem Beruf, den man doch eigentlich liebt und aus dem man das eigene Selbstbewusstsein schöpft? Ein junger Architekt verriet mir einmal über seine Arbeitskollegen: „Architekten sind unverbesserliche Narzissten. In diesem Job dreht sich alles nur um das Ego, jeder will auf Gedeih und Verderb zeigen, was er drauf hat.“

So ähnlich ist es in den meisten kreativen Berufen, also überall dort, wo Menschen eigentlich Selbstverwirklichung suchen. Je mehr sich die Menschen mit ihrem Beruf identifizieren, desto anfälliger sind sie für Selbstausbeutung. Jeder macht am Ende mehr, aber keiner macht es besser. Im Englischen nennt man das: Rat Race. Aber muss man eine Maschine sein, um etwas wert zu sein?

Der Mensch des 21. Jahrhunderts im Westen müsste es eigentlich besser wissen. Er besitzt Technologien, die ihm die Arbeit abnehmen, demokratische Menschenrechte und eine gesetzliche Einschränkung der Arbeitszeiten. Jetzt, wo man eine E-Mail in wenigen Minuten geschrieben hat und keine Zeit verschwenden muss, um jeden Brief zur Post zu schicken, sollte man doch mehr Zeit übrig haben. Und wenn kein Chef mehr da ist, der einen legal ausbeuten darf, sollte man doch weniger arbeiten können. Stattdessen ist unser E-Mail-Postfach – meines jedenfalls – ständig überfüllt und mit dem Antworten komme ich gar nicht nach. Was aus meiner Freizeit geworden ist, frage ich mich auch sehr oft.

Vor einigen Jahrzehnten gab es den Anglizismus „Chillen“ noch nicht, aber ich vermute, dass die Menschen den Inhalt des Begriffs trotzdem besser drauf hatten als jetzt. Zwar waren die Arbeitszeiten in der Fabrik höher und die Rede von einer 30-Stunden-Woche wäre in den 70er-Jahren noch unvorstellbar gewesen; doch wenn die Menschen mal Zeit hatten, warfen sie sie nicht gleich weg. Einer meiner Professoren schüttelt immer wieder den Kopf, wenn er seine Studenten sieht, die sich am Ende des Semesters gleich in das nächste Praktikum, ins Auslandssemester oder in die neue Fortbildung stürzen. „Ich habe damals einfach nur gechillt“, sagt er dann und zuckt mit den Achseln. Heute betreibt er neben seinem Lehrauftrag noch die Forschung und ist in mehreren Gremien vertreten. Trotzdem hat er dabei immer noch mehr Freizeit als seine 20-jährige Tochter.

Was wohl die 12-Stunden-Fabrikarbeiter von damals davon halten würden, dass wir uns heute für noch mehr Stunden in unseren Büros verbarrikadieren? Es braucht einfach viel mehr Mut zum Chillen: den Computer oder was auch immer liegen lassen und rausgehen. Freunde treffen. Verwandte anrufen. Urlaub machen. Unter Stress und Amphetaminen bricht irgendwann jeder zusammen. Aber es wird keine Welt zusammenbrechen, wenn man für ein Projekt einmal ein wenig länger braucht. Und was man auch einmal lassen sollte: auf die „faulen Lebensgenießer” wie Julius herabzuschauen, nur weil sie ihre Prioritäten anders setzen und lieber aktiv als produktiv sind. Jedenfalls nicht „produktiv” in dem Sinne, in dem der Arbeitsmarkt es gerne hätte.

Und jetzt folge ich dem Rat meiner Mutter und gehe eine Runde spazieren …

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