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Illustrations by Sarah
Barbara Plagg
Veröffentlicht
am 30.11.2023
LabernKommentar über das Patriarchat

Bruciate tutto

Warum? Darum! Wieder wurde eine von uns getötet und die Gesellschaft verlangt nach Erklärungen. Doch die Frage nach dem „Warum?“ stößt unserer Autorin bitter auf, denn wir kennen alle längst die Antwort darauf. Barbara Plagg über die lebensbedrohlichen Lügen des Patriarchats und wie man ihnen entkommt.
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Wir stehen im Wald. Alle zwei bis drei Tage wird eine von uns umgenietet und dann gibt’s regelmäßig regelrechte Ratlosigkeit, warum das nun schon wieder passiert ist. Weil sie vor lauter Bäume das Patriarchat nicht sehen, labern sie von „Einzeltätern“ und „isolierten Verrückten“ und weil sie selbst nicht in die Verantwortung genommen werden wollen, manschwafeln sie von isolierten Einzelschicksalen und dass man damit nix zu tun hätte. Da könne man jetzt auch nichts dafür, so als Mann, der Frauen respektiert und bring’ mir doch bitte noch ein Bier, Schatzi, und jetzt stell dich nicht so an, war ja nur ein Witz.

Mit kollektiver Sturheit wird die kollektive Verantwortung und das dem Verbrechen zugrunde liegende kulturelle System ignoriert, das im Nährboden seiner Normen schon die nächsten Täter zieht. „Wenn der Hass feige wird, geht er maskiert und nennt sich Gerechtigkeit“, wusste schon der Dramatiker Arthur Schnitzler und nichts ist feiger als das Patriarchat, das als Norm, als Biologismus, als „Gerechtigkeit“ verkleidet mit der historisch gefestigten Unverschämtheit einer jahrhundertealten Frauenverachtung unter die Leute geht, alle unsere Lebensbereiche durchwandert und uns verklickert, dass Frauen dümmer, ihr Körper schwächer, ihre Arbeitskraft schlechter, ihre Führungsqualitäten scheiße und das bisschen Hausarbeit erstens ihre alleinige Zuständigkeit und zweitens kein Problem seien.

Wie viele Tote wollen wir noch abwarten, bis sich etwas ändert?

Per Giulia non fate un minuto di silenzio,“ sagte Elena Cecchettin, die Schwester der ermordeten Giulia Cecchettin, „per Giulia bruciate tutto.“ Und mit tutto meinte sie den ganzen Scheiß. Das ganze Darunter, weswegen es die Spitze des Eisberges überhaupt nur geben kann. Weil ja, es reicht schon längst. Wie viele Tote wollen wir noch abwarten, bis sich etwas ändert? Wie viele Schweigeminuten, wie viele Vorträge, wie viele Statistiken, wie viele Bücher, wie viele Theaterstücke, wie viele Banner, wie viele Zeitungsartikel wollen wir noch bringen, uns den Mund fusselig erklären und am Ende dann schön höflich drum bitten, man möge uns bitte nicht hinrichten?

Was bin ich stuff, immer das Ding mit dem Eisberg zu erklären und dass ganz oben die Frauen nur deswegen sterben, weil unten alle (alle! Männer und Frauen, aber vor allem Männer!) fleißig das Patriarchat mittragen und reproduzieren. Und dass die Mörder deswegen keine einzelnen Verrückten, sondern „gesunde“ Söhne eines kranken Systems sind, wie Elena Cecchettin richtigerweise sagt. Elena, die nach dem Mord laut wurde und das strukturelle Versagen anklagte, und damit einigen rechten Politikern auf den Schlips trat, die eingeschnappt zum Gegenschlag austraten. Und worauf zielt man so als männlicher Politiker, wenn man eine Frau, die völlig recht hat (UND DEREN SCHWESTER! GERADE! ERMORDET! WURDE!), diskreditieren möchte? Genau, auf ihr Äußeres! Der Scheitelpunkt der patriarchalen Idiotie war erreicht, als einige Politiker nach dem Mord an der hundertfünften Frau in diesem Jahr auf ihrem Instakanal mansplainten, dass es das „böse Patriarchat“ gar nicht gäbe und im fucking SELBEN Post die Schwester der Ermordeten wegen ihrem gothic look, wegen dem schwarzen Lidstrich, den schwarzen Strümpfen und dem schwarzen Rock fertigmachten. Ey Patriarchat, du alter Sack! Da killen die uns reihenweise und wenn wir was sagen, fällt ihnen nur auf, dass unsere Schuhe scheiße sind, aber nicht sie selbst?!

Setzen wir den Wald in Brand, den viele noch nicht mal sehen, weil sie so viele patriarchale Bretter vorm Kopf haben, dass sie komplett zugenagelt sind!

Raga, bruciamo tutto! Und zwar im Dirndl, in der Lederhose, in Jeans, im Wednesday-Addams-Look, im Bikini, im Jogginganzug, im Pyjama und in Dessous. Barfuß oder in High Heels. Warten wir nicht mehr, tun wir was! Beginnen wir ganz unten, damit die ganz oben nicht mehr sterben müssen! (Weil sich viele fragen, was es denn ganz unten zu tun gibt, gibt’s nachstehend einige Anregungen für den Alltag*.) Setzen wir den Wald in Brand, den viele noch nicht mal sehen, weil sie so viele patriarchale Bretter vorm Kopf haben, dass sie komplett zugenagelt sind! Und wer da jetzt vor allem ganz dringend zündeln muss, sind die Männer, weil wir Frauen haben damit schon längst begonnen. Wir sind historisch gesehen schon die dritte Welle, aber bei euch ist ja größtenteils noch Ebbe. Und das, obwohl es ja eigentlich um euch geht. Weil die Gretchenfrage der geschlechtsspezifischen Gewalt ist, nicht, wie sich Frauen besser schützen können, sondern warum immer noch viel zu viele Männer keine anderen Problemlösungsstrategien als stumpfe Gewalt im Verhaltensrepertoire haben, wenn es mal schwierig wird in einer zwischenmenschlichen Beziehung.

Denn das Problem ist nicht die Frau, die sich früher Hilfe suchen muss, das Problem ist der Mann, der sich nicht früher Hilfe sucht. Das Problem ist nicht die Frau, die sich nicht früher getrennt hat, das Problem ist der Mann, der mit der Trennung nicht zurechtkommt. Das Problem ist nicht die Frau, die mit einem anderen schläft, sondern der Mann, der dadurch so gekränkt ist, dass es zum Vernichtungswunsch kommt. Das Problem ist nicht die Frau, die zum letzten Treffen geht, das Problem ist der Mann, der Beziehung mit Besitztum verwechselt. Das Problem ist nicht die Frau, die keine Copingstrategien oder Informationen zur Verfügung hat – das Problem ist der Mann, der keine hat.

Deswegen bruciamo tutto! Und zwar tutti insieme, olle mitanond. Und zwar bevor wieder eine sterben muss.

Wir sind nicht schuld am Versagen der gewalttätigen Männer. Wir sind nicht schuld an der Gewalt, die sie brauchen, weil sie (noch immer) keine anderen erwachsenen Lösungsstrategien für sich entwickelt haben. Wir sind nicht schuld an der Gewalt, die sie einsetzen, weil sie ein System dazu erzieht und legitimiert. Wir sind nur mitschuldig, wenn wir dieses System (auch als Frauen) weiterhin legitimieren. Deswegen: bruciamo tutto! Und zwar tutti insieme, olle mitanond. Und zwar bevor wieder eine sterben muss.

Eine von uns.

Wegen einem von euch.


*Bruciare tutto to go:

*kleine Auswahl

  • Schweigen ist nicht mehr. Nicht bei Onkel Geralds sexistischen Witzen, nicht bei anzüglichen Kommis vom Chef, nicht bei Catcalling auf offener Straße. Wir weisen darauf hin und zurecht, wir brüllen zurück und fühlen uns deswegen nicht beschämt, frigide oder prüde, nur weil sie dumm, dämlich und cringe sind.
  • Muttersöhnchen lieben und respektieren Frauen, weil wir ihnen nämlich nichts mehr durchgehen lassen und zu ihnen mindestens ebenso streng sind wie zu unseren Töchtern.
  • Who runs the world?Girrrrrls, und zwar, weil wir ihnen sagen, diesen unseren Töchtern und little sisters, dass sie gut sind und dass sie schön sind und dass sie auch ungut und hässlich sein dürfen, weil es OK ist, wie sie sind und weil sie aufhören müssen, sich klein und falsch und nicht richtig zu fühlen. It’s not you, it’s the system, that’s fucked.
  • Brains are the new tits, weil wir kaufen den Bullshit nicht mehr, den uns ein kapitalistischer Körperkult aufoktroyieren will. Kein Mensch muss seine Schamhaare ausreißen, wenn er nicht will, auch nicht, wenn dieser Mensch eine Frau ist. Radikale Selbstliebe ist, patriarchale und normschöne Erwartungshaltungen zu enttäuschen, die eh nur dazu da sind, uns ein gärendes Gefühl der Unzulänglichkeit zu geben, weil sie nie erfüllt werden können und uns neben Kind und Karriere noch schön mit Haarefärben und Haarezupfen beschäftigt zu halten.
  • We all know now, we all got crowns: Hören wir auf zu glauben, dass die Gunst der Männer der höchste Preis ist, den es im Leben zu gewinnen gibt. Hören wir auf, um jeden Preis gefallen zu wollen und uns als Konkurrentinnen zu sehen.
  • Wir sind nicht die Mütter unserer Männer, nur weil wir alle Kinder des Patriarchats sind. Deswegen hören wir auf, ihnen die Hemden zu bügeln und ihre Schmutzwäsche zu waschen, wenn sie nicht auch unsere Blusen bügeln und unsere Schmutzwäsche waschen. Und hören wir bitte auch auf, sie zu loben, wenn sie selbst mal ihren eigenen Boden wischen oder ihr eigenes Kind vom Kindergarten abholen.
  • „Ich bin nicht frei, solange noch eine einzige Frau unfrei ist, auch wenn sie ganz andere Fesseln trägt als ich“ und deswegen wehren wir uns gegen jede Form von Rassismus. Wir akzeptieren ihn nicht, wir verharmlosen ihn nicht, wir übersehen ihn nicht und bleiben selbstkritisch als weiße Cis-Frauen. Hören wir zu und verstehen wir.
  • Hol den Vorschlaghammer raus und reißen wir gemeinsam ihre kolonialistischen, patriarchalen Denkmäler nieder. Lasst uns Denkmäler und Straßennamen für die im Hintergrund gebliebenen, leisen, intelligenten und liebenden Frauen bauen.
  • Wenn Mander Menstruation mainsplainen: Einfach nö, weil Frauen lassen sich nicht länger von Männern erklären, wie sie sich zu fühlen haben, was ihnen wehtun darf und was nicht. Hören wir auf, uns einreden zu lassen, dass Menstruationsschmerzen nicht schlimm sind, dass Endometriose, PMS, Herzinfarktsymptome… Einbildung sind. Hören wir auf, uns kollektiv gaslighten zu lassen und zu glauben, dass wir wehleidiger sind als Männer.
  • Solidarity, sisters!Das absolut Dümmste, was wir tun können ist, uns gegeneinander ausspielen zu lassen. No more Gräben zwischen Working-Mums und Stay-at-home-mums, zwischen Kinderlosen und Kinderhabenden, zwischen Bildungsfernen und Akademikerinnen, zwischen Links und Rechts. Unser Problem ist nicht der Lebensentwurf der anderen, unser Problem ist das Patriarchat.
  • Your fired, patriarchy!Weil wir hören jetzt auf, denselben Job für weniger Geld zu machen und besser qualifiziert in den schlechteren Sesseln zu verrotten, weil wir in Elternzeit waren, sind, oder potenziell sein werden. Wir hören auf, uns von Peter die Projektidee klauen und einreden zu lassen, dass das „Teamarbeit“ sei. Wir hören auf, unsere Leistungen runterzuspielen, während Konrad Komplimente für mittelmäßiges Marketing kriegt und annehmen kann. Wir hören auf zu glauben, dass wir nur wegen der Kinder und der Teilzeit keine Führungspositionen übernehmen können, dass soziale Berufe „weniger wert“ seien und wir hören kategorisch auf, uns schlecht zu fühlen, wenn wir nicht arbeiten können, weil das Kind krank ist.
  • Care ist schwer, deswegen hören wir konsequent damit auf, unsere unbezahlte Care-Arbeit als Hobby, als Nebensächlichkeit, als Privatvergnügen und vor allem als alleinige Aufgabe der Frau zu sehen, sondern fordern Anerkennung, gleichberechtigte Elternschaft, aufgeteilte Hausarbeit und finanzielle Absicherung. Hausfrau sein rocks, ist anstrengend und deswegen heißt es nicht „Mutterschaftsurlaub“ oder „Ich arbeite gerade nicht“, sondern „Ich arbeite 24/7“ und „Ich erhalte die Menschheit.“
  • Frausein Muttersein. Nein, eine Frau muss nicht zwingend Kinder kriegen. Und nein, das lassen wir uns auch nicht länger einreden. Und ja, eine Frau darf auch „alleinstehend“ sein und das ist weder your business noch ihr Versagen.
  • World Wide Widerstand is on, weil auch im Netz geschlechtsspezifische Gewalt ein Verbrechen ist und deswegen klagen wir ab jetzt jeden einzelnen von ihnen, die uns im Netz bedrohen, stalken und uns ungefragt ihre Schwänze, Sprüche und Sexismen schicken. 
  • Schutz von Frauen muss Chefsache werden, deswegen verlangen wir, dass es eine langfristige Gesamtstrategie für Frauenschutz gibt, dass es Gewaltambulanzen gibt, dass es für jedes Annäherungsverbot auch ein Waffenverbot ohne Ermessensspielraum gibt, dass alle Polizist:innen, Richter:innen, Staatsanwält:innen ausgebildet werden in geschlechtsspezifischer Gewalt, in Opferschutz und in der Einschätzung von Gefährdungssituationen und dass sie von geschulten Supportteams im Zweifel Unterstützung in der Gefahrenprognose kriegen, dass Gewalttäter in ein verpflichtendes und langfristiges Präventionsprogramm involviert werden,  dass es zur Verbesserung der Datenlage im Bereich geschlechtsspezifischer Gewalt kommt und dass das Lehrpersonal aller Stufen ernsthaft (und nicht wie von Meloni vorgesehen lächerlich oberflächlich) in der Weitergabe sexueller und affektiver Bildung unterstützt wird.
  • Rettet euch: Bleibt nicht bei den Männern, bei denen ihr nicht bleiben wollt. Bleibt nicht bei Männern, die euch physische, psychische, finanzielle oder emotionale Gewalt antun. Auch nicht wegen der Kinder, auch und ganz besonders dann nicht, wenn sie sagen, dass sie die Trennung nicht verwinden könnten und sich etwas antun würden, dass sie euch etwas antun würden, dass sie euch die Kinder wegnehmen würden und euch sowieso keiner glauben wird. Run, sister, run! Zur nächsten Polizeidienststelle, zum nächsten Frauenschutzzentrum. Lauf und glaub nicht, dass du ihn retten müsstest. Oder retten könntest. Rette dich und deine Kinder.
  • Bildet Banden! Allein haben wir keine Chance, zusammen sind wir eine Armee. Eine unüberwindbare Festung, die den Schlag abfängt, den eine einzelne von uns umhauen würde. Eine solidarische Kraft, die den Weg begehbar macht, der für eine einzelne von uns viel zu weit wäre. Ein schwesterliches Schutzschild, das die Gewalt, die eine einzelne von uns töten kann, abfängt. Nehmen sie uns eine, antworten wir alle – damit keine von uns sterben muss.

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