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Illustrations by Sarah
Barbara Plagg
Veröffentlicht
am 14.04.2020
MeinungOffener Brief an die Denunzianten

Blockwart-Buster

Die aktuellen Corona-Maßnahmen sind umstritten, teils auch zurecht. Am allerwenigsten hilft uns deshalb Denunziantentum, findet unsere Autorin, Dozentin für Hygiene, Prävention und Sozialmedizin an der Uni Bozen.
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Haben Sie auch das Gefühl, Sie sind im falschen Film? Das große Sterben, vermummte Gesichter, patrouillierendes Militär mit Beretta M12 an jeder Ecke (wollen die eigentlich auf das Virus schießen?) und hinter jeder Gardine eine potenzielle Petze – man wird das dumpfe Gefühl, Netflix habe die Rechte an der Realität gekauft, einfach nicht mehr los. Die Neuverfilmung der Normalität beeindruckt dabei in ihrer plastischen Didaktik: Wer schon immer mal wissen wollte, warum, wenn die Nacht am dunkelsten, die Instinkte am niedersten sind, wird jetzt Antworten finden. Nun wird Geschichte gelebt! Aber lassen wir es mal so dahingestellt, dass Denunziantentum toxisch für die Demokratie ist – das dürfte selbst bei einem nur mittelmäßigen Mittelschulabschluss jeder*m klar sein – schauen wir uns lieber an, ob Sie mit gezücktem Fotoapparat hinter Ihrer Küchengardine dem Schutze der allgemeinen Gesundheit tatsächlich dienlich sind.

Nun ist es nachvollziehbar, dass Sie verunsichert sind und Angst haben. Und vielleicht sind Sie überzeugt, dass dieser ganze Mist, wenn Sie nur fleißig genug andere melden, schneller weg ist. Das ist aber leider, in aller Deutlichkeit, kompletter Humbug. Es ist nicht weg, wenn Sie bis zum dritten Mai schön Stasi spielen: Das Virus ist gekommen, um zu bleiben. Das zieht nicht in vier oder vierzig Wochen seine kleinen Glycoproteinbeinchen ein und trollt sich zurück zur Fledermaus. Corona wird kein Neunzigminüter, das wird ein Mehrteiler. Weil wir unmittelbar keinen Impfstoff dagegen haben werden und weil die staythefuckhome-Denunzianten-Methode bekanntlich paradox wirkt: Je wirksamer die Isolation, desto größer ist die Gefahr einer „zweiten Welle“.

Das heißt nicht, dass die Maßnahmen sinnlos sind, aber es heißt, dass wir mit dem Virus leben lernen müssen. Denn wir können nicht bis zum heiligen St. Nimmerleins-Nullinfektions-Tag die Menschen alleine sterben und gebären lassen, sie einsperren und verpfeifen. Das können wir nicht nur aus demokratietechnischen Gründen nicht, sondern auch deswegen, weil man auf Dauer nicht 100% der Ressourcen für 1% aller Erkrankungen bündeln kann. Man rettet ja auch keine Ertrinkenden, indem man andere von Bord schubst. Es wird grad nämlich nicht nur entschieden, wer ein Beatmungsgerät bekommt, sondern auch, wessen Tumor operiert wird. Wenngleich es momentan bei uns noch halbwegs läuft, hat die Deutsche Krebsgesellschaft neulich vorsichtig daran erinnert, dass „die Bedrohung Krebs rein quantitativ eine ganz andere Dimension als Corona“ hat.

Missbrauch und Infarkte passieren trotzdem und unter den ungünstigen Lebensumständen möglicherweise sogar häufiger. Nur ungesehen und ungebremst.

Jetzt müssen Sie nicht gleich wieder rumschreien, das ist kein Bagatellisieren des Virus, weil wissen Sie was: Krankenversorgung ist kein Eurovision Contest, da gibt’s am Ende keinen Gewinner – da sind alle gleichermaßen die Verlierer. Österreich vermeldet 40 Prozent weniger Herzinfarkte in den Ambulanzen und die Telefone unserer Jugendanwältin klingeln nicht mehr, aber Missbrauch und Infarkte passieren trotzdem und unter den ungünstigen Lebensumständen möglicherweise sogar häufiger. Nur ungesehen und ungebremst.

„Überdies starben auch viele, die vermutlich am Leben geblieben wäre, wenn man ihnen Hilfe gebracht hätte“, hat übrigens schon Boccaccio um 1350 über den Umgang mit dem schwarzen Tod notiert. Und diesen Gedanken sollte man vor dem Hintergrund, dass SARS-CoV-2 kein einmaliger Blockbuster, sondern ein Sequel ist, ausnahmsweise weiterdenken: Bekanntlich erwischen Erreger verarmte und gestresste Populationen stets viel ärger als wohlhabende und fitte. Deswegen wird die mögliche COVID-Winterversion 20/21, wenn die Arbeitslosigkeit und die Armut zugenommen und das Immunsystem und die Resilienz abgenommen haben, gewiss kein Spaziergang werden. Bleibt zu hoffen, dass uns diese Puntata erspart bleibt.

Maßnahmen mit Kollateralschäden

Was ich damit sagen will: Wir fischen im Trüben, die Evidenz für unser präventives Tun und damit für Ihr Denunziantentum ist vage. Genau genommen wissen wir nur, dass wir mit der Isolation eine punktuelle Überlastung des Gesundheitssystems verhindern, aber (noch) nicht, womit wir das Virus verjagen und welche Konsequenzen die Kollateralschäden nach sich ziehen werden. Welches Maßnahmenpaket letztlich das Beste gewesen wäre, werden wir erst in einiger Zeit analysiert haben.

Unterm Strich ist möglicherweise die Ausgangssperre weniger effizient als „nur“ eine Kontaktsperre. Deswegen täten Sie vielleicht sogar besser daran, Nachbars Neffen nicht zu verpfeifen, sondern zu hoffen, dass er sich ansteckt und möglichst bald immunisiert, damit Sie dann vom Herdenschutz profitieren können. Das wissen wir zwar auch nicht mit Sicherheit, aber vielleicht kann das als kleine Gedankenanregung Ihren honeckerschen Herzmuskel beim Observieren hinter der Küchengardine zwischendrin mal entspannen.

Solange sich außerdem die Hauptübertragung in Bürgerheimen und Krankenhäusern als nosokomiale* Infektion abspielt – etwa wegen mangelhafter Schutzausrüstung – können Sie zuhause Mundschutze häkeln (bitte enge Halbstäbchen, dann entsprechen sie der chinesischen Qualität), bis Sie schrumpelig werden. Was Sie dann auch tatsächlich werden, denn die Folgen von Isolation sind gut belegt: Einsamkeit wird mit erhöhten Vorkommen von vaskulären und neurologischen Erkrankungen und vorzeitigem Sterben assoziiert und begünstigt die Progression bereits bestehenderErkrankungen. Angstzustände, wie sie asoziale Isolation auszulösen vermag, erhöhen außerdem besonders bei Personen ab 75 vorzeitige Mortalität und natürlich ist auch die verminderte körperliche Aktivitätlangfristig gesundheitsschädigend.

Die sind Ihnen doch auch sonst herzlich wurscht, die Alten und die Kranken. Und dem Staat auch.

Die aktuellen Maßnahmen stellen uns damit gerade bei der Hochrisikogruppe der älteren Menschen in Seniorenwohnheimen vor ein präventivmedizinisches Dilemma: Auf Dauer ist keine Wahl die gute Wahl. Apropos Hochrisikogruppe, da muss ich kurz einhaken, weil gerade so viele eine Lanze für die Älteren brechen: Seit Jahren imponiert mir in meiner Arbeit mit AlzheimerpatientInnen wenig so viel, wie die Gleichgültigkeit der Gesellschaft. Die sind Ihnen doch auch sonst herzlich wurscht, die Alten und die Kranken. Und dem Staat auch, der jährlich, ohne mit der Wimper zu zucken, Tausende in die Altersarmut schickt und damit für einen Großteil das vorzeitige Ableben zumindest statistisch gesehen besiegelt.

Um aber auf unseren Blockbuster zurückzukommen: Wer also sagt, eine Lockerung der Maßnahmen sei ein Gesundheitsrisiko, hat recht. Wer sagt, die langfristige Beibehaltung der Maßnahmen sei ein Gesundheitsrisiko, auch. Das offene Messer, in das wir seit Wochen laufen, ist tatsächlich ein zweischneidiges. Schon klar, wenn man vorher an einer Infektion stirbt, braucht man sich später auch keine Sorgen mehr über Sekundärschäden machen, deswegen müssen Maßnahmen priorisiert werden.

Auf Dauer muss man die Risikobewertung aber adaptieren, weil sich die Gewichtung unter Einbezug von Sekundärschäden verschiebt – und hier führt aus dem Dilemma der falschen Entscheidungen und Mehrfachbedrohungen wie so oft der goldene Mittelweg der Mehrebenenintervention. Sprich: Wir ergänzen und ersetzen die aktuellen Maßnahmen allmählich mit gezielteren. Schützen die Hochrisikogruppen, priorisieren den Schutz von Heimen und Krankenhäusern vor nosokomialen Übertragungen, ermöglichen Kindern und Jugendlichen ihre Bildung und Bewegung unter Einhaltung von hygienischen Rahmenbedingungen, gestalten Arbeitsplätze sicher und lernen als Gesellschaft mit unserer Diagnose COVID, ihren Risiken und Vorsichtsmaßnahmen zu leben. Und bitte: Wir lassen (gesunde) Angehörige endlich in Schutzkleidung zu den Sterbenden vor.

Das habe ich mir übrigens nicht grad unter der Dusche für Sie ausgedacht, das sind die bekannten Grundprinzipien der Prävention und die sind von vielen unterschiedlichen ExpertInnen schon seit Wochen mantraartig wiederholt worden sind. Betonung auf „unterschiedlich“ angesichts des monophonen Chorus der Virolog*innen: Diese Krise, die weit mehr als ein medizinisches Problem ist, lösen wir entweder interdisziplinär oder gar nicht. Und ganz gewiss nicht mit einem Heer von Denunziant*innen im Rücken.

Diese Krise, die weit mehr als ein medizinisches Problem ist, lösen wir entweder interdisziplinär oder gar nicht.

Sie brauchen sich außerdem nicht zu sorgen, dass es die Ordnungskräfte nicht ohne Sie schaffen. Die arbeiten hierzulande recht fleißig daran, den Ruf der Exekutive nachhaltig zu schädigen, wenngleich unterschiedlich willkürlich: Während man im Vinschgau teils noch im Wald hinterm Haus spazieren darf, ist in Brixen ab nächster Woche auch das private Ein- und Ausatmen im Freien strengstens untersagt: Weil der Staat seit Jahren zu blöd war, in Gesundheit, Pflege und Forschung und beizeiten in Beatmungsgeräte zu investieren, muss der Pöbel jetzt die Luft anhalten für die, die sie dringender brauchen. Allerdings genießen Hunde aufgrund der UN-Hunderechtskonvention bemerkenswerte Bewegungsfreiheit und dürfen den 200m-Käfig verlassen – ein unglückliches Versäumnis, dass es ein vergleichbares Rechtskonstrukt für Kinder nicht gibt.

Aber Galgenhumor beiseite, denn so lustig ist das Ganze ja tatsächlich nicht: Analog zu den überzogenen Übergriffen der Staatsgewalt gefährden Sie mit Ihrem Denunzieren nicht nur den Zusammenhalt, sondern die Gesundheit aller. Wenn sich die kollektive „disaster fatigue“, also die Katastrophenmüdigkeit, die im Moment aus jedem Wohnungsfenster wie Bratenduft zieht, aufschaukelt bis es kippt, gibt’s mehr Kranke und weniger Kooperation. Ihr Nachbar entlastet, wenn er allein auf einer Parkbank sitzt oder sich die Füße vertritt, das Gesundheitssystem mehr, als dass er es belastet – und ganz gewiss ist er damit kein Infektionsrisiko.

Und wenn Sie jetzt maulen, dass wir aktuell echt Wichtigeres zu tun haben, als uns um die paar Depressiven und das bisschen Demokratie zu kümmern, denken Sie dran, dass die „Gibt-grad-Wichtigeres“-Leier uns überhaupt erst soweit brachte: Wir hatten ja immer Wichtigeres auf dem Schirm als die Krankenhaushygiene mit ihren multiresistenten Keimen (und da ist – Überraschung – Italien europaweit ganz vorne beim Sterben mit dabei), den Ausbau der Pflege, die Forschung und den Schutz der Umwelt. Wichtigeres wie zum Beispiel in wirtschaftliches Wachstum, zunehmende Urbanisierung und Globalisierung zu investieren – und dass diese drei Grundpfeiler des Großgurkenkapitalismus die Gefahr von Zoonosen – also von Tieren auf Menschen übertragene Infektionskrankheiten – erhöhen, ist in der Wissenschaft schon seit Jahren bekannt.

Der Plagg’sche Plagencheck

Für die Momente, wo Sie jetzt noch immer zweifeln und nicht wissen, was Sie hinter Ihrer Gardine tun sollen, habe ich noch einen einfachen Algorithmus, den Plagg’schen Plagencheck, im handlichen Format basierend auf drei Fragen für Sie. Erstens: Trage ich eine Kopfbedeckung mit Granatenemblem (nein, das ist kein Blumenstrauß im Wind) und Hosen mit rotem Längsstreifen und bin deswegen befugt, staatliche Maßnahmen zu exekutieren? Zweitens: Verfüge ich über sämtliche anamnestische Infos zu Nachbars Neffen und kann außerdem gleichzeitig in sein Serum und unser aller Zukunft blicken und daher – gottgleich – abschätzen, ob er gerade sich selbst, seinen Nächsten oder das Gesundheitssystem gefährdet? Falls Sie eine der beiden Fragen mit Ja beantworten konnten, walten Sie Ihres Amtes, ansonsten gehen Sie bitte zu Frage drei über: Hat mir die häusliche Isolation inzwischen den letzten Rest Frontallappen frittiert?

Wenn Sie auch die letzte Frage mit Nein beantworten können, hören Sie bitte auf im Namen von zweifelhaften Notstandsregularien uns oder anderen Redaktionen anonyme Mails mit einem Dropbox-Link voller Fotos von einzelnen Menschen auf Straßen zu schicken, Familien bei der Kindesübergabe zu fotografieren, Mütter mit schlafenden Babys von den Straßen zu scheuchen oder den Freiwilligen der Caritas bei der Einkaufshilfe „pure quella stronza gira“ vom Balkon aus nachzubrüllen.

Schon Hippokrates wusste, dass verzweifelte Zeiten verzweifelte Maßnahmen erfordern. Aber auf Dauer kommen wir den verzweifelten Zeiten nur mit humanistischer Größe, integrativer Wissenschaft und zielgruppenorientierten Maßnahmen bei. „In dieser allgemeinen Entfremdung (…) verließen gar manche dieses Leben ohne die Gegenwart eines einzigen Zeugen“, sind übrigens keine Zeilen aus Hollywoods Blockbuster „Contagion“, sondern aus dem Decameron. Boccaccio wollte außerdem lieber „darüber schweigen, dass ein Bürger den anderen mied und die fürchterliche Heimsuchung Verwirrung in den Herzen der Männer und Frauen gestiftet hatte.“ Sechshundertsiebzig Jahre später liegt es in unser aller Verantwortung und Zutun, dass diese alten Zeilen nicht zum Leitmotiv im Drehbuch unserer Gegenwart werden.

* Eine nosokomiale Infektion ist eine, die im Zuge eines Aufenthalts oder einer Behandlung in einem Krankenhaus oder einer Pflegeeinrichtung auftritt.

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