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Illustrations by Sarah
Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 30.11.2021
MeinungKommentar zur Impfdebatte

Als ob alle Schwurbler wären

Die Impfverweigerer sollen allein schuld daran sein, dass die Intensivstationen wieder am Limit sind. Das ist ein fragwürdiger Vorwurf - und hat Folgen.
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Etwas ist dieses Mal anders. Die Polarisierung, die Frontenrhetorik, das Einander-in-Schubladen-Stecken: Das alles hatten wir schon. Dass aber jetzt nicht mehr Emotionen und vage Ängste, sondern handfeste Statistiken und wissenschaftliche Studien ins Feld geführt werden, um sich gegenseitig fertigzumachen, ist neu. Das hat es bei früheren Debatten, etwa bei der Flüchtlingskrise, kaum gegeben.

Sobald es ums Interpretieren geht, werden die Zahlen dann aber doch wieder nach Belieben gedeutet und verdreht. Fast die Hälfte der mit Corona hospitalisierten Ü60-Fälle seien geimpft, verlautete kürzlich ein Wochenbericht des deutschen Robert-Koch-Instituts. Also kein Schutz durch eine Impfung?

Impfgegner, die sich durch diese Nachricht bestätigt sahen, hatten eines wohl übersehen: Sie waren dem sogenannten Prävalenzfehler aufgesessen. Weil fast 90 Prozent der Ü60-Bevölkerung geimpft ist, ist der Anteil der hospitalisierten Geimpften an der Gesamtgruppe der Geimpften um ein Vielfaches niedriger als der Anteil der Ungeimpften an der Gesamtgruppe der Geimpften, auch dann, wenn die Bettenbesetzung ausgeglichen ist.

Fazit: Die Impfung wirkt. Auch die Situation in Südtirol lässt keine anderen Schlüsse zu, selbst wenn man dem Prävalenzfehler nicht mitberücksichtigt: Am Krankenhaus Bozen machen die Ungeimpften 80 Prozent der Covid-Patienten aus.

Keine Pandemie der Ungeimpften

So viel zu den Zahlen und den Schlüssen, die sich daraus ziehen lassen. Dass die Impfung gegen schwere Covid-Verläufe schützt, ist eine aufgrund der bislang vorliegenden Daten unbestreitbare Erkenntnis. Die Schlussfolgerung, dass die Ungeimpften deshalb allein für die erneute Notlage verantwortlich sind, ist jedoch schon um einiges weiter hergeholt. So sehr, dass ihr führende Virologen und Infektiologen widersprechen.

Auch Geimpfte tragen das Virus weiter, an andere Geimpfte, an Impfverweigerer und an Ungeimpfte, die sich gar nicht impfen lassen können.

Die aktuelle Pandemie ist, wie auch der deutsche Virologe Christian Drosten neulich bekräftigt hat, keine Pandemie der Ungeimpften. In der geimpften Öffentlichkeit wurde Drosten aufgrund dieser Aussage heftig kritisiert. Wer sei denn sonst schuld an den vollen Intensivstationen, wenn nicht die Ungeimpften, die den Großteil der Patienten ausmachen?

Aber Drosten hat für sein Statement gute Gründe. Denn auch die Geimpften spielen beim Infektionsgeschehen weiterhin eine bedeutende Rolle, wie der Mediziner Günter Kampf in der medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ klarstellt. Die Impfung reduziert zwar das Risiko, an Covid zu erkranken, deutlich, doch auch bei Geimpften braucht die Immunantwort eine gewisse Zeit, während das Virus bereits im Körper ist. In dieser Zeit sind auch Geimpfte ansteckend – sogar genauso ansteckend wie Ungeimpfte, wie einige Studien nahelegen. Allerdings nimmt die Viruslast bereits nach rund drei Tage deutlich ab, anstatt erst nach sieben Tage, wie bei Ungeimpften.

Auch Geimpfte tragen das Virus also weiter, an andere Geimpfte, an Impfverweigerer und an Ungeimpfte, die sich, beispielsweise wegen einer Autoimmunerkrankung, gar nicht impfen lassen können. Bei „The Lancet“ kommt man deshalb zum Schluss: Die Stigmatisierung der Ungeimpften ist nicht gerechtfertigt.

„Egoisten! Schwurbler! Asoziale!“

Dessen ungeachtet, ist die Stigmatisierung im vollen Gange. Die Anfeindungen haben den anarchischen Boden der Kommentarspalten schon längst verlassen und die vordersten Ränge in der Arena der öffentlichen Meinungsmache erreicht: Leitartikel, Talk-Shows, Pressesitzungen. Dort werden die Ungeimpften als unverantwortlich, egoistisch und tyrannisch gebrandmarkt.

Das würde sogar zutreffen, wenn es sich bei allen Impfverweigerern durchwegs um fanatische Verschwörungstheoretiker, die ihre Angst vor der Spritze durch abstruse Argumente und kindische Opferhaltung rechtfertigen, handeln würde. Aber ist dem so? Die Ungeimpften machen in der impfbaren Bevölkerung in Südtirol aktuell noch immer mehr als 20 Prozent aus. Sind das alles Spinner, Nazis, Esoteriker?

Das ist eine Frage, die sich mit Studien und Daten nicht so leicht beantworten lässt wie die Impfeffektivität. Schauen Sie sich deshalb am Besten selbst in Ihrem Bekanntenkreis um. Statistisch ist einer auf 5 noch nicht geimpft. Reden Sie mit ihm oder mit ihr. Fragen Sie nach den Gründen.

Nicht alle Impfverweigerer sind ausnahmslos Verschwörungstheoretiker, Radikale und Systemskeptiker. Sie können es aber werden.

In den meisten Fällen werden Sie keine Aluhutgeschichten und Chips-Legenden zu hören bekommen. Oft sind es aber Haltungen des Trotzes („Wenn man mich zu etwas zwingen will, mache ich es erst recht nicht“), Fatalismus („Wenn wir krank werden sollen, dann werden wir eben krank“) oder ein irrationales Unbehagen vor der Impfung, vergleichbar mit Flugangst („Ich erkenne den Nutzen der Impfung an, trotzdem bringe ich’s nicht übers Herz, mir eine fremde Substanz in den Körper spritzen zu lassen“). Entscheiden Sie dann selbst, wie Sie mit diesen Menschen reden: Beschimpfen Sie sie oder versuchen Sie es mit einem Austausch von Sichtweisen und Argumenten?

Nicht alle Impfverweigerer sind ausnahmslos Verschwörungstheoretiker, Radikale und Systemskeptiker. Sie können es aber werden, wenn sie in die Ecke gedrängt werden. In dieser Hinsicht ist bereits die Entscheidung zahlreicher EU-Staaten, Ungeimpfte aus dem öffentlichen und sogar aus dem Arbeitsleben auszuschließen, bedenklich. Sie mag den Anteil der Geimpften zwar um einige Prozentpunkte erhöht haben, doch die langfristigen gesellschaftlichen Schäden, die Spaltung und die Frontenbildung, die dadurch entstehen, werden uns noch lange erhalten bleiben.

Genau aus diesem Grund wurde eine Impfpflicht noch Anfang des Jahres von Politikern kategorisch ausgeschlossen. Doch das ändert sich gerade. Zunehmend machen sogar Vorschläge die Runde, im Falle der Triage auf Intensivstationen geimpfte Patienten den ungeimpften vorzuziehen. Das wäre nicht nur spaltend und destruktiv für den Zusammenhalt der Gesellschaft, sondern würde ein fundamentales Menschenrecht, das Recht auf medizinische Behandlung unabhängig von Herkunft, Sprache, Kultur, Religion, Beruf, sozialem Status und politischer Einstellung, infrage stellen. Auch das hat es bei früheren polarisierenden Debatten noch nicht gegeben.

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