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Petra Schwienbacher
Veröffentlicht
am 21.08.2018
LebenKinder- und Jugendpsychiatrie in Südtirol

Wenn Kinder leiden

Veröffentlicht
am 21.08.2018
Es gibt keine psychische Störung zum 18. Geburtstag. Schon Kinder können davon betroffen sein, was aber oft erst spät erkannt wird.
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Martin konnte noch nie gut stillsitzen. Es fiel ihm immer schwer, sich zu konzentrieren – vor allem in der Schule. Der Bub beschäftigte sich hektisch mit neuen Aufgaben, die er kaum mal zu Ende brachte. Stattdessen widmete er sich wieder neuen Dingen. Stets unruhig und abgelenkt. Den Lehrern war das schon länger aufgefallen. Seinen Eltern nicht.

Den Eltern fiel nur auf, dass ihr Sohn beim Mittagessen manchmal so stark hin und her zappelte, dass er aus Versehen Dinge umstieß. Ärgerlich. Aber darüber, dass mit Martin etwas nicht stimmen könnte, haben sie erst nachgedacht, als er in der Schule immer öfter auch aggressiv wurde. Nach mehreren Vorfällen suchten sie mit Martin einen Psychologen auf. Dort stellte sich heraus: Er leidet an einer der häufigsten psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen – an ADHS, dem „Zappelphilipp-Syndrom”.


In der heutigen Zeit häufen sich psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen.

Von insgesamt 104.000 Kindern und Jugendlichen zwischen null und 18 Jahren in Südtirol leiden circa 3.500 an einer psychischen Erkrankung.

In Wirklichkeit heißt Martin nicht Martin und auch die anderen Betroffenen, die mit BARFUSS gesprochen haben, wollen anonym bleiben. Die Angst, erkannt zu werden, ist zu groß. Ebenso die Scham. Dabei ist die Zahl der Betroffenen nicht gering: Von insgesamt 104.000 Kindern und Jugendlichen zwischen null und 18 Jahren leiden circa 3.500 an einer psychischen Erkrankung, die behandlungsbedürftig ist, so Andreas Conca, Koordinator der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Meran.

Die häufigsten psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen sind neben ADHS auch Autismus, soziale Phobien, Zwangsstörungen und Angstentwicklungen. Bei Jugendlichen kommt die Abhängigkeit von Drogen und Alkohol dazu, sowie Internet- und Computersucht.

Wie Erwachsene können auch Jugendliche bereits an Depressionen oder bipolaren Störungen erkranken. Und es gibt im Jugendalter bereits die ersten Manifestationen von Psychosen. Conca sagt: „Es gibt familiäre Situationen oder Missbrauchsfälle und sexuelle Übergriffe, die bei Kindern und Jugendlichen zu einem Trauma führen.“ Und dieses Trauma kann zu ernsten psychischen Erkrankungen führen.

Derartige psychische Erkrankungen nehmen immer mehr zu. Zum einen, weil sie heute früher erkannt werden, zum anderen, weil zurzeit eine Gesellschaftsumstrukturierung stattfindet. Bestimmte Störungen wie Angststörungen, Schulverweigerung oder Alkohol- und Drogenmissbrauch wären vor einigen Jahrzehnten vielleicht nicht im selben Maße ausgebrochen, wie sie es heute tun. Vor allem Essstörungen sind heutzutage weit verbreitet – auch unter Jugendlichen. Anna ist eine der Betroffenen.


Bereits mit elf Jahren ans Abnehmen denken: pubertäre Phase oder Störung?

Anna ist die älteste von zwei Schwestern. Bereits mit elf Jahren fängt sie an, ans Abnehmen zu denken. Alles dreht sich ums Dünnsein. Ihre Eltern machen sich Sorgen, suchen eine Psychologin auf. Die ist sich nicht sicher. Pubertäre Phase oder Störung? Die Eltern sollen ihre Tochter erst mal beobachten.

Schon bald beginnt Anna nach dem Essen zu erbrechen. Ein Schock für die Eltern. Sie fühlen sich machtlos, denn je häufiger sie ihre Tochter darauf ansprechen, desto mehr zieht sie sich zurück. Bei der Psychologin blockiert das Mädchen komplett.

Nach der Mittelschule wird es immer schlimmer. Anna hat Selbstmordgedanken, isst immer weniger und nimmt immer mehr ab. Die Eltern wollen sie nicht „irgendwo hineinstecken“ und gehen ins Krankenhaus. Zwei Monate kommt sie auf die Kinderpädiatrie, um zuzunehmen. Zu der Zeit wiegt Anna 45 Kilogramm bei einer Größe von 1,60.


Vor allem Essstörungen sind heutzutage weit verbreitet – auch unter Jugendlichen. Anna wog bei einer Größe von 1,60 Metern nur 45 Kilogramm.

Annas Blutwerte sind schlecht, das Kalium niedrig. Ärzte sagen damals, es bestehe die Gefahr, dass ihr Herzmuskel plötzlich aufhört zu arbeiten. Eine Horrorvorstellung für die Eltern und auch für Anna ein Schock. Nach einigen Tagen hin- und herpendeln zwischen Krankenhaus und Zuhause, sieht das Mädchen selbst ein: es will sich helfen lassen. Also fährt die Mutter mit ihrer Tochter in die Kinder- und Jugendpsychiatrie nach Meran. Hier befindet sich die einzige derartige Abteilung Südtirols. Mit zwölf Betten.

Bei rund dreieinhalbtausend psychisch kranken Kindern und Jugendlichen erscheint diese Zahl einigen Betroffenen, mit denen BARFUSS gesprochen hat, zu niedrig. Doch Conca hält dagegen, dass die Anzahl der Betten vollkommen ausreiche: „Südtirol ist im Verhältnis zu Italien super ausgerüstet.“ Italienweit gibt es zum Vergleich nur 84 solcher Betten. Bei Betroffenen, die eine längerfristige Beobachtung und vertiefende Diagnostik wünschen, könne es aber durchaus zu längeren Wartezeiten kommen, räumt der Koordinator der Kinder- und Jugendpsychiatrie ein. Für Notfälle und Krisen seien aber immer Plätze frei. Für Notfälle wie Anna.

Anna und ihre Mutter bleiben damals drei Nächte in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dann fleht Anna: „Mama, lass mich ja nicht hier.“ Die Mutter unterzeichnet ein Formular und nimmt ihre Tochter gegen ärztlichen Rat wieder mit nach Hause.


Zwei Monate verbringt Anna im Krankenhaus, um zuzunehmen.

Neben der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Meran gibt es in allen vier Südtiroler Bezirken eine sogenannte Fachambulanz für psychosoziale Gesundheit im Kindes- und Jugendalter. In Bruneck, Brixen, Bozen und Meran. In all diesen Ambulanzen gibt es jeweils einen Kinder- und Jugendpsychiater, Psychologen, Sozialarbeiter und Sozialpädagogen, Tanztherapeuten, Ergotherapeuten, Pfleger und Musiktherapeuten. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie Meran sind sechs Kinder- und Jugendpsychiater tätig. Landesweit sind es insgesamt 16. Zu wenige, findet Annas Mutter. „Es fehlen Ressourcen. Das habe ich immer angeprangert.“

Die Mutter ist der Meinung, ihre Tochter hätte nur dürftige psychologische Betreuung bekommen. „Im Krankenhaus sollten regelmäßige Sitzungen mit Eltern und Kindern stattfinden, in denen Psychologen mit den Jugendlichen Gespräche führen. Die gab es aber nur selten und oft zwischen Tür und Angel“, klagt sie. Auch andere betroffene Eltern bemängeln die psychologische Betreuung in den Fachambulanzen. Annas Mutter ging so weit, dass sie diese Mängel im Landtag vorbringen wollte. Gemeinsam mit Annas Psychologin. „Sie hat aber zu mir gesagt, sie kann nichts sagen, weil sie dann gekündigt werden könnte“, sagt Annas Mutter. Auch andere Psychologen, mit denen BARFUSS über das Thema sprechen wollte, lehnten ein Interview ab. Niemand wollte über das Thema fehlende Ressourcen sprechen.

Ein weiteres Manko, das manche Eltern anprangern: In der Kinder- und Jugendpsychiatrie sind nur zwei von den sechs Psychiatern zweisprachig. Vier stammen aus dem italienischsprachigem Raum und sprechen kaum Deutsch. Conca erklärt: „Dieser Einschränkung, wenn sie denn eine ist, stellen wir Psychologen entgegen, die alle zweisprachig sind. Wir haben aber niemanden der ladinischsprachig ist.“ Das sei eher ein Problem.

Der Koordinator der Kinder- und Jugendpsychiatrie Meran sieht das Problem nicht im Ärztemangel oder den Behandlungsmethoden, sondern woanders: „Es braucht in Südtirol raschere Früherkennungen für Kinder- und Jugendliche.“ Je früher und je konkreter man eine Erkrankung ausschließen oder auch finden könne, desto besser. „Früherkennung ist immer noch die beste Behandlung.“ Doch sich eine psychische Erkrankung einzugestehen, fällt den Betroffenen nicht leicht. In der Gesellschaft werden diese Erkrankungen immer noch tabuisiert.

„Es fehlen Ressourcen. Das habe ich immer angeprangert.“

Annas Mutter

Sich eine psychische Erkrankung einzugestehen, fällt den Betroffenen nicht leicht. Psychische Störungen sind in der Gesellschaft immer noch tabu.

Verständnis und Mitleid sind begrenzt, die Betroffenen gelten vielfach immer noch als „Verrückte“, als „Psychos“ oder gar als potenziell gefährlich. Conca sagt dazu: „Die Gesellschaft muss sensibilisiert werden. Es ist eine wissenschaftliche und medizinische Disziplin, die gute Heilungschancen anbietet. Und es ist wichtig, früh zu handeln, damit es zu keiner chronischen Erkrankung kommt.“ Früherkennung ist also wichtig. Aber können Eltern oder Lehrer psychische Erkrankungen frühzeitig erkennen? „Nein“, sagt Conca. „Aber sie können sensibel und aufmerksam hinhören und hinschauen.“

Verändert sich das Kind über eine normale Zeitspanne hinaus?
Hält eine Schlafstörung oder Essstörung über einen längeren Zeitraum an?
Ist das Kind immer traurig?
Hat es Bauch- oder Kopfschmerzen, die nicht mehr weggehen wollen?

Dann sollten die Eltern laut Conca Hilfe aufsuchen. „Das heißt noch lange nicht, dass das Kind oder der Jugendliche psychisch krank ist, aber es ist ein Zeichen dafür, dass irgendwas los ist. Da darf man dann auch keine Scheu haben, mit dem Kinderarzt, Hausarzt oder mit Freunden darüber zu sprechen.“ Auch Lehrer sollten die Augen offenhalten. Vor allem bei Kindern, die sich immer mehr zurückziehen, häufig alleine dastehen oder gemobbt werden.


Eltern und Lehrer sollten die Augen offenhalten, vor allem bei Kindern, die sich immer mehr zurückziehen.

„Würde man früh genug Hilfe suchen, könnte man oft auch Schlimmeres und sogar Selbstmorde verhindern.“

Andreas Conca

Auch wenn immer noch viele Eltern Angst vor einer „Übermedikalisierung“ haben und deswegen oft erst spät einen Spezialisten aufsuchen, ist es in Südtirol laut Conca eher so, dass manche Erkrankungen gar nicht erkannt werden. „Eher lassen wir hier etwas zu spät behandeln, wodurch Kinder- und Jugendliche oft die Möglichkeit einer entsprechenden Behandlung verpassen. Würde man früh genug Hilfe suchen, könnte man oft auch Schlimmeres und sogar Selbstmorde verhindern.“

Denn nicht allein die Störung ist das Problem, sondern das Leiden, die Lebensqualität, die Entwicklungsbehinderung und die dadurch gestörten sozialen Kompetenzen. Werden psychische Erkrankungen nicht oder zu spät erkannt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Betroffenen im Erwachsenenalter schwere psychiatrische Erkrankungen entwickeln. „Bevor ein Kind oder Jugendlicher in Südtirol zum Psychiater kommt, wird meist bereits viel anderes probiert“, so Conca. Wie bei Anna.

Nach dem Krankenhausaufenthalt und der Nacht in der Kinder- und Jugendpsychiatrie will Anna alleine an sich arbeiten. Es alleine wieder in die Normalität schaffen. Doch sie fällt wieder in die alten Muster. Isst, bricht, isst, bricht. „Oft möchte ich sie am liebsten packen und rütteln, aber ich möchte es nicht schlimmer machen, also sind wir einfach für sie da,“ so ihre Mutter.

Nach einigen Jahren und dutzenden Gesprächen mit ihrer Psychologin geht es für Anna, sie ist jetzt 17 Jahre alt, nun in kleinen Schritten positiv voran. Sie hat zugenommen, besucht Konzerte mit ihren Freunden, fühlt sich wohl in der Schule und strahlt wieder Lebensfreude aus. „Es hat sich wieder alles langsam, langsam normalisiert … es fühlt sich wieder nach Leben an“, sagt Annas Mutter.

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