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Julia Tapfer
Veröffentlicht
am 26.04.2016
LebenAltgraun

Ein Dorf unter Wasser

Veröffentlicht
am 26.04.2016
Manuel Moriggl ist 20, Eleonora Eberhart 81. Der Reschensee ist sein Sporteldorado, sie verlor bei der Stauung 1950 ihre Heimat. Zwei Generationen, zwei Blickwinkel auf den See.
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„Die Erde reißt auf. Es schaut aus wie eine Wüste.“

„Im Frühling, wenn das Eis schmilzt und das Wasser vom Stausee langsam abgelassen wird, bleibt nur eine kahle Fläche. Die Erde reißt auf. Es schaut aus wie eine Wüste“, sagt Eleonora Eberhart nachdenklich. Diese Wüste war einst die Heimat der heute 81-Jährigen. Weite, saftige Wiesen und Äcker, alte Bauernhäuser und die klassizistische Kirche mit dem fast 600 Jahre alten Kirchturm. Altgraun. Im Sommer 1950 für den Bau des Reschenstausees überflutet. Als Zeugnis dieser vormaligen Heimat ragt heute nur noch der Kirchturm aus dem Wasser empor. Weil er unter Denkmalschutz steht, durfte er nicht gesprengt werden. Das Postkartenmotiv ist weit bekannt, Touristen auf der Durchreise bleiben am Parkplatz stehen, um den stummen Zeitzeugen zu fotografieren.

Es gibt viele Geschichten über Altgraun und die Seestauung – vom „schworz’ Trinali“, einer alten Dame, die ihr Heim selbst dann nicht verlassen wollte, als das Wasser bereits das Erdgeschoss ihres Hauses geflutet hatte, und weggetragen werden musste; oder von abgewanderten Alten, die den Verlust der Heimat nie verarbeiten konnten und schließlich am Verdruss starben. Heute erzählt aber Eleonora Eberhart ihre eigene Geschichte – unaufgeregt und ruhig sitzt sie auf der Eckbank ihrer Küche in Reschen und erinnert sich.


Die „Wüste” am Reschensee.

Eleonora Eberhart wurde 1934 geboren und verbrachte ihre ersten 16 Lebensjahre mit den Eltern und sieben Geschwistern in Altgraun. Die Familie lebte auf einem Bauernhof, hatte einige Stück Vieh und Weideflächen. Eleonora wuchs in einfachen Verhältnissen auf – „Hunger gelitten haben wir aber nie, auch im Krieg nicht“, betont die rüstige Frau. „Wir haben schon als Kinder zu Hause mitgeholfen, noch bevor ich eingeschult wurde, habe ich vom Vater so eine kleine Heugabel bekommen“, erzählt Frau Eberhart und deutet mit den Händen das kleine Werkzeug an. Dann muss sie lachen. 

„Hunger gelitten haben wir nie, auch im Krieg nicht.“

Die Schulzeit war von vielen Umbrüchen geprägt. Als Eleonora einschulte, waren bereits die Deutschen einmarschiert – der Unterricht wurde wieder auf Deutsch abgehalten, nicht wie die Jahre davor, „da war nur walsche Schule“. Aber weil die deutschen Soldaten im Schulhaus wohnten, erhielten die Schüler nur ein paar Mal in der Woche in einem Privathaus Unterricht. „Wir haben eine schlechte Ausbildung gehabt“, erinnert sich Frau Eberhart, „aber wir sind alle durchgekommen.“ Nach der Volksschule arbeitete Eleonora weiter zu Hause mit, danach nahm sie eine Stelle als Küchenhilfe in der Schweiz an. Damals wie heute war der Verdienst dort besser. „In der Schweiz habe ich dann Walsch gelernt, da waren alles Italiener“, erzählt sie. In der letzten Volksschulklasse gab es zwar eine Stunde Italienisch, aber die Schüler hätten sich dagegen gewehrt: „Wir wollen kein Walsch! haben wir so lange geschrien, bis der Lehrer aufgehört hat“, schmunzelt die 81-Jährige.

„Wir wollen kein Walsch!”

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Bei der Frage, wann sie denn das erste Mal von der Seestauung gehört hätte, nimmt Frau Eberharts Gesicht ernstere Züge an: „Kurz vor dem Krieg.“ Während des Zweiten Weltkrieges sei der Bau ins Stocken geraten, danach habe man aber gleich gehört, dass weitergebaut würde. Der Plan zur Stauung der beiden Seen von Reschen und Graun zur Stromgewinnung geht auf die Faschisten zurück. Schon 1920 wurden erste Pläne eingereicht, die aber nicht bewilligt wurden. Erst als der Staat die Bestimmungen für die Vergabe der Konzession zum Bau neuer Kraftwerksanlagen lockerte – der Bedarf an elektrischer Energie wurde immer größer – wurde das Projekt der „Società Alto Adige“, Vorläuferin der Montecatini AG, die die Seestauung schließlich umsetzte, angenommen. 1940 wurde mit den ersten Bauarbeiten begonnen, nach der Besetzung Südtirols durch die deutsche Wehrmacht wurden diese aber eingestellt – die Bevölkerung atmete auf. Aber schon 1946, als klar war, dass Südtirol bei Italien verbleiben werde, nahm die Montecatini den Bau am Stauwerk wieder auf.

„Und 1949 ist das erste Mal das Wasser gekommen.“

„Und 1949 ist das erste Mal das Wasser gekommen.“ Frau Eberhart erinnert sich, wie das Wasser langsam die Wiesen geflutet hat, bis es bei der Vollstauung 1950 schließlich auch ihr Heimathaus erreichte. „Der Keller war schon voll Wasser. Aber wir haben bis zum letzten Moment warten müssen, wenn das Wasser schon fast in die Stube gekommen ist, weil die Baracken noch nicht fertig gebaut waren“, erzählt Eleonora gefasst und mit fester Stimme. Am Eingang des Langtauferer Tales baute die Montecatini eine Barackensiedlung für die Bewohner, die noch keine neue Heimat hatten. Als die Familie am 10. Juli 1950 die letzten Sachen in Altgraun zusammenpackte, wurde bereits das Dach ihres Heimathauses abgerissen. Vor dem Haus wurden die ersten Löcher gesprengt, während die Familie ihr Hab und Gut auf einen LKW der Montecatini auflud. Am nächsten Tag wurde das 500 Jahre alte Haus gesprengt. Dafür brauchte es mehrere Anläufe, die dicken Steinmauern konnten nicht mit einer Sprengung geschafft werden. 

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„Richten tut hier kein Mensch mehr etwas.“

Wenn Frau Eberhart heute von dieser schwierigen Zeit erzählt, ist sie sehr gefasst. Nie steigen ihr Tränen in die Augen, wenn sie vom Gehen oder Sprengen der Heimathäuser erzählt. Sie fällt nicht in die Rolle des bemitleidenswerten Opfers, auch wenn man bei ihren Erzählungen ob der Rücksichtslosigkeit der Montecatini und zuständigen Behörden immer wieder den Kopf schütteln möchte. „Warum habt ihr euch denn nicht gewehrt?“, liegt einem auf der Zunge, aber Eleonora stellt klar: „Das hat alles nichts genutzt. Der Pfarrer hat zum Vater gesagt, richten tut hier kein Mensch mehr etwas.“


Nur der denkmalgeschützte Turm erinnert noch an Altgraun. 

Der Altgrauner Pfarrer und auch der Bürgermeister blieben nicht untätig, aber selbst eine Reise nach Rom konnte nichts ausrichten. Zudem hatten die Grauner im Kampf gegen dieses staatliche Projekt bereits deshalb schlechte Karten, weil es zu der Zeit noch keine Südtiroler Landesregierung gab.

Als die Revision der Stauwerkskonzession als unmöglich erkannt wurde, ging es darum, mit der Montecatini über die Entschädigungen der Bevölkerung zu verhandeln. Diese fielen sehr knapp aus. Im August 1949 zog ein Demonstrationszug von Graun nach Reschen zur Kanzlei der Montecatini, um mehr Rechte für die Bevölkerung einzufordern. Einige Häuser wurden bereits vor dem Krieg enteignet, die Enteignungssummen waren nach dem Krieg aber kaum mehr etwas wert. Auch Eleonora erinnert sich an die ungünstige finanzielle Lage: „Die Montecatini hat fast nichts gezahlt. Für die Häuser haben sie schon bezahlt, aber wir waren vier Familien in einem Haus. Da war nicht viel Platz und drum hat man auch nicht viel Geld bekommen“, erklärt Frau Eberhart. Deshalb hat sich der Vater, nachdem er einige zum Verkauf stehende Höfe angeschaut hatte, entschieden, mit seiner Familie in die Baracke zu ziehen. „Der Vater wollte nicht mit acht kleinen Kindern in ein fremdes Dorf gehen und Schulden machen.“ 

„Der Vater wollte nicht mit acht kleinen Kindern in ein fremdes Dorf gehen und Schulden machen.“ 

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Viele Familien sind schon weggezogen, bevor das Wasser kam. Oft musste man sich verabschieden, Tränen seien zu der Zeit viele geflossen. Von rund 100 Familien in Graun hatten sich nur um die 30 entschieden, in ihrer Heimat zu bleiben. In ganz Südtirol siedelten sich die Altgrauner an, manche gingen nach Österreich, andere ins Trentino. Frau Eberhart weiß, dass vor allem die älteren Leute, die weggezogen sind, „verdrossen haben, bis sie gestorben sind“. Der eigenen Familie sei es aber besser ergangen. „Wir sind ja nur nach Reschen hergezogen. Hier kannten wir ja die Leute“, erzählt sie. Auch die Eltern hätten sich bald eingelebt. Den neuen Nachbar in Reschen, Toni Moritz, hat Eleonora 1958 geheiratet. Nach nur sieben Jahren war sie aber mit den drei Kindern alleine – ihr Mann starb plötzlich an einer Herzembolie.

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Über die Seestauung wird bis heute viel geredet. „Den Kindern habe ich viel erzählt, das ist auch wichtig. Aber wenn man es nicht selbst mitgemacht hat, kann man es nicht so empfinden“, meint Frau Eberhart. Vor allem wenn sich die älteren Leute treffen, rede man immer über den See. „Und wenn man mal ins Reden kommt, dann kommt man nicht mehr raus,“ lacht Eleonora. Wenn sie heute den See anschaut, ist sie es gewöhnt. Sie denkt nicht mehr ständig daran, dass darunter einmal ihre Heimat war. Mit dem Schiff über den See fahren, will sie aber trotzdem nicht: „Wir haben vom Wasser so genug, dass wir nicht auch noch drauf rein müssen“, lacht sie. Dafür schaut sie manchmal den jungen Leuten beim Surfen auf dem See zu. „Das macht einem nichts aus. Das ist man gewöhnt.“

„Wenn man es nicht selbst mitgemacht hat, kann man es nicht so empfinden.“


Manuel Moriggl ist einer der jungen Surfer auf dem See. Zumindest im Sommer. Wenn der See noch zugefroren ist, kann man mit Snowboard oder Ski und Drachen auch auf den zugeschneiten Wiesen kiten – da ist die Verletzungsgefahr nicht so hoch wie auf dem Eis, erklärt Manuel. Ich treffe ihn am Haidersee – erst 1967 verzichtete die Montecatini endgültig auf die Stauung des ursprünglich dritten Sees im Oberen Vinschgau.

Manuel ist 20 Jahre alt, vor drei Jahren hat er mit dem Kitesurfen angefangen. Dabei wurde er nicht nur sprichwörtlich ins kalte Wasser geworfen. Im Sommer arbeitete er als „Beachboy” in Graun. Dabei behält man besonders die Sportler auf dem See im Auge, „wenn etwas passiert, muss jemand da sein“, so Manuel. Aus Neugierde hat er sich langsam dem Kitesurfen angenähert. „Zuerst beginnt man auf dem Land, damit man ein Gefühl für den Drachen bekommt“, erzählt der Burgeiser. „Dann sind wir das erste Mal mit dem Boot auf den See gefahren und man wird reingeschmissen“, sagt Manuel und lacht. Der Stausee ist auch im Sommer nicht gerade warm, deshalb trägt man einen Neoprenanzug.


Aus dem Sommerjob hat sich bald schon eine Leidenschaft entwickelt. Manuel hat sich seine eigene Ausrüstung gekauft, auch wenn die Kiter sich untereinander ohnehin alles ausleihen würden. Für 250 Euro hat sich Manuel einen gebrauchten Kite gekauft – die Drachen gibt es in unterschiedlichen Größen, neu kosten sie schon mal bis zu 1.000 Euro. Insgesamt sei der Sport aber nicht so teuer, das sei ja eine einmalige Investition, meint Manuel.

Er würde sich wünschen, dass mehr junge Leute wie er den Sport für sich entdecken würden. „Der Sport ist noch nicht angekommen. In meinem Alter bin ich allein.“ Der Kiteclub Adrenalina hat über 400 Mitglieder, nur ungefähr 50 aus Südtirol, der Rest kommt aus Deutschland zum Kiten auf den Reschensee. Auch die zwei Kiteschulen, die es in Graun gibt, sind deutsche Schulen. Mit vielen Kunden aus Deutschland. An rund 300 Tagen im Jahr weht am Reschensee der Wind, das sind die besten Bedingungen zum Kiten. Manuel würde es aber schön finden, wenn das auch mehr Einheimische entdecken würden.

„Der Sport ist noch nicht angekommen. In meinem Alter bin ich allein.“

Für Manuel ist der Stausee eine tolle Sportdestination. Es können mittlerweile auch Tretboote in der Nähe des Turms ausgeliehen werden und selbst das Stand-up-Paddeln, bei dem man wie auf einem Surfbrett steht, hat Manuel schon ausprobiert, erzählt er. Dass früher mal ein Dorf dort stand, wo er heute Sport treibt, weiß er. „Aber darüber denke ich eigentlich nie nach. Mir ist das schon bewusst, dass es hier ein Dorf gegeben hat, aber ich glaube, vor allem bei den Jungen ist das nicht so präsent“, überlegt Manuel, der aber versteht, dass die alten Leute das Erlebte bis heute nicht vergessen haben.

„Ich bin ja auch nicht von da. Vielleicht wäre es dann anders“, fragt sich Manuel. Der Kirchturm im Wasser gehört für ihn einfach dazu, den See findet er ideal für seinen Sport, sagt er und zuckt mit den Schultern. Dann nimmt er seinen Drachen, um ihn auf dem See aufzublasen und in die Luft zu lassen. Das Eis unter seinen Turnschuhen ist bei unserem Treffen zwar noch fest, aber langsam fängt es an zu schmelzen. Die Füße werden schon etwas nass. Mittlerweile, zwei Wochen später, ist auch das Eis um den Altgrauner Kirchturm verschwunden. Das Wasser wird weniger werden, wie jedes Jahr im Frühjahr. Und Eleonora Eberhart blickt dann wieder auf die staubige Wüste, wo einst ihre Heimat war. 

„Mir ist das schon bewusst, dass es hier ein Dorf gegeben hat.“

Fotos

Benedikt Kofler
CC0 1.0/Angela Huster
Süddeutsche Sonntagspost, 14. Januar 1950
Museum Vinschgauer Oberland

Videos

Benedikt Kofler
Trailer: Georg Lembergh und Hansjörg Stecher

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