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Lisa Maria Kager
Veröffentlicht
am 05.12.2014
LebenReportage aus Kalabrien

Willkommen im „Puff“

Veröffentlicht
am 05.12.2014
Der Süden Italiens hat mehr zu bieten als riesige Müllhalden, Jugendarbeitslosigkeit und die Mafia. BARFUSS auf Besuch in Kalabrien.
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Das Meer greift mit seinen krallenförmigen Wellen nach der Stadt, die an der Sohle des italienischen Stiefels liegt. Locri heißt das beschauliche Örtchen in Kalabrien, das mit seinen 12.500 Bewohnern mehr Geschichte als ganz Amerika birgt.
Eine Autostunde westlich raucht der Ätna, eine Stunde in die andere Richtung blickt man auf den Stöckel Italiens. Fährt man 13 Stunden in Richtung Norden, erreicht man Südtirol. Südöstlich schwimmt Griechenland. Von dort stammen auch die Gründerinnen dieser schönen Stadt. Griechische Aristokratenfrauen waren es nämlich, die sich die Zeit mit ihren Sklaven in Locri vertrieben, während ihre Männer im Krieg kämpften. Ein Puff aus dem Jahr 680 vor Christus.
Glaubt man den Schlagzeilen, die der Süden seit Jahren macht, dann gibt es in Locri auch heute noch einen „Puff“: Schwerkriminalität der mächtigen ‘Ndrangheta, Drogenhandel, katastrophale Müllzustände und nie fertig werdende Bauarbeiten. Ich habe mich vom Gegenteil überzeugen lassen. Denn ein Tag in Locri bedeutet, ein halbes Geschichtsbuch zu erleben, einen Haufen kalabresischer Unikate zu treffen und mit einem Koffer voller Geschenke heimzufahren. Der Süden hat weit mehr zu bieten als negative Schlagzeilen.

Kaffee für alle

Ich reise im November. Out-of-Season würde man in einem Reisebüro wohl sagen. Wenige Sonnenstunden, aber auch wenige Touris, und kalt wird es in Kalabrien ohnehin nie. Um den Tag optimal zu nutzen, lebt man hier im Rhythmus der Natur, zumindest die ältere Generation. Und ich. Mein Tag beginnt also mit dem Sonnenaufgang und einem Kaffee. Eine Bar neben der anderen finde ich hier, die Vitrinen voll mit verschiedenen kleinen Köstlichkeiten. Ich mache es jedoch den Südländern gleich und begnüge mich mit dem Einfachen: Eine hausgemachte brioche und einen Espresso zum Tagesstart. Vom Schüler bis zum Bürgermeister treffen sich hier wohl alle zur colazione in der Bar. Man grüßt, diskutiert angeregt über Tagesthemen und lässt den Tag beginnen.
Ich passe mich an und ziehe los. Das Bestaunen der Ausgrabungen aus Zeiten der Magna Graecia verschiebe ich auf ein anderes Mal und widme mich dafür gleich der Entstehung des Olivenöls. Der Vermieter meiner Unterkunft, einer ausgebauten, alten Ruine knapp über Locri, ist auch Besitzer der örtlichen Ölfabrik, dem Oleificio, und hat mir bei meiner Ankunft gleich eine Führung angeboten.
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Die Sippe um Giuseppe Capogreco lebt schon seit Generationen am Rande Locris. Umgeben von Olivenhainen haben sie sich eine Oase inmitten der Misere aufgebaut. Giuseppe, der ungefähr zwei Köpfe kleiner ist als ich, wirkt gestresst. Im Fünf-Minuten-Takt geht er an sein Handy und diskutiert dann wiederum jeweils fünf Minuten, bevor er irgendeinen Auftrag an einen seiner Arbeiter weitergibt. Nebenher klagt er bei mir noch darüber, dass der Süden zu dumm sei, um seine Schätze auszukosten. „Dovremmo finalmente imparare qualcosa da voi. Al nord avete capito come si fanno soldi“, sagt Giuseppe, während er mir seine orangefarbene Villa mit Park auf dem gegenüberliegenden Olivenhügel zeigt. Nach dieser Aussage verstehe ich gleich: Wo es rund um Locri glänzt, hatte Giuseppe seine Hände im Spiel. Und wahrscheinlich nicht nur er.

Arbeiter aus Indien

An Oleificio und Agriturismo vorbei, führt er mich in seine Felder. Oliven, Zitronen, Orangen, allerhand Gemüse und neuerdings auch wieder die Bergamotte, pflanzt der Betrieb Capogrecos an. Für Letztere ist Kalabrien übrigens berühmt. Die Spitze des Stiefels ist nämlich der einzige Ort weltweit, an dem die Frucht ätherisches Öl abgibt.
Hier auf dem Feld brennt die Sonne unbarmherzig auf die Köpfe der Arbeiter. Und das im November. Es ist kaum auszuhalten. Wenn die Jugendarbeitslosigkeit in Italien bei knapp über 44 Prozent liegt, frage ich mich, wer von diesen 710.000 Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren wohl unter diesen Bedingungen hier arbeiten würde. Augenscheinlich niemand. Auf den Feldern stehen keine Italiener, sondern Shira und seine Turban-tragenden Kollegen. Shira ist Inder. Nachdem ich ihm die Hand gebe, fasst er an sein Herz. Eine schöne Geste, wie ich finde. Wir kommen gleich ins Gespräch.


Er sei es gewohnt unter stechender Hitze zu arbeiten, sagt er, in Indien sei es nicht weniger heiß. Dort kriege er jedoch keine Arbeit, weil er nicht zur höheren Kaste gehöre. Also musste er seine Familie verlassen und arbeitet jetzt für Capogreco. Als ich ihn nach seinem Gehalt frage, will er anfangs nicht antworten. Es sei nicht viel, sagt er, aber er lebe. Kein Essen, kein Trinken, keine Unterkunft. Und dann doch: 13 Euro. Aber nicht etwa in der Stunde, sondern am Tag!
Shira muss weiterarbeiten, sagt Chef Capogreco. Ich verlasse ihn mit vollen Händen: Zitronen, Orangen, Maiskolben, Peperoncini und Bergamotten. Die Leute geben, was sie haben. Trotz der Missernte in diesem Jahr. Die Olivenbäume haben nämlich nicht viel getragen und die Zitrusfrüchte wurden von der Mittelmeerfliege geplagt. Trotzdem liegt nun von jedem, den ich bisher getroffen habe, etwas in meinem Kofferraum. Unfassbar. Ja, die Kalabresen schenken gerne. Das habe ich mittlerweile verstanden. Ich habe das Gefühl, dass sie mir bei Eiseskälte sogar ihr letztes Hemd wohlwollend überlassen würden.

Kalabresische Alpen?

An Müllhalden Marke Eigenbau vorbei geht es in Richtung Zentrum. Im Minutentakt radeln Shiras Kollegen mit orangen und blauen Turbanen an mir vorbei. Um das Bild des kalabresischen Neu-Delhis abzurunden, hupen die Kalabresen um die Wette. Fehlt nur noch die Kuh, die in aller Seelenruhe mitten auf der Straße mit ihrem Schweif wedelt. Ein abgemagerter, streunender Hund ersetzt sie. Beim Schlendern durch diese vollen Straßen, lerne ich Paolo kennen. Mit Ende 20 verkauft er auf der Straße mit seinem Onkel Pilze, die er im Nationalpark Aspromonte gesammelt hat. Direkt aus seinem Auto. Sein Nachbar verkauft Hühner. Ebenfalls direkt aus seinem Auto.


Der Süden arrangiert sich also. Die Leute arrangieren sich. Wenn es keine Arbeit gibt, erfinden sie sich eben eine. So auch Paolo. Auch wenn er einige Saisonen in einem Hotel auf dem Sellajoch gearbeitet hat, glaubt er, Südtirol sei irgendwo in der Nähe von Bormio. Er habe bei uns gefroren, mit drei Decken und einem Extraofen geschlafen, erinnert er sich und lacht dabei verschmitzt. „Per cena oggi faccio pasta mare e monti. Perfetto per noi due, no? Vieni anche tu?“, zwinkert Paolo mir unter seiner hellen Quetschmütze zu. Typisch Kalabrese denke ich und zwinkere nett verneinend zurück.

Lavori in corso

Wenn auf der Stiefelspitze die Geschichte auch noch weiterlebt, schaffen es die Bewohner trotzdem nicht von ihr zu leben. Kalabrien geht in seinen antiken Ausgrabungsstätten, Normannen-Domen, malerischen Bergörtchen, den zwei Nationalparks und den Touristen, die das Ganze besuchen, fast unter. Die Einnahmen aus den Kultureinrichtungen betragen jährlich trotzdem nur rund 27.000 Euro. Doch in Kalabrien spricht man nicht vom Geld zum Leben, man lebt einfach.
Mein nächstes Ziel ist Bova Marina, einer der südlichsten Orte des italienischen Festlandes und eine knappe Stunde von Locri entfernt. Auf dem Weg dorthin begegne ich immer demselben Bild: lavori in corso, Müll und Häuser im Rohbau. Der Grund für meinen Besuch hier ist ein alter Mann, von dem man mir in der Hauptstadt erzählt hat. Signor’ Bova wird er hier genannt. Er ist der Meister der Bergamotte. Neben Seifen und Säften produziert er das heißbegehrte ätherische Bergamotte-Öl.


Das Dorf selbst trägt den Namen seines Großvaters, der das Erdbeben überlebte, das im Jahre 1908 die Städte Messina und Reggio Calabria zerstörte und dabei tausende Todesopfer forderte. Signor’ Bova wohnt am Eingang des Ortes, direkt gegenüber der Carabinieri-Station, deren Haus übrigens ihm gehört. So wird mir auch klar, warum niemand etwas gegen seine illegal wirkende fabrichetta hat. Ich treffe Signor‘ Bova in der kleinen, alten Lagerhalle, in der er mit seinen drei Söhnen gerade versucht, die großen Maschinen für die bevorstehende Saison startklar zu machen. Seine 74 Jahre sieht man dem Mann nicht an. „Èh, questa è la magia del bergamotto“, schmunzelt er und führt mich durch die fabrichetta, die vom frischherben Duft der Bergamotte gefüllt ist. Während er sich anfangs noch bemüht, in einem verständlichen Italienisch zu sprechen, rutscht er mehr und mehr ins Kalabresische ab, das dem Griechischen sehr ähnlich sein soll. Als ich schließlich nichts mehr verstehe und nur noch der Höflichkeit halber nicke und lächle, beschließe ich weiterzuziehen.

Lebenskünstler des Südens

Um den Tag abzuschließen, gönne ich mir einen Aperitivo in einer der zahlreichen Bars in Locri. Was morgens nämlich der Kaffee, ist mittags oder abends der Aperitivo. Während wir im Norden zum Veneziano höchstens an ein paar weich gewordenen patatine knabbern dürfen, gibt es hier zum Spritz ausreichend kleine Pizzette und Focacce, Oliven in allen Farben und Formen, Brötchen, Mozzarrelline und Tomaten. Die beiden jungen Barbesitzer, die mir diese Köstlichkeiten servieren, sind Pino und Sabrina. Ein Spross läuft bereits lauthals schreiend durch die Bar, während der andere noch von innen gegen den Bauch der Mama strampelt. Während die hochschwangere Sabrina mir meinen zweiten Veneziano und Nachschub für den Gaumen bringt, sagt sie: „Vivere a Bolzano sarebbe il mio sogno più grande.“ Auch wenn es ihr gut geht, sie eine Familie und einen Job hat, träumt die junge Frau von einem Leben im Norden, wie so viele hier im Süden.
Junge Leute ziehen weg und versuchen ihr Glück in Städten wie Turin, Mailand oder Bozen oder landen in Deutschland. Hauptsache weg. Weg vom armen Süden und hinauf in den reichen Norden. Jene, die hierbleiben, sind Lebenskünstler, für die Familie, Nächstenliebe und Gastfreundschaft hohe Werte sind – und die trotz allen Übels zufrieden wirken.
Auf dem Rückflug nach Rom sitzt eine ältere Frau neben mir. Kalabresin. Zumindest im Herzen. Ausgewandert aus wirtschaftlichen Gründen, lebt sie nämlich schon seit Jahren in Toronto und bietet mir gleich einen kanadischen Kaugummi an. Sie ist zur Beerdigung ihrer Mutter aus der neuen Heimat angeflogen, nach zwei Wochen plagen sie auf der Rückfahrt altbekannte Probleme: Sie braucht eine Verlängerung für ihren Sicherheitsgurt. Scherzend sagt die Stewardess: „Man sollte eben nie länger als ein paar Tage in Kalabrien bleiben. Zwei Wochen hier bedeuten vier Kilogramm mehr auf den Hüften.“ Sie lacht und setzt die Dame prompt auf Diät, während die anderen Passagiere kleine Knabbereien bekommen. Doch die ist nicht etwa böse, sondern lacht mit.

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