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Lisa Maria Kager
Veröffentlicht
am 22.09.2015
LebenEinstürzende Neubauten in Bozen

Wie hört sich Krieg an?

Veröffentlicht
am 22.09.2015
Mit 120 Beats pro Minute bringt die Band Einstürzende Neubauten das Grauen des Ersten Weltkriegs in Tönen auf die Bühne. Ein Konzertbesuch in Bozen.
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Einstürzende Neubauten

Dass sie aus einer Szene von Kunstschulabgängern und Untergrund-Musikern kommen, würde man nicht vermuten, wenn man die Einstürzenden Neubauten heute in schwarz glitzernden Anzügen auf der Bühne stehen sieht. Einzig Alexander Hackes verbleichtes Tattoo auf dem linken Oberarm erinnert noch an die wilden Anfangszeiten in den 80ern, als in der Bundesrepublik Deutschland englischsprachige Musik zurückgedrängt und Platz für eine Musik mit politischen Statements und viel Subjektivität geschaffen wurde. Diesen Platz hat die Band Einstürzende Neubauten gekonnt eingenommen und die Berliner sind zu kulturellen Botschaftern ihrer Zeit geworden. Um ihre Botschaften zu vermitteln, machen sie heute wie damals Geräusche zu ihrer Musik und Alltagsgegenstände zu ihrem Instrumentarium. Laut, schonungslos und als verrückte Performer regen sie an diesem Abend im Rahmen des Festivals Transart auch das Bozner Publikum zum Nachdenken an.
Zugegeben, man muss schon etwas auf der Neuen Deutschen Welle surfen, um das, was hier gerade vor sich geht, ernst zu nehmen. Doch an diesem Abend stürze ich mich einfach in die Fluten dieser lärmgewaltigen Anti-Pop-Kultur und warte ab, ob ich die Welle reiten kann oder kläglich darin untergehe.

„Alte Gegenstände, Bedeutungen, Gebäude und Musik werden durch Neues ersetzt. Das heißt Fortschritt. Und der Endpunkt des Fortschritts ist erreicht, wenn Dinge nicht mehr alt werden, sondern in dem Moment, wo sie entstehen, wieder zerstört werden.“

Von einer Menschenmasse an Unikaten lasse ich mich zu Beginn des Abends in die sterile Halle des Ex-Masten in der Bozner Industriezone treiben – direkt auf strikt aufgereihte, schwarze Stuhlreihen. Ein Konzert im Sitzen von einem solchen Kaliber an Band lässt bereits Verrücktes erahnen, doch anders habe ich mir den Punkt auf dem Transart-Programm auch nicht vorgestellt. Zwischen Bauern in Lederjacken und heimgekehrten Kunststudenten mit Hornbrille stellt sich mir am Anfang des Konzerts die Frage, wo Südtirol dieses buntgemischte Kunstliebhaber-Volk wohl bei Tageslicht versteckt.

Mit etwas Verspätung reißen mich die ersten Töne von der großen Bühne vor den Stuhlreihen aus meinen Beobachtungen. Eine Stunde und 47 soll das Spektakel dauern, Aufstehen unerwünscht. Schließlich sei Lament, das Meisterwerk der Einstürzenden Neubauten, ein durchkomponiertes Projekt. Na dann: Manege frei für „Kriegsmaschinerie“, dem ersten Stück vom Album.

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Ein tiefer Schrei aus Blixa Bargelds rauchiger Kehle, damit sind die Würfel wohl auch in Bozen gefallen. Der Krieg ist eröffnet! Im Eingangsstück hört man das Grauen förmlich anrollen und sich aufbäumen, selbst wenn Bargeld und seine Männer auf der Bühne eher tobenden Jungen auf einem Kinderspielplatz gleichen. Wild trommeln sie auf alte Stahlfässer ein, lassen Ketten klirren und kratzen an dunkelgrauen Schultafeln. Sie inszenieren keineswegs mit normalen Instrumenten, sondern mit einer Mischung aus Spielkiste und Bauladen. Stahlteile, Fässer, Bohrmaschinen und Kompressoren und dazu noch eine Rassel aus getrockneten Samen und eine ungestimmte E-Gitarre. Ehrlich gesagt habe ich beim Ersten Weltkrieg an ganz was anderes gedacht: schmutzige Schützengräben, Läuse, heulender Bombenalarm, ratternde Maschinengewehre und unzählige Tote. Doch Einstürzende Neubauten interpretieren ihn ganz anders. Wenn wir vom medialen Strom an Kriegsbildern bereits immun gegen jegliche Emotion diesbezüglich geworden sind, wird „Lament“ zum Gegengift für diese Abgebrühtheit.

Lament-iert euch doch!
Die belgische Region Flandern ist es, der wir dieses Meisterwerk an Verrücktheit zu verdanken haben. Sie hat Blixa Bargeld und seine Band mit der Komposition einer Performance und eines Albums beauftragt, um bei einer 100-Jahr-Erinnerungsfeier zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs dessen zu gedenken. Und auch wenn man in etwa weiß, worauf man sich einlässt, ist man im ersten Moment trotzdem verblüfft. Ohne Sirenenlärm oder Schüsse schafft es die Band, den Krieg zu vertonen. Telegramme zwischen Zaren werden als Rocklied hörbar und Walzenaufnahmen aus deutschen Internierungslagern vereinen sich mit einem Streichquartett zu einer kriegserinnernden Melancholie, die mir Gänsehaut auf die Unterarme zaubert. Und weil man nie weiß, was nach dem letzten Takt des vorangehenden Liedes folgt, bleibt der Spannungsbogen doch stets gespannt. Von einem Stück mit eigens erschaffener Stacheldrahtschlagzitter kommen wir schließlich zu meinem persönlichen Höhepunkt des Abends: 1567 Schläge im Viervierteltakt. Jeder Schlag ein Kriegstag. Sobald eine Nation in den Krieg einsteigt, wird ein neues Plastikrohr angeschlagen. Das ist die percussion version of 1st World War und schon eher das, was ich von den Einstürzenden Neubauten kannte. Willkommen im Ersten Weltkrieg!

Und dann passiert es. Die Beats aus den Rohren brechen die verwunderten Blicke und schütten ihren Rhythmus über die ganze Halle aus. In jeder Ecke werden aus starren Gesichtern wippende Köpfe. Zwei meiner Sitznachbarinnen stehen sogar zum Tanzen auf und auch mein Fuß bewegt sich im Takt, bis Hacke, Unruh und Moser nach dieser sportlichen Performance vom Publikum mit Applaus von der hell beleuchteten Bühne verabschiedet werden.

Percussion

Rotes Backgroundlicht eröffnet den zweiten Teil der Performance und komplettiert damit die Bühnenbild-Farben der französischen Tricolore. Blixa schreitet erhaben wie ein König mit weißem Umhang unter tobendem Applaus auf die Bühne. Dieser Part scheint ihm gleich wie das Gewand auf den Leib geschneidert.
Mit „Sag mir, wo die Blumen sind“ hat Marlene Dietrich gegen den Krieg angesungen, Blixa tut es ihr gleich und lässt meinen Gefühlspegel wieder etwas in Richtung Traurigkeit sinken. Sein rauher Sprechgesang klingt wie eine Klagenummer über den Ersten Weltkrieg und lässt den Titel der Performance an diesem Punkt des Abends endlich Bedeutung annehmen. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, fühlt es sich an, wenn die Berliner Band diesen schrecklichen Krieg, der 17 Millionen Tote zählt, auf die Bühne bringt.

Blixa singt Marlene Dietrich

Immer wieder zückt der ehemalige Berliner Hausbesetzer Blixa zwischen den Stücken die Brille aus seiner Sakko-Tasche, um nach dem Ablauf zu sehen. Wirklich beruhigend, hinter der harten Künstlerallüren-Fassade Bargelds doch hin und wieder menschliche Schwäche zu sehen. Nach Marlene Dietrich folgt schließlich noch der Tierstimmenimitator, ein Stück aus dem Jahre 1921. Witzig. Es heitert auf nach dem vorangehenden Trauerspiel. Kurz nach dem Krieg und kurz vor Bargelds Abgang zitiert er einen Pfau, der „Hiiiitleeerrrr“ ankündigt und tut schließlich das, was der letzte Song auch titelt: „Ich geh jetzt“.

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