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In den 1970er-Jahren rieten wie Krankenschwestern gekleidete Mitarbeiterinnen des Lebensmittelkonzerns Nestlè Müttern in Entwicklungsländern zu künstlicher Babynahrung anstatt ihre Kinder zu stillen. Die Mütter waren in Folge der Entwöhnung selbst nicht mehr imstande, ihre Kinder zu stillen, sondern wurden abhängig vom Hersteller dieser Babynahrung: Nestlè selbst. Dies war der erste von vielen großen Skandalen rund um den Schweizer Konzern, die unterschiedlich große öffentliche Aufmerksamkeit erhielten. Von Kindersklaverei an der Elfenbeinküste über Ermordung von Gewerkschaftern in Kolumbien bis hin zu Wasserprivatisierung in wasserarmen Zonen Afrikas: Der Firma wurden bis heute eine Vielzahl an Verbrechen vorgeworfen.
Unabhängig davon ist Nestlè heute der größte Lebensmittelproduzent der Welt mit einem Umsatz von 80 Milliarden Euro pro Jahr. Seine Produktpalette umfasst von Schokolade bis Katzenfutter und Babynahrung jede Art von Lebensmittel, außerdem stellt die Firma Medikamente her und hat Anteile an der Textil- und Kosmetikindustrie. Wie geht das? Wie können Konzerne, von denen man weiß, dass sie maßgeblich daran beteiligt sind, die Ungerechtigkeiten dieser Welt nicht zu beseitigen, sondern sie teilweise sogar fördern und verursachen, den Großteil der Produkte in den Regalen unserer Supermärkte stellen?
Konzerne wie Nestlè, Coca Cola und Chiquita zeichnen sich durch ihre hervorragende Medienarbeit aus. Millionen von Euro werden jährlich in Werbung und Marktforschung investiert – mit Erfolg. Das Ergebnis sind nicht nur TV-Spots und Plakate, sondern auch umfassende Kenntnisse dessen, was Kunden sich erwarten. So können gezielte Kampagnen geplant und ausgeführt werden. Ansprechend gestaltete Jahresberichte, in denen stets auf das soziale Engagement und Entwicklungszusammenarbeitstätigkeiten des Unternehmens hingewiesen wird, schaffen ein positives Bild im Auge des Konsumenten, das negative Assoziationen mit der Marke in den Hintergrund treten lässt. Tatsächlich Erreichtes verschwimmt mit Zukunftsversprechungen, die häufig gar nicht oder nur teilweise eingehalten werden. „Ich habe 17 Plantagen besucht und auf allen haben Kinder gearbeitet“, sagt Miki Mistrati dem „Spiegel“ in einem Interview. Der dänische Journalist hatte 2010 zu Kinderarbeit auf Westafrikas Kakaoplantagen recherchiert, die den Großteil des Kakaos für die weltweite Schokoladeproduktion liefern. Die Schokoladenindustrie reagierte mit einer groß angelegten Kampagne, in der sie bekannt machte, bessere Bedingungen für die Kakaobauern zu schaffen und Kinderarbeit grundsätzlich abgeschafft zu haben. Dafür wurden verschiedene Zertifizierungen vorgewiesen. Drei Jahre später bereist Mistrati dieselben Plantagen erneut und kommt zu ernüchternden Ergebnissen: Es hatte sich wenig bis gar nichts geändert. Dennoch werben dieselben Konzerne immer noch mit Nachhaltigkeit und sozialer Verantwortung. Werbefachleute wissen, dass ein Fairtrade- oder Biosiegel, ein lachendes Gesicht auf der Werbebroschüre auf den Konsumenten eine gewisse Wirkung hat. Zumal in einer Zeit, in der diejenigen, die es sich leisten können, Gefallen an einer gesunden Ernährung und einem reinen Gewissen finden.
Der Begriff landgrabbing, Landraub, bezeichnet heute vor allem den Ankauf oder die Pacht großer Landflächen von ausländischen Investoren in Entwicklungsländern. Die erworbene Fläche wird dann meist mit Monokulturen wie zum Beispiel Ölpalmen bepflanzt.
„Palmöl hat die optimalen Eigenschaften für die Lebensmittelindustrie. Es ist fest, geruchslos, lässt sich prima verarbeiten und produziert beim Konsumenten ein besseres mouth feeling als andere Fette“, erklärt Lebensmitteltechnologe Stephen Hubbes in Kurt Langbeins Film „Palmöl – vom Urwald in die Schokocreme“. Palmöl ist heute als Inhaltsstoff in durchschnittlich jedem zweiten Supermarktartikel wie zum Beispiel Schokoladeprodukten, aber auch in Kosmetika und sogar im Treibstoff zu finden. Allein in Indonesien gehen jedes Jahr 620.000 Hektar Land an die Palmölindustrie verloren. Wie dabei die einheimische Bevölkerung ausgebeutet wird, zeigt Kurt Langbeins neuer Film „Landraub“, der Anfang November auch in Südtirols Kinos zu sehen war. Es fehlt an gesetzlichen Regelungen, die die Länder und die Bevölkerung vor dem Landraub schützen, vor allem aber ist Korruption sehr verbreitet. Kolumbiens Regierung duldete bewusst, dass zum Beispiel der Bananenkonzern Chiquita große Landflächen für seine Plantagen aufkaufte, während tausende Menschen im Zuge des Bürgerkrieges von paramilitärischen Terrorgruppen vertrieben wurden und bis heute ihr Land nicht zurückerhalten haben – nicht selten weil das Gebiet mittlerweile von einem ausländischen Großkonzern genutzt wird. Chiquita musste 2007 schießlich zugeben, Gelder an die terroristischen Gruppierungen bezahlt zu haben.
„Eine Firma verkauft Medikamente, die gegen Krankheiten helfen sollen, die womöglich durch Produkte derselben Firma ausgelöst werden.”
Wirtschaftliche und politische Macht sind oft untrennbar miteinander verstrickt. So sind es in Entwicklungsländern häufig Großgrundbesitzer, die die Regierung stellen oder zumindest einen sehr großen Einfluss auf sie haben. Diese liefern wiederum meist an multinationale Konzerne, die für den europäischen Markt produzieren. Doch nicht nur die Regierungen, sondern auch das Gesetz selbst spielt großen Firmen, die billig produzieren wollen, in die Hände. Verbrechen wie Kinderarbeit werden in vielen Ländern der Welt, falls es einmal tatsächlich zu einer Anklage kommt, im Verhältnis so gering bestraft, dass es sich für große Konzerne auf jeden Fall auszahlt, die Strafe in Kauf zu nehmen, anstatt ihre Produktionsbedingungen zu ändern. Auch im Bezug auf Gesundheitsvorschriften sind es teilweise unsere Gesetze, die es den Lebensmittelproduzenten leicht machen. Die EU-Richtlinien zur Kennzeichnung der Inhaltsstoffe in einem Produkt gelten als sehr locker, viele auch schädliche Inhaltsstoffe müssen gar nicht angegeben werden. Tochterfirmen ermöglichen es Konzernen, dass nicht die gesamte Produktpalette in Verruf gerät, wenn eines der Produkte oder dessen Produktionsweise öffentlich kritisiert wird. Chiquita (dazu gehören außerdem die Marken Consul, Amigo, Frupac, Chico und Bananos) hatte seine Tochterfirma Banadex S. A., über die Zahlungen an die Paramilitärs in Kolumbien abgewickelt wurden, bereits verkauft, als die Firma sich den Anschuldigen stellte. Ebenfalls interessant ist, dass Nestlè zum Beispiel einerseits unter anderem Nahrungsmittel produziert, denen Experten ein gewisses Gesundheitsrisiko attestieren, andererseits auch im Gesundheits- und Medikamentesektor vertreten ist. Mit anderen Worten: Eine Firma verkauft Medikamente, die gegen Krankheiten helfen sollen, die womöglich durch Produkte derselben Firma ausgelöst werden.
„Wenn der Preis für ein Kilogramm Bananen aus Ecuador bei 1,50 Euro liegt oder ich eine Tafel Schokolade um weniger als 1 Euro bekomme, kann das nur auf Kosten von Mensch und Natur gehen”, erklärt Verena Gschnell von der Organisation für eine solidarische Welt (oew) in Brixen. Der Konsument will heute vor allem eines: schnell und billig zu Nahrung kommen. Während man im 20. Jahrhundert noch 70 Prozent seines Monatseinkommens für Lebensmittel ausgab, sind es heute nur mehr 12 bis 15 Prozent. Ebenso möchten die Kunden nicht mehr mehrere Stunden für einen Einkauf bei verschiedensten Händlern aufwenden, sondern nach zehn Minuten im Supermarkt vom Gemüse bis zum Haarshampoo alles beisammen haben. Diese Art von Konsum schafft ein Ungleichgewicht. Das Geld, das wir für ein Produkt nicht ausgeben, fehlt jenen Menschen am anderen Ende der Wertschöpfungskette. Allzu oft nehmen wir dies als unvermeidlich hin, ohne zu bedenken, dass diese Situation nichts anderes als die Reaktion des Marktes auf unsere Forderungen nach schneller und kostenunaufwendiger Befriedigung unserer primären Bedürfnisse ist. Einfacher gesagt, wir wollen uns ums Essen keine großen Gedanken machen, sondern lieber viel Zeit und Geld für Arbeit oder Freizeit übrig haben. Dennoch sagt Verena Gschnell: „Ich glaube nicht, dass unsere Zukunft in den Regalen der Supermärkte liegt. Sowohl Konsumenten als auch Produzenten müssen Verantwortung übernehmen“.
„Es gibt Alternativen für jeden von uns, auch in Südtirol.”
„Egal wo in der Wertschöpfungskette eines Produktes Sie hineingreifen, findes Sie Leid”, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Guido Palazzo. Damit bringt er in einem Satz die ganze Problematik unseres Konsums auf den Punkt. So gut wie kein größeres Unternehmen produziert und vermarktet seine Waren heute noch an ein und demselben Ort bzw. im selben Land. Bis zu dem Punkt, an dem wir Konsumenten einen fertigen Schokoriegel, einen Tiefkühlburger oder eine Flasche Wasser in den Händen halten, ist das Produkt buchstäblich einmal um die Welt gereist – und hat dabei die Kehrseite unseres Wirtschaftssystems gesehen. All dies sind Informationen, auf die man bald stößt, wenn man einmal anfängt zu suchen. Und ja, es gibt Alternativen für jeden von uns, auch in Südtirol.
Ein eigener Artikel der Reihe Kritischer Konsum wird hier bald über mögliche Alternativen informieren.
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