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Veröffentlicht
am 24.12.2015
LebenEingesperrt

„Preparati, vai a casa!“

Veröffentlicht
am 24.12.2015
Der Tag, auf den Agnes S. so lange gewartet hat: Heute darf sie das Gefängnis verlassen.
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Zuversichtlich kehre ich Ende April 2011 nach meinem ersten Ausgang zu Hause wieder ins Gefängnis zurück. Wie in einem Narrenhaus kommt es mir diesmal vor. Ich bin gleich wieder umringt von den lauten und aggressiven Stimmen der Frauen und den Geräuschen der vielen Fernseher und Eisentüren. Die Arbeit in der Schneiderei rettet mich davor, in diesem schrecklichen Tongemisch unterzugehen.
Meine erste Uni-Prüfung über Musikästhetik ist angesagt. Ich darf nicht raus, der Professor kommt mich im Gefängnis besuchen, wo ich in einem kleinen Besuchsraum die Prüfung ablege. Das Hauptthema der Prüfung ist die Wirkung der Töne und Klänge auf die Menschen, genau das, was mich hier am meisten beschäftigt. Orpheus beflügelte sogar die Herren des Totenreiches mit seiner schönen Musik, und ich beobachte, wie die Töne in diesem Gefängnis imstande sind, jede und jeden schlecht zu stimmen.

Erzählen von zu Hause

In meiner Zelle erwartet mich meine depressive Zellgenossin. Sie freut sich, mich zu sehen, sie mag mich irgendwie. Vielleicht weil sie jede Laune bei mir auslassen kann und ich versuche, nicht nachtragend zu sein. „Wie gehts, wie war es zu Hause?“, fragt sie neugierig, so wie alle Frauen hier, denen ich wieder begegne. Von der Welt draußen nur etwas zu hören, wenn man schon nichts sehen darf, ist für jede eine Wohltat. Ich erzähle gerne von meinen wunderschönen Tagen. Wenige Inhaftierte haben die Genehmigung für Ausgänge. Es dauert ewig diese zu bekommen. Ich bin jetzt eine der am längsten inhaftierten Frauen hier. Es sind von den insgesamt siebzig, die ich bei meinem Eintritt im Jahr 2007 kennengelernt habe, nur noch zwei hier.
Gleich stelle ich das Gesuch für meinen nächsten Ausgang, den ich im Juni für ein paar Tage bekomme. Da darf ich in meinem Heimatdorf wieder als Organistin in der Kirche spielen, was für mich nicht selbstverständlich ist. Ich bin unglaublich dankbar dafür. Die Messe in deutscher Sprache ist mir nun fremd, aber mit viel üben werde ich mich schon wieder zurechtfinden. Ich freue mich auch wieder unglaublich auf meine Familie und die bekannten Gesichter zu Hause, immer wieder neue.

„Ich lese nochmals und nochmals, diese Zahlen, ein Wahnsinn, lächerlich. Wenn ich da mal raus bin, dann kann ich nicht bei Null anfangen, nein, bei minus 350.000 Euro oder noch mehr.“

Jedoch erwartet mich diesmal eine schlechte Nachricht: Auf dem Gemeindeamt wurden für mich zwei Briefe von der Agentur der Einnahmen hinterlegt. Einer davon ist vom Januar 2011 und enthält die Aufforderung, 300.000 Euro Gerichtspesen zu entrichten. Der andere ist vom Mai und besagt, dass ich 350.000 bezahlen müsste, weil die Zahlungsfrist des ersteren abgelaufen sei. Oh Gott, die wollen mir wohl jede gute Laune verderben. Wer kann denn so etwas je bezahlen!? Ich werde mir unsicher, ob ich überhaupt noch richtig lesen kann. Ich lese nochmals und nochmals, diese Zahlen, ein Wahnsinn, lächerlich. Wenn ich da mal raus bin, dann kann ich nicht bei Null anfangen, nein, bei minus 350.000 Euro oder noch mehr. Wer weiß, was da alles noch kommen wird, und die Geldstrafe von 27.000 Euro ist auch noch nicht bezahlt. „Warum wird mir die Post nicht nach Bologna geschickt?“, frage ich die Postbeamten. „Das dürfen wir nicht“, ist die Antwort, „und wenn du sie nicht abholen kannst, müssen wir sie im Gemeindeamt hinterlegen.“ Zu meinem Glück habe ich weder Besitz, noch ein Ersparnis oder eine Arbeit, mit der ich reich werden könnte. Sie können mir im Grunde nichts mehr nehmen und trotzdem kann ich das nicht so gleichgültig hinnehmen. Mit meinem guten Willen, alles in Ordnung zu bringen, werde ich dies wohl mein ganzes Leben nicht schaffen. Niedergeschlagen und entmutigt rede ich mir ein, dass irgendwann, irgendwie doch alles ein gutes Ende haben wird.

Umzug in eine neue Zelle

Der Sommer kommt herbei. Es ist der vierte Sommer in Bologna. Wer weiß, ob dies der letzte sein wird. Ein neuer Anwalt hat mir neue Hoffnungen gemacht, wenn ich eine Arbeit fände, dann könnte ich als Alternative um das Anvertrauen an den Sozialdienst ansuchen und den Rest meiner Strafe zu Hause „absitzen“. Mein Strafende ist nach wie vor auf den Januar 2014 festgelegt.
Ich verlasse die depressive Zellnachbarin und ziehe wieder in eine andere Zelle zu einer gemütlichen Afrikanerin, in der Meinung, dass es mir da besser geht. Und siehe da, wenige Tage darauf quetschen sie uns eine dritte Person dazu. Oh nein, wieder so eng zusammen, ich bekomme schon gleich Platzangst. Ich mag nicht mehr! Die Welt wäre doch so groß und sie sperren uns so eng zusammen. Grauenhaft! Drei Monate lang wieder zu dritt, ununterbrochen ist der Fernseher an. Ich finde keine Ruhe und habe keine Geduld mehr. Die tägliche Hitze des Sommers setzt mir dieses Jahr auch zu. Die Temperaturen schwanken zwischen 35 und 40 Grad Celsius und die Luft steht. Ich fühle mich wie in Schweiß gebadet und wenn es ausnahmsweise einmal regnet, dann hängt die Afrikanerin das Fenster mit einem dicken Leintuch zu. Ich würde mich am liebsten ausgestreckt draußen in die Wiese legen und abschalten.

„Ich fühle mich wie ein halber Mensch, Tag und Nacht wie in eine Haube gehüllt, und ein ununterbrochenes Rauschen im Kopf macht mich wahnsinnig. Der Gefängnisarzt diagnostiziert eine beidseitige Mittelohrentzündung und ein durchbrochenes Trommelfell.“


Anfang August merke ich, dass mit meinen Ohren etwas nicht stimmt. Sie tun mir weh und aus einer Ohrmuschel fließt eine Flüssigkeit heraus. Sie fühlt sich an wie Tränen. Ein fast nicht auszuhaltender innerer Druck vermischt sich mit komischen Geräuschen bis plötzlich das Gehör in einem Ohr verschwindet. Die hohen Frequenzen verwandeln sich noch in ein Surren. Mir wird ganz anders zumute. Ich fühle mich wie ein halber Mensch, Tag und Nacht wie in eine Haube gehüllt, und ein ununterbrochenes Rauschen im Kopf macht mich wahnsinnig. Der Gefängnisarzt diagnostiziert eine beidseitige Mittelohrentzündung und ein durchbrochenes Trommelfell. Er verschreibt mir Medikamente. Ich mag aber keine Medikamente. Ich glaube nicht, dass mir diese helfen. Was ich brauche, ist nur Ruhe und ein gesundes Umfeld. Ich will endlich raus hier, dieser Ort ist es, der mich krank macht. Ich habe ein Recht auf Gesundheit! Sie haben mich auch damals mit meiner kaputten Wirbelsäule einfach mir selbst überlassen. Vielleicht heilt sich mein Körper auch diesmal selbst. Ein ärztliches Zeugnis würde schon genügen, um von hier rauszukommen, das gibt es jedoch erst dann, wenn man total am Ende ist.

„Ich bin krank und schwach und selbst in meinen Gedanken gefangen.“

Das Bild malte Agnes S. während ihrer Haftstrafe.


Für ein paar Tage bekomme ich wieder Ausgang nach Hause, wo ich diesmal auch keine Ruhe finde und nicht schlafen kann. Alpträume verfolgen mich wieder. Die Gedanken, dass ich nachher wieder ins Gefängnis zurück muss, lassen mich diesmal nicht los und verderben mir die freien Tage. Ich bin krank und schwach und selbst in meinen Gedanken gefangen. Zehn Tage reichen nicht aus, um gesund zu werden. Ich muss wieder zurück, ob ich will oder nicht, ob ich heule oder rebelliere, oder nervlich zu Grunde gehe. Ich schleppe mich dahin und gewöhne mich an das taub sein.
Ende August kommt die Afrikanerin frei. Vor Freude hüpft sie mit ihren hundert Kilo auf dem Bett herum. Wie schön ist es, einen glücklichen Menschen zu sehen. Und in der Zelle wird wieder etwas Platz. Irgendwann wird auch für mich dieser Moment kommen. Nicht aufgeben! In der Zelle ist Ruhe eingetreten, die Zellnachbarin, eine Italienerin, ist angenehm und respektvoll. Ich kann mich von Tag zu Tag erholen. Ende September kommt wie ein Wunder mein Gehör wieder zurück. Auch habe ich die schriftliche Zusage für eine Arbeit zu Hause bekommen. Mein Anwalt schickt gleich alle nötigen Papiere aufs Gericht, um endgültig raus zu kommen. Wochen und Monate vergehen ohne Reaktion von Seiten des Gerichts. Ich besuche wieder die verschiedensten Kurse und bereite mich auf die nächsten Prüfungen vor, Filmanalyse und Geschichte der Fotografie. Das baut mich wieder auf.

Der letzte Tag im Gefängnis

Am 15. Dezember 2011 sitze ich im Gerichtsaal. Diesmal kommt Freude auf. Alles spricht dafür, dass ich entlassen werde. Mein Atem wird so leicht und alles Schwere fällt von mir ab. Aber noch einen Tag dauert es, bis das Gerichtsurteil im Gefängnis ankommt. Ich arbeite noch aufgeregt in der Schneiderei. Ich weiß, dass mich jeden Moment die schriftliche Nachricht erreichen kann und ich endgültig nach Hause gehe, dass dies hier mein letzter Arbeitstag ist, dass ich alle Menschen hier hinter mir lassen werde. Diese Mauern, den täglichen Stress und das Gefühl, eingesperrt zu sein. In der Schneiderei wird nur noch gescherzt und gelacht: „Du wirst dem Richter noch ein paar Pantoffeln nähen müssen, bevor er dir den Zettel schickt“, meint eine der Näherinnen.

„Die Nachricht hat mich erreicht: „Preparati, vai a casa!“ Ein Wahnsinn! Vor Freude jauchzen möchte ich und laut schreien!“

Es gibt noch Mittagessen, dann dauert es noch bis 14 Uhr, da werde ich aufgerufen. Der so lange ersehnte Moment, auf den alle Inhaftierten warten, ist für mich gekommen. Die Nachricht hat mich erreicht: „Preparati, vai a casa!“ Ein Wahnsinn! Vor Freude jauchzen möchte ich und laut schreien! Gott sei Dank habe ich alles schon gepackt, ich bin nicht mehr imstande zu denken. Ich bin außer mir vor Freude, meine Knie zittern. Ich höre die Stimmen aus den anderen Zellen, die schon mitbekommen haben, was läuft. Alle freuen sich, wenn eine gehen darf. Ich verabschiede mich von meiner letzten Zellnachbarin mit einer festen Umarmung. Meine Zelle wird aufgesperrt. Alle beginnen an die Türen zu klopfen und zu schlagen und Radau zu machen, dass man sein eigenes Wort kaum noch versteht, so wie bei jeder Entlassung, so wie ein Applaus. Dazwischen klingen Rufe und Schreie: „…a casa!…e vai!…evviva!…ciao!…stammi bene!…fai la brava!…ci scrivi!……ciao!…ciao!…ciao!…“

„Bleibt stark und haltet durch!“

Schnell darf ich eine kleine Runde zu den anderen Zellbewohnerinnen machen um mich zu verabschieden. „Bleibt stark und haltet durch!“, ermutige ich sie, während ich die Tränen in ihren Augen sehe. Die Aufseherinnen stressen, dass ich gehen soll. Ich befolge ihre letzten Befehle und schreite durch den langen Korridor. Während ich aus den Blickwinkeln der Zellentüren verschwinde, verblassen die Töne. Die Töne der Befreiung. Ich habe es geschafft.
Im Erdgeschoss muss ich noch auf den ganzen Papierkram warten, auf die Verordnungen für zu Hause. Ich bekomme meinen Ausweis wieder, meine alte Ledertasche, die seit meinem Eintritt im Magazin gewartet hat, und alles, was sie mir damals genommen haben, ebenso mein altes Nokia, in Stücke zerlegt. Mit meiner Habe in drei Taschen gestopft entferne ich mich von den Gittern. Ich schaue nicht mehr zurück. Auf der Straße sehe ich noch eine Aufseherin in Zivil, wie einen stinknormalen Menschen.

von Agnes S.

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