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Es ist Abend in Sderot – jener israelischen Kleinstadt direkt am Gazastreifen, in der kaum voraussehbar ist, was der Morgen bringt. Vitali (29), ein Student, dessen Eltern 1991 aus der Sowjetunion nach Israel ausgewandert sind, trifft sich mit einer Gruppe von Jugendlichen, um die eigene Zukunft zu planen. Es mag wie ein verzweifelter Versuch wirken, selbst Herr eines weltpolitischen Konflikts zu werden und sich der Spirale der Gewalt zu entziehen, die diese Grenzstadt wie kaum eine andere in Israel prägt. Über die vergangenen Monate waren nur vereinzelt Raketen aus Gaza auf Sderot gefallen, seit wenigen Wochen ist die Stadt dem Raketenregen förmlich ausgeliefert. Es herrscht Krieg im Nahen Osten und abermals trifft es den Süden Israels mit am härtesten. Es ist ein Teufelskreis, denn Israel schlägt aus der Luft erbarmungslos zurück. Hoffnung auf eine friedliche Koexistenz zwischen Israelis und Palästinenser gibt es kaum noch.
Sderot ist vom Krieg gefangen. „Davon wollen wir die Stadt befreien“, betont Vitali in einem Gespräch kurz vor Beginn der aktuellen Eskalation und bei einer Portion Humus mit Pita, dem israelischen Nationalgericht. Es klingt wie ein Appell an die Weltgemeinschaft. „Wir blicken nach vorne und wünschen uns Fortschritt“, so der 29-Jährige. Es könnte das Motto der gesamten Jugendorganisation sein, bei der er Mitglied ist. In mehrere Gruppen erarbeiten sie Ideen und konkrete Vorschläge, um ihrem Ziel, einem friedlichen Wohlstand, näherzukommen. „Viele glauben, dass unser Leben hier in anderen Bahnen verläuft“, sagt Vitali. „Aber das ist nicht der Fall: Wir wollen auch sichere Arbeitsplätze, eine gute Ausbildung für uns und unsere Kinder und wir wollen reisen“, unterstreicht er. Dafür treffen sie sich mehrmals im Monat und diskutieren über Wohnungs- und Arbeitsmarkt, Kulturförderung und Naturschutz. Die Ergebnisse werden anschließend der Gemeinde vorgestellt.
Die Geschichte belastet allerdings die Stadt. Nach der israelischen Staatsgründung 1948 wurden Juden mit unterschiedlichsten kulturellen und ethnischen Hintergründen in Sderot angesiedelt. Die Stadt wurde zum sozialen Brennpunkt. Nachdem sich Israel nach jahrzehntelanger Besatzung 2005 schließlich aus dem Gazastreifen zurückzog, wurde der abgeriegelte Landstrich am Stadtrand Sderots zum Rückzugsort der radikalislamischen Hamas: Seitdem fallen jährlich hunderte Raketen auf die israelische Kleinstadt, die knapp 20.000 Einwohner zählt. Derzeit liegt Sderot an der Front, im Aufmarschgebiet der israelischen Armee, die von hier aus Operationen in den Gazastreifen startet.
Medien zwängen Alltag auf
Vitali denkt trotz des Konflikts positiv. Er spricht vom enormen Potential der Region und vom herausragenden Wirtschaftsstandort Sderots. Dabei gebraucht er häufig den hebräischen Begriff lishnot: Wandel. Tatsächlich hat sich in den letzten Jahren vieles zum Positiven hin gewandelt. So haben verschiedene Arbeiten an der Infrastruktur das Zentrum der Stadt aufgewertet. Aber weiterhin prägen Bunkeranlagen am Straßenrand das Stadtbild. Normalität sieht anders aus und doch streben junge Menschen wie Vitali danach.
„Krieg verkauft sich aber gut“, klagt der Student. Internationale und nationale Medien berichten von der südisraelischen Stadt ausschließlich in Zusammenhang mit Raketenbeschuss und Krieg. „Sie zwängen uns praktisch einen Alltag auf. Es wird uns ein Dauerzustand vor Augen geführt, mit dem wir uns nicht identifizieren können.“ Das Schlimme sei aber, dass in Zeiten tatsächlicher Eskalation niemand Anteil am Leid der Bevölkerung nimmt. So wie derzeit. Die Öffentlichkeit in Israel meint, dass sich die Einwohner Sderots an den Raketenregen gewöhnt haben. Überhaupt wache Israel erst dann aus seinem Traum auf, wenn Raketen in Tel Aviv und Jerusalem einschlagen.
Ein lauter Knall erfüllt plötzlich den Himmel über Sderot. „Das ist der Überschall eines Kampfjets“, mischt sich Shishai (37) in das Gespräch ein. Die israelische Luftwaffe fliegt gerade einen Einsatz nach Gaza. Die Situation verdeutlicht, wie sehr die Bevölkerung an das Kriegsgetöse gewöhnt ist. Geräuschquellen werden sofort zugeordnet und bewertet. „Vor allem Kleinkinder erschrecken, viele tragen ihr Leben lang ein Trauma davon“, ergänzt Shishai. Aber nicht vom Knall des Überschalls, sondern vom Einschlagen der Qassam-Raketen oder dem eindringlichen Dauerton des zeva adom: des Sirenenwarnsystems. Shishai muss es wissen: Er arbeitet als Sozialarbeiter mit 13-jährigen Teenagern.
„Krieg verkauft sich gut“, klagt Vitali. „Die Medien zwängen uns einen Alltag auf. Es wird uns ein Dauerzustand vor Augen geführt, mit dem wir uns nicht identifizieren können.“
Shishai musste als Kind aus seiner Heimat Äthiopien flüchten. Als der Antisemitismus in den 1980er-Jahren am Horn von Afrika die Überhand gewann und es zu Übergriffen kam, flüchteten viele äthiopische Juden über die Wüste Sudans nach Israel. Shishai wuchs in einem Flüchtlingslager auf, später landete er in Sderot, seither setzt er sich für eine bessere Zukunft von Jugendlichen ein. Die Flucht änderte aber nichts daran, dass er weiterhin mit der Lebensgefahr leben muss.
Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung wirkt sein Glauben an den Menschen umso bedeutsamer. „Wir alle teilen doch dieselben Träume, ob in Gaza oder Sderot: Wir möchten eine gute Erziehung, gesunde Kinder, einen guten Verdienst und die Freiheit im Denken“, so der 37-Jährige. „Herkunft hat dabei schlichtweg keine Bedeutung. Menschen haben kein Bedürfnis nach Hass und Krieg!“ Zu dieser Erkenntnis, wie er betont, ist er im Zuge seines Militärdienstes im Gaza gekommen. Nun übt er Kritik am eigenen Staat: „Wir Juden haben über Jahrhunderte friedlich unter den Völkern Europas, Afrikas und Asiens gelebt. Warum können wir nicht einfach unseren arabischen Nachbarn den nötigen Respekt zollen?“
Es dauert nicht lange bis erneut israelische Kampfjets am Himmel zu hören sind. Auf dem Weg nach Gaza. Die Nacht bricht über Sderot herein. Shishai zündet sich eine Zigarette an, Vitali ist bei seiner Gruppe, um an der Zukunft zu arbeiten. Ob in der geistigen Flucht nach vorne oder im Glauben an das Gute im Menschen: Jeder hier geht unterschiedlich mit der Gefahr um, die täglich allgegenwärtig ist.
Hannes Pichler*
*Der gebürtige Nalser studiert Geschichte mit Schwerpunkt jüdische Geschichte in München. In den letzten Monaten absolvierte er ein Praktikum für die Hanns-Seidel-Stiftung in Jerusalem und hielt sich im April und Mai 2014 einige Male auch in Sderot auf.
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