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Veröffentlicht
am 03.07.2015
LebenGatterer9030

„Keine Perspektive“

Veröffentlicht
am 03.07.2015
Der Leiter der Caritas-Flüchtlingsberatung in Bozen, Leonhard Voltmer, im Schüler-Interview über Integration, Vorurteile und Zukunftsaussichten.
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Im Rahmen des Gatterer9030-Workshops haben sich die beiden Oberschüler Hannes Augscheller und Lukas Innerhofer mit dem Thema Migration in Südtirol beschäftigt und Leonhard Voltmer, den Leiter der Caritas-Flüchtlingsberatung in Bozen, in einem Interview dazu befragt.

Leonhard Voltmer

Aus welchen Ländern kommen die Einwanderer in Südtirol hauptsächlich?
In Südtirol lebten Ende 2014 ca. 50.000 Einwanderer. Die meisten davon kommen aus Albanien und Deutschland, gefolgt von Marokko, Pakistan, Rumänien und Mazedonien.

Aus welchen Gründen kommen Einwanderer zu uns?
Das ist sehr unterschiedlich. Vor allem spielen die Gründe eine Rolle, die auch drei Millionen Italiener an Auswanderung denken lassen und zwar die ungewisse Zukunft vor allem bei den Jugendlichen, die keinen Job finden. Viele junge Menschen wohnen heute in Italien bis zu einem Alter von 30 Jahren zu Hause und erhalten von ihren Eltern finanzielle Unterstützung. Bei Krisen müssen dann immer zuerst die gehen, die zuletzt gekommen sind, und das sind oftmals die Einwanderer. Auch vor Akademikern macht die Krise nicht halt. Hinzu kommt die unsichere politische Lage in vielen Ländern. Viele Einwanderer kommen natürlich auch zu uns, weil es in ihrem Land Bürgerkrieg, Terror, Verfolgung und Hungersnot gibt. Ohne Grund verlässt niemand seine Heimat. Weniger komplex zu beantworten wäre die umgekehrte Frage: „Unter welchen Bedingungen bleiben Menschen?“. Sie bleiben, wenn sie eine Perspektive haben – oder keine Chance zu gehen.

Wie sieht die Integrationsarbeit in Südtirol aus?
Viele der Einwanderer – vor allem Flüchtlinge – kommen unvorbereitet nach Südtirol und können sich nicht verständigen. Um sich eine Zukunft in unserem Land aufbauen zu können, ist das Lernen der Sprache aber unumgänglich. In manchen Fällen ist sogar Alphabetisierung notwendig. Die Caritas kümmert sich um Menschen in Not unterschiedlicher Herkunft, Religion oder Weltanschauung und versucht auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Zunächst sind das ihre Grundbedürfnisse wie Unterkunft, Nahrung, Kleidung, medizinische Hilfe. In Bozen und Meran hat die Caritas insgesamt drei Häuser, wo Flüchtlinge vorübergehend wohnen können. Dann unterstützen wir sie beim Antrag um Asyl. Zudem versuchen wir das Zusammenwachsen zwischen Einwanderern und Einheimischen zu fördern durch Sprach- und Alphabetisierungskurse, Kochabende in Südtiroler Ortschaften, wo sich beispielsweise eingewanderte und einheimische Frauen näher kennenlernen können und auch Tipps und Rezepte austauschen, Betriebsbesichtigungen, Einsatz auf Bergbauernhöfen, um nur einige zu nennen, damit sie sich eine Zukunft aufbauen können. In Bozen gibt es seit 2011 eine Koordinierungsstelle für die Integration neuer Mitbürger. Sie betreut und koordiniert Maßnahmen zur Integration in Südtirol, das heißt, sie leistet Informationsarbeit in Form von Vorträgen, Projekten und Workshops, berät Bürger, die sich für Einwanderung interessieren oder selbst aktiv werden möchten und sie untersucht Integrationsprojekte, damit wir sie besser verstehen können.

Welche Tätigkeit haben Einwanderer zuvor ausgeführt und welche Arbeitsmöglichkeiten haben sie bei uns?
Sehr unterschiedlich. Richtig ist, dass der erste Teil der Frage mit dem zweiten zusammenhängt: Je besser die Ausbildung, umso besser die Arbeitsmöglichkeiten. Richtig ist auch, dass viele Einwanderer keine Tätigkeit finden, die ihrer Ausbildung entspricht. In Deutschland beispielsweise sind über ein Drittel der Einwanderer überqualifiziert. Einwanderer, besonders Flüchtlinge, haben es auch in Südtirol schwer eine Arbeit zu finden. Oft fehlt es an einer angemessenen Ausbildung oder der Studientitel wird nicht anerkannt. Die meisten Einwanderer arbeiten in Südtirol im Gastgewerbe, in der Landwirtschaft, in der Pflege und Betreuung von alten Menschen oder im Reinigungsdienst.

Gliedern sie sich in die Kulturgesellschaft Südtirols ein oder behalten sie meist ihre alte bei?
Nach dem Vorbild Südtirol, also einer Gesellschaft, in der alle Bewohner mit mehreren Kulturen in enger Verbindung stehen, werden Einwanderer enge Beziehungen zu vielen Kulturen pflegen. Gerade für Männer und Frauen, die in ihrer Heimat alles hinter sich lassen müssen, sind Kontakte zur Südtiroler Bevölkerung wichtig, Anschluss in einem Verein zu finden oder in einer Mannschaft sportlich aktiv zu sein.

Wie kann man Einwanderer in Südtiroler Vereine integrieren?
Jugendliche Einwanderer in eurem Alter leben oft schon seit Jahren in Südtirol, sind von klein auf hier zur Schule gegangen, beherrschen die deutsche und italienische Sprache nahezu perfekt, haben viele Freundschaften geknüpft und spielen in einer Mannschaft Fußball, engagieren sich in verschiedenen Vereinen. Schwieriger ist es für Einwanderer, die neu ins Land kommen. Wir versuchen sie auf ihrem Weg zu begleiten und ihnen Einblicke in das Südtiroler Gesellschaftsleben zu geben.

Welche Möglichkeiten und Angebote gibt es für sie, sich bei uns sprachlich weiterzuentwickeln?
In Bozen gibt es ein Multisprachenzentrum, die sogenannte Bibliothek der Sprachen, in Meran die Sprachenmediathek, eine Bibliothek ohne Bücher, wo man über 10 Sprachen selbst erlernen kann in Sprachkursen, anhand von Filmen und Hörbüchern. Hier sind in Südtirol wirklich multikulturelle Treffpunkte entstanden. Zudem werden besonders in den Städten unterschiedliche Sprachkurse angeboten.

Werden Einwanderer gegenüber der Südtiroler Gesellschaft in Sachen Unterstützung bevorzugt?
Nein.

Wie müssen wir mit der Gewalt und den Einbrüchen umgehen, die in letzter Zeit Südtirol erschüttert haben?
Für diese Frage bin ich nicht Experte, denn es gibt keinen Ursachenzusammenhang zwischen Staatsbürgerschaft und Kriminalität. Experten sind hingegen Kriminologen und es gibt, differenziert nach Delikten, genaue Erkenntnisse, welche Bedingungen Einfluss haben auf die Häufigkeit bestimmter Delikte.

Ist es also nur ein Vorurteil, dass viele Einwanderer zu uns kommen und das Sozialsystem ausnutzen?
Weder Einheimische noch Einwanderer nutzen das Sozialsystem aus. Sollte jemand in eine Notlage geraten, helfen gesellschaftliche Institutionen, diese Notlage zu überbrücken, und das ist gut so. Es ist ethisch geboten, es ist gesellschaftlich gewollt und es ist ökonomisch sinnvoll.

Wie versuchen Sie die Südtiroler für die Probleme der Flüchtlinge zu sensibilisieren?
Beispielsweise durch das Projekt „Freihand“. Es ist ein Sozialprojekt der Caritas Flüchtlingsbewegung. Kostenlos arbeiten Männer und Frauen und erledigen anfallende Arbeiten in Haus und Garten für die Südtiroler wie zum Beispiel Rasen mähen, Schnee räumen, auf Kinder aufpassen, einkaufen. Dafür werden die Einwanderer von der Caritas versichert und bekommen eine kleine finanzielle Unterstützung.

Wie werden sich die Einwandererzahlen in Südtirol aller Voraussicht nach in den nächsten Jahren entwickeln?
Einwanderer schätzen in Südtirol die Natur, die Ruhe und Sicherheit, den Frieden und die Hilfe und Unterstützung, die sie bekommen. In den letzten 20 Jahren sind die Einwandererzahlen ständig angestiegen. Ich denke nicht, dass die Zahl der eingewanderten Personen in den nächsten Jahren nachlässt, solange es in ihren Herkunftsländern so große Probleme und Unsicherheiten gibt und Flucht der einzige Ausweg ist.

Welche Zukunftsperspektiven haben Einwanderer?
Wie ich schon eingangs erwähnt habe, ist es nicht immer leicht für sie, in ihrer neuen Heimat Fuß zu fassen und auch Arbeit zu finden. Wichtig scheint mir, dass wir ihnen unsere Hilfe anbieten, sie in der ersten Zeit unterstützen, damit sie lernen, ihr Leben allmählich eigenständig zu organisieren, eine Wohnung zu suchen, eine Ausbildung für ihre Kinder gewährleisten.

Was hat Sie persönlich dazu bewegt, Flüchtlingsberater zu werden?
Als Flüchtlingsberater kann ich Menschen helfen, die zwar aktuell in einer Notsituation sind, diese aber in relativ kurzer Zeit überwinden können. Das gibt mir persönlich das Gefühl, etwas Sinnvolles für die Gesellschaft zu tun, und es gibt mir das Vertrauen, dass der soziale Aufstieg möglich ist.

Interview: Hannes Augscheller, Lukas Innerhofer

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