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Im Dezember 2009 verbringe ich wieder 10 Tage alleine in der Zelle in Bologna. Diesmal mit genügend Schreibmaterial, was mir vorläufig reicht, denn ich habe nur das Bedürfnis, mit Ruhe zu schreiben. Jeden Abend lege ich eine Menge Post an die Zellentür, wo sie in der Nacht von den Aufseherinnen gesammelt wird. Der Kontakt zu meinen Leuten ist mir am wichtigsten, auch wenn es nur Briefkontakt ist. Viele meiner Bekannten und Freunde warten über ein Jahr auf ein Lebenszeichen von mir. Ich kann nun wieder schreiben so viel ich will, was ich will und in welcher Sprache ich will. Das Alleinsein ist mir willkommen und ich fühle mich endlich befreit von der zermürbenden Zeit in der Therapiegemeinschaft, so leid es mir um die schöne Naturlandschaft tut. Nach 15 Monaten kann ich das erste Mal in der Früh wieder ausschlafen, Kaffee trinken und essen wann ich will. Niemand schreibt mir vor, wie ich mich bewegen muss und wann ich mich hinlegen darf. Ich kann fernsehen, wann ich will und was ich will. Endlich bekomme ich mit, was in der Welt passiert. Zufällig läuft eine Sendung über Gefängnisse, in der ein Geistlicher spricht: „Das Gefängnis ist eine Struktur, welche Kriminalität erzeugt. Es hat keinen Sinn und nützt nichts … Ein Häftling kostet dem Staat 300 Euro pro Tag …“ Ich werde auf alle Fälle die Zeit für mich nützen. „Momo“ schreibt in ihrem Buch „Ich bin reich an Zeit“ und so fühle ich mich.
Musik der siebziger Jahre aus dem Fernseher heitert mich auf. Draußen scheint die Sonne und der Himmel ist blau. Ich dachte, hier wäre der Winter nur grau wie vor zwei Jahren. Es ist diesmal nicht so schwer für mich und ich kenne schon alles. Ich nehme mir vor, mich nicht stören zu lassen von dem Lärm im Flur. Trotzdem bin ich sehr nervös, wenn ich mir mein Strafende im Januar 2014 vorstelle und mir eingestehen muss, dass trotz besten Willens alles schief gelaufen ist. Die Zelle ist kalt, ich schlafe mit Leintuch, Decke, Handtuch und Jacke.
Meine Anfrage um das Anvertrauen an den Sozialdienst auf dem Gericht in Bologna wird leider abgelehnt. Die Hoffnung, dass ich bald nach Hause käme, die ich meinen Leuten und mir selbst schon seit zwei Jahren gemacht habe, kann ich aufgeben. Es ist wie es ist. Sätze aus dem Buch „Das denkende Herz“ von Etty Hillesum beruhigen mich. Sie schreibt: „ … unsere einzige moralische Aufgabe: In sich selbst große Flächen urbar zu machen für die Ruhe, für immer mehr Ruhe, so dass man diese Ruhe wieder auf andere ausstrahlen kann.“ Ich bin froh, dass zu Hause trotz meiner langen Abwesenheit soweit alles in Ordnung ist. Eine nette Frau aus Südamerika, die gut italienisch spricht, selbst inhaftiert ist und als Putzfrau arbeitet, kommt an meine Zellentür: „Hallo, wie heißt du? Von wo bist du? … Kannst du für mich Zigaretten drehen?“ Hier gibt es auch Tabak und verschiedene Zigarettensorten, nicht nur Diana rot. Ohne bestraft zu werden können wir Zigaretten austauschen wie viele wir wollen. „Kann ich machen! Und du?…“ Wir unterhalten uns ein wenig und nach und nach lerne ich die neugierigen Frauen kennen, die in den anderen Zellen leben. Von den früheren, die ich gekannt hatte, sind scheinbar fast alle entlassen worden.
Nach zehn Tagen Einzelhaft werde ich in eine andere Zelle versetzt, zu einer depressiven Italienerin, Mitte vierzig, Mutter eines Zehnjährigen, welcher bei ihren Eltern untergebracht ist. Ihre Lieblingsfarbe ist rosarot. Am großen Fenster, an welchem zum Glück kein engmaschiges Gitter angebracht ist, sondern nur ein paar Eisenstangen, hängt ein rosa Leintuch als Vorhang. Sie scheut das Tageslicht und sperrt es wenn möglich hinaus und sie geht kaum aus der Zelle. Auf dem kleinen Tisch als Tischtuch und auf dem Kasten sind rosa Stoffflecken aufgelegt. Ihre Leintücher sind auch rosa. Poster und Fotos hängen auf jedem freien Fleck. Im Schrank und unter dem Bett ist alles vollgestopft mit ihren neuesten und modernsten Kleidern und Schuhen, sie legt viel Wert auf ihr Äußeres. Sie hat schwere gesundheitliche Probleme und ist moralisch am Boden. Täglich braucht sie Mengen an Medikamenten, Psychopharmaka und Methadon. Sie raucht den ganzen Tag und schläft dabei oft ein, ebenso während sie isst oder schreibt. Ihr Bettzeug ist voller Brennflecken. Um 19 Uhr begibt sie sich meistens ins Bett. „Ach, gäbe es doch ein Schlafmittel, das bis zu unserem Strafende wirken würde“, phantasieren wir unsere Wünsche.
Am 19. Jänner 2010 wird eine 24-jährige Polin zu uns in die Zelle gequetscht. Sie ist nett und unkompliziert. Sie kam im Oktober nach Italien, um Arbeit zu suchen, wurde bald wegen Diebstahls verhaftet und zu acht Monaten Gefängnis verurteilt. Die Hälfte der Zeit hat sie bereits hinter sich. Sie hat kein Geld und keine Bekannten in Italien. Ihre Mutter ist vor einiger Zeit gestorben und sie hat noch ihren Vater und ihre Schwester mit drei Kindern zu Hause in Polen. Freiwillige Helfer besorgen ihr ein Ticket für ihren Rückflug nach Hause, so dass sie bei ihrer Entlassung nicht auf der Straße landen muss. Es ist schrecklich eng zu dritt auf elf Quadratmetern zusammenzuleben. Laut Gesetz wären sieben Quadratmeter pro Person vorgeschrieben. Ich stelle mir die Männer im Nebengebäude vor, welche sich elf Quadratmeter zu viert teilen müssen. Nicht umsonst hören wir immer wieder von Selbstmordversuchen bei ihnen, auch ein Todesfall, was mir unglaublich leid tut. Ich schaffe mir inneren Freiraum, beschäftige mich mit Malen und kreativem Gestalten mit der Gewissheit, dass irgendwann diese Zeit hier vorbeisein wird.
Unter vielen bekannten Gesichtern treffe ich meine Kunsttherapeutin. Zu meiner Freude kann ich in ihren Aquarelltherapiekurs wieder einsteigen. Das Gefängnispersonal ist mehr oder weniger dasselbe wie vor zwei Jahren. Sie nennen mich „Schumacher“ oder „Beckenbauer“, wie damals, denn sie können trotz ihrer Mühe meinen Nachnamen nicht richtig aussprechen. Ich befinde mich jetzt im 1. Stock in der Abteilung A mit etwa 35 definitiv verurteilten Frauen, darunter mehr als die Hälfte Ausländerinnen. Wir können die wöchentlichen Kurse besuchen, die uns von freiwilligen Helfern angeboten werden. Es gibt einen Kunstkurs für Malerei, einen Keramik- und Tanztherapiekurs, Nähkurs und Poesiekurs. Im Laufe des Jahres wird von einer Genossenschaft, „Cefal“ genannt, ein drei Monate dauernder, professioneller Intensivkurs für Putzfrauen mit Entlohnung der Teilnehmerinnen angeboten, ebenso eine professionelle Schneiderausbildung, für welche ich mich gleich bewerbe. Für die Ausländer gibt es eine Volks- und Mittelschule und eine Handelsschule nur für die Männer. Wir haben auch die Möglichkeit kostenloser Universitätsstudien. Für Musik gibt es leider keinen Kurs, was ich sehr bedauere, denn die Musik fehlte und fehlt mir am meisten. Ein Musikraum ist hier nur den Männern vorbehalten. Der Gefängniskaplan, der nette Franziskanerpater mit dem langen Bart, den ich vor zwei Jahren bereits kennengelernt habe, gibt mir jedoch die Möglichkeit die Sonntagsmessen der Inhaftierten mit dem Harmonium, auf dem ich schon früher spielen durfte, musikalisch zu gestalten. Dabei begleiten mich Sänger und Gitarristen von „draußen“. Nach 15 Monaten Verbot endlich wieder etwas Musik machen, herrlich! An der Wand sehe ich das Bild wieder, welches ich damals für die Kapelle gemalt habe.
Von Agnes S.
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