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Verkehrsunfälle, Suizide und Todesfälle – Notfallseelsorger werden dann gerufen, wenn keiner hinschauen will. Die ehrenamtlichen Helfer spenden Trost, helfen den Angehörigen, das Erlebte zu verarbeiten oder schweigen gemeinsam mit ihnen. In Südtirol sind sie auf sechs Zonen aufgeteilt. Der 51-jährige Norbert Vieider, Filmemacher aus Bozen, ist Vizegruppenleiter der 13-köpfigen Gruppe der Notfallseelsorger in Bozen. Seit 2011 war er bei über zwanzig Einsätzen dabei. Der letzte liegt drei Wochen zurück. Ein Todesfall in der Familie, die Angehörigen mussten betreut werden.
Warum bist du Notfallseelsorger?
Durch Zufall. Nach einem Kirchenbesuch sagte eine Bekannte, dass sie mich bei der Notfallseelsorge gut sehen würde. Ich erkundigte mich und fand es spannend. Daraufhin besuchte ich einen Infoabend.
Wie wird man als Notfallseelsorger geschult?
Die Ausbildung wird einmal im Jahr organisiert, sie findet im Bildungshaus in Sarns bei Brixen statt. Dort wird man auf verschiedene Themen des Dienstes vorbereitet, was sehr hilfreich ist. Dann gibt es eine Prüfung und man kommt in die Gruppe.
Bei welchen Fällen wirst du hinzugezogen?
Bei allen Fällen, die mit dem Tod zu tun haben: Bei Suizid, Verkehrsunfällen, erfolglosen Reanimationen oder Freizeitunfällen. Ich überbringe auch Todesnachrichten an Angehörige. Ein neuer Aufgabenbereich ist auch, dass wir Menschen bei einer Vermissten-Suche betreuen oder bei größeren Unfällen oder Katastrophen.
So wie jetzt in Amatrice …
Wir waren jetzt in Amatrice nicht vor Ort, damals in L’Aquila aber schon – das hängt davon ab, ob uns die 118 alarmiert. Rettung, Feuerwehr oder Polizei kommen zum Unfallort und sehen, dass Angehörige Hilfe brauchen. Dann informieren sie uns. Bei größeren Fällen ist es der Zivilschutz, der uns anfordern muss, wir können nicht von alleine die Initiative ergreifen.
Wie gehst du bei einem Einsatz vor?
Wir sind immer mindestens zu zweit vor Ort. Zuerst sehen wir uns die Situation an und holen Grundinformationen ein. Danach beginnen wir damit, die Leute zu betreuen. Wir helfen ihnen, wieder eine Struktur hinein zu bringen. Die Menschen werden von einem Moment zum anderen mit schwierigen Situationen konfrontiert, vor allem bei der Überbringung von Todesnachrichten. Wir wissen nicht, wie die Leute reagieren und müssen daher auf alles vorbereitet sein. Wichtig ist auch, dass wir nicht werten. Der Verursacher eines Verkehrsunfalles ist zum Beispiel kein Schuldiger für uns, das hat für uns keine Relevanz.
„Wenn es klingelt und drei bis vier Leute in Uniform stehen vor der Tür, ist jedem klar, dass etwas passiert sein muss.“
Im Fernsehen läuft es bei Todesfällen meist so ab: Zwei Polizisten stehen vor der Tür, sie wollen reinkommen, man soll sich setzen und die Nachricht wird sehr nüchtern überbracht. Ist der Ablauf wirklich so?
Ja, wir gehen meist zusammen mit den Behörden hin. Vorher sprechen wir uns ab, wer die Nachricht übermittelt. Wir gehen in die Wohnung und sagen einfach und klar: Die Person ist gestorben. Man muss bedenken, wenn es klingelt und drei bis vier Leute in Uniform vor der Tür stehen, ist jedem klar, dass etwas passiert sein muss.
Wie lange bleibt ihr vor Ort?
Wenn die Behörden gehen, bleiben wir noch für rund zwei Stunden. Wir bleiben so lange, bis die Angehörigen von Verwandten oder Bekannten betreut werden. Wir sind sozusagen die Erste Hilfe für die Seele. Falls nötig, übernehmen Psychologen die Nachbetreuung.
Wie können Notfallseelsorger den Angehörigen helfen?
Wir sind einfach für die Leute da. Wir versuchen mit ihnen über das, was passiert ist, zu sprechen. Das ist die erste Form der Verarbeitung. Wir erledigen aber auch banale Dinge wie Decken oder Wasser holen bei Unfällen. Es hängt immer vom Fall ab, keiner gleicht dem anderen, man muss flexibel sein.
Wann ist es besser, zu schweigen?
Man muss Stille aushalten können, selbst wenn sie länger andauert. Man muss sich in die Leute hineinversetzen. Sie bekommen eine Nachricht und haben das Gefühl, der Boden unter den Füßen bricht weg. Jeder reagiert anders. Der eine sagt „ich glaube das nicht, das kann nicht sein“, ein anderer fängt an zu weinen und der dritte sagt: Okay. Diesen Reaktionen muss man sich anpassen, schweigen gehört da dazu. Die Angehörigen müssen die Nachricht auf ihre Art verarbeiten.
Wollen die Menschen die Hilfe von Notfallseelsorgern überhaupt?
Großteils schon. Es ist auch schon passiert, dass wir abgewiesen wurden. Das respektieren wir. Es ist ein freiwilliger Dienst. Wenn die Leute den Dienst nicht möchten, drängen wir uns nicht auf.
Welche Einsätze kommen am häufigsten vor?
Bei uns sind es meistens erfolglose Reanimationen, auch ziemlich viele Suizide und natürlich Unfälle.
Geht man anders vor, je nachdem ob es ein Suizid war, ein Gewaltverbrechen oder ein Unfall?
Beim Suizid geht man anders vor. Bei Angehörigen ist es meist noch ein Tabuthema, über das man nicht spricht. Man muss also besonders behutsam vorgehen und vorab abklären, ob ein Abschiedsbrief gefunden wurde oder nicht. Das spielt auch eine Rolle bei der Betreuung der Angehörigen.
Wie wichtig ist es, bei den Einsätzen Distanz zu wahren?
Grundsätzlich versuche ich immer, Distanz zu wahren und keine Parallelen zu mir selbst zu ziehen. Das lernt man schon in der Ausbildung, aber auch mit jedem neuen Einsatz. Auch die Uniform hilft dabei, Distanz zu wahren. Sie ist ein Schutz für uns selbst. Aber wir sind auch nur Menschen und keine Roboter. Wir können unsere Gefühle nicht einfach abschalten, vor allem wenn es sich um sehr tragische Schicksale handelt. Wenn mich eine Situation emotional trifft, ziehe ich mich einen Moment zurück. Es gibt auch die Möglichkeit zu tauschen, dann betreut der jeweilige Partner die Person weiter.
Ist dir das schon passiert?
Es ist einmal passiert. Wir haben einer älteren Dame die Nachricht überbracht, dass ihr Sohn verunglückt ist. Eine Arbeitskollegin hat mit der Mutter so nett gesprochen, das war für mich ein sehr emotionaler Moment. Ich ging dann einfach kurz raus und erledigte einige organisatorische Dinge. Danach ging es wieder.
„Es kann sein, dass einem Bilder oder Gerüche nachhängen, darauf muss man achten.“
Wie gehst du mit der Belastung um, wie verarbeitest du deine Eindrücke?
Gewisse Situationen sind belastend. Was für uns dann sehr hilfreich ist, ist die Partnerin oder der Partner, mit der oder mit dem man im Einsatz ist. Nach einem Einsatz gehen wir meist noch etwas trinken und sprechen darüber. Oder wir machen etwas, wodurch wir wieder Kraft bekommen. Das wichtigste ist die Gruppe der Notfallseelsorger, mit der wir offen sprechen können. Einmal im Monat haben wir eine verpflichtende Nachbesprechung. Dort werden die Fälle durchgesprochen, damit nichts hängen bleibt. Es sind zwei Psychologinnen dabei, die uns betreuen. Es kann sein, dass uns Bilder oder Gerüche nachhängen, darauf müssen wir achten. Wir müssen eine gewisse Reife besitzen und offen sagen, wenn uns etwas nicht aus den Kopf geht. Dann sprechen wir mit den Psychologinnen darüber.
Gab es in den fünf Jahren als Notfallseelsorger Momente, an die du dich immer noch erinnerst?
An den ersten Einsatz werde ich mich immer erinnern. Es war ein Verkehrsunfall und wir haben der Familie die Todesnachricht überbracht. Ich war sehr aufgeregt, zum ersten Mal im Einsatz zu sein.
Hast du, seitdem du Notfallseelsorger bist, einen anderen Blick auf den Tod?
Ja, ich lebe bewusster. Früher habe ich den Tod eher verdrängt. Heute ist mir bewusst, dass der Tod einfach zum Leben gehört. Nach Einsätzen bin ich immer dankbar, dass es mir gut geht und ich bin mir bewusst, wie schnell sich das ändern kann. Von einem Moment zum anderen kann plötzlich alles anders sein.
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