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Es ist der 21. April 2011. Ich bin endlich zu Hause, welche Freude! Endlich kann ich meine Schwester, die mich vom Bahnhof abholt, umarmen. Es ist verrückt, sie nach dieser ewigen Zeit wiederzusehen. Unser Dialekt kommt mir fremd und komisch vor. Mir fallen viele Worte nicht mehr ein. Wir setzen uns gleich mal vor ein Café ins Freie. Oh, wie gut ist die Luft und wie schön ist es hier! Blumen und blühende Bäume und Sträucher sind ringsum. Ich kenne das nicht mehr. Und wie schön ist es, einfach andere Menschen zu sehen. Kaum haben wir bestellt, fällt mir jedoch ein: keine „esercizi pubblici“ besuchen! Ich weiß nicht, ob ich mich hier aufhalten darf. „Trinken wir schnell aus und gehen!“ Wir fahren sogleich bis zur Station der Carabinieri, um meine Ankunft anzumelden. Ich bin jetzt in ihren Händen. „Können Sie mir bitte erklären, was mit „esercizi pubblici“ gemeint ist?“, frage ich den Beamten höflich. Darauf gibt er mir freundlich zur Antwort: „Bars und …“ Er zögert. „Auch Restaurants und Geschäfte …?“, frage ich weiter. Er weiß es nicht genau und mir scheint, als würde er das nicht so wichtig nehmen und sich auch nicht informieren.
Mein Sohn meint: „Mama, irgendwann gewöhnt man sich einfach daran, dass du nicht mehr da bist.“
Im schönen, geräumigen Wohnzimmer meiner Schwester bin ich mit meinen Kindern zum Essen eingeladen. Ich kann es kaum glauben, sie wiederzusehen, sie wieder zu umarmen, ich bin zu Tränen gerührt. Sie sind so erwachsen und selbständig geworden. Irgendwie fühle ich mich fremd, die ganzen Jahre hindurch war mir das Mutter-Sein genommen, der größte Schmerz dieser Zeit. So viele Jahre weg, ob das je wieder gut zu machen ist? Wie schwer muss das alles für sie gewesen sein. Mein Sohn meint: „Mama, irgendwann gewöhnt man sich einfach daran, dass du nicht mehr da bist.“ Diese Jahre sind dahin. Auch sie freuen sich, mich wieder zu sehen. Jetzt können wir einander endlich in Ruhe erzählen, endlich voneinander hören und zusammen essen, ein paar Tage zusammen verbringen. Endlich! Wie gut ist das Essen hier und wie rein das Trinkwasser! Ich fühle mich so ausgehungert. Ich halte ein Weinglas mit Wasser gefüllt in meinen Händen und betrachte es. Noch nie fand ich Glas so edel. Seit fast vier Jahren hatte ich weder ein Glas gesehen noch berührt. Endlich gibt es für mich auch wieder Porzellangeschirr und Besteck wie früher. Es fühlt sich so schwer an, ich durfte die ganzen Jahre doch nur die kleinen Plastikmesser und -besteck benutzen.
Alles ist so anders und einmalig. Im Freien grünt und blüht es überall. Es duftet und diese Farben, noch nie fand ich sie so prächtig und gewaltig! Ein Paradies! Neue Häuser stehen da und dort, Straßen sind umgebaut und neu gebaut und alle mit Blumen umrahmt. In der Stadt, dort, wo ich früher oft mein Auto parkte, ist kein Parkplatz mehr, da steht plötzlich ein riesiges Gebäude. Überall, wo ich hinkomme, ist etwas Neues. Die Leute im Tal schauen anders aus, einige sind sehr gealtert, die einst Jugendlichen sind plötzlich Männer und Frauen. Einige von ihnen erkenne ich gar nicht mehr, so auch Nichten und Neffen von mir. Viele Kinder in meiner Verwandtschaft und Bekanntschaft sind in der Zwischenzeit zur Welt gekommen und die Kleinen sind groß geworden. Welch schöne Begegnungen habe ich mit Nachbarn, Freunden und Bekannten. Sie umarmen mich, drücken mir die Hand und wollen gar nicht mehr loslassen. Sie wollen wissen, wie es mir geht und wie es mir ergangen ist. „Du hast doch keinen Menschen umgebracht, nach so langer Zeit werden sie dich wohl frei lassen …“, sagen sie mir. Ich habe gar nicht das Gefühl, dass ich schräg angeschaut werde, wie ich befürchtet hatte, nein, im Gegenteil, alle sind so herzlich zu mir und freuen sich.
Die sind doch alle „frei“, die müssten doch alle vor Freude jubeln, kommt mir vor. Ach, könnte ich ihnen doch etwas von meiner Freude geben!
Natürlich kommen auch Bemerkungen von Leuten, mit denen ich eigentlich am wenigsten zu tun hatte und die am wenigsten über meine Geschichte wissen, so wie: „Jetzt wirst du den Blödsinn wohl lassen!“ Meine Freude überflutet solche Sätze und ich gebe zur Antwort: „Natürlich!“ „Ja, ja, Agnes, ist der Ruf erst mal ruiniert, dann lässt sichs leben ungeniert“, bekomme ich dann zu hören. Ich rede mit jedem, ich bin neugierig, was die Leute von sich erzählen. Ich treffe auch einige, denen es gar nicht gut geht, die in der Zwischenzeit in die Alkoholsucht gefallen sind, was mir sehr leid tut. Ich möchte ihnen gerne helfen. Aber wer kann da schon helfen!? Und ich muss ja schauen, meine Geschichte in Ordnung zu bringen. Das Leben ist doch schön! Die sind doch alle „frei“, die müssten doch alle vor Freude jubeln, kommt mir vor. Ach, könnte ich ihnen doch etwas von meiner Freude geben!
Ich möchte meine Vertrauensärztin besuchen, aber sie ist nicht auffindbar, telefonisch nicht erreichbar. Die Nummer existiert nicht und unter diesem Namen gibt es keine Nummer, so die Auskunft. Ich erfahre dann zu meinem Schrecken, dass sie gestorben ist. Oh Gott! Auch mein Pranatherapeut von früher, den ich aufsuchen möchte, ist in der Zwischenzeit an Nierenversagen gestorben. Ich bin sehr bestürzt, die waren doch nicht alt! Was ist da passiert?
Ich trete wieder in meine Wohnung, die ist nicht mehr wie damals, als ich fortging. Meine Kinder haben sich wohl eingerichtet, alles ist sauber und in Stand gehalten. Sie meistern die Situation tapfer. Dies gibt mir unglaubliche Kraft. Ich fühle mich auch hier irgendwie fremd und doch: die alt vertrauten Räume, unser Balkon, meine Küche … endlich wieder zu Hause mit meiner Familie kochen und essen… Der Kühlschrank ist voller guter Dinge, ich kann das Geschirr und die Gegenstände wieder in meine Hände nehmen, das ist wie früher. Endlich spüre ich wieder die wohlige Wärme des Feuers in unserem Herd und ich höre es knistern. Im Gefängnis hatten wir uns ab und zu eine kleine Kerze aus Käsewachsrinde und einem Baumwollfaden gebastelt um ein kleines wärmendes Feuer zu erleben. Endlich wieder ein Bad in der Badewanne nehmen, welche Wohltat das ist! Ich kann mich ans Telefon setzen und telefonieren so viel und wann und mit wem ich will. Das bin ich alles nicht mehr gewohnt, das ist so bequem! Und welche Ruhe im Haus herrscht, es ist unglaublich, wieder die Stille erleben zu dürfen. Am Abend, wenn alle schlafen, höre ich nur das altvertraute Ticken unserer Uhr. Ach, könnte ich doch die Zeit dieser fünf Tage anhalten! Es ist so still, dass ich kaum einschlafen kann. In meinem Kopf hallen die Töne des Gefängnisses wider. Ich kann wieder unter einem Federbett schlafen, das ist so wohlig, das Federbett, das mir so lange fehlte. Ich schlafe mit der Sicht durch das Fenster zu den Sternen, die mir so fehlten.
In der Nacht läutet die Hausglocke: „Carabinieri!“ Sie machen nur ihre Arbeit und müssen kontrollieren, ob ich zu Hause bin. Von 21 Uhr bis 7 Uhr können sie zu jeder Zeit kommen. In der Früh höre ich den Vogelgesang aus den umliegenden Wäldern und das Rauschen des Baches als Einstimmung in den Tag, das ist phantastisch.
Ich kann wieder auf meinem geduldigen Klavier spielen und darf die neue Orgel in der Musikschule ausprobieren. Ich merke, dass ich in diesen Jahren alles verlernt habe. Mein über alles geschätzter Musikprofessor wird mich wieder unterrichten, sobald ich frei sein werde. Am Vorabend meiner Rückreise besuche ich noch den Hof meiner Eltern, wo mein Bruder gerade seine Stallarbeit verrichtet. Ich sehe endlich meine lieben Kühe wieder. Es gibt frische Milch und Bauernbrot. Ich möchte gerne von allem etwas mitnehmen. Ich darf aber nicht.
Am Tag darauf befinde ich mich pünktlich wie vorgeschrieben am Eingang des Gefängnisses. Meine Prüfung für Musikästhetik wartet auf mich und auch die Arbeit in der Schneiderei. Ich werde diese letzte Etappe auch noch schaffen, sage ich mir selbst. Und doch habe ich etwas von zu Hause mitgenommen, eine unglaubliche Lebensfreude und den hängengebliebenen Stallgeruch in meinen Kleidern, den ich so gerne mag.
Von Agnes S.
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