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Valentina Gianera
Veröffentlicht
am 24.02.2023
LebenInterview mit Migrationsforscherin

Ein Problem der Perspektive

Veröffentlicht
am 24.02.2023
In Südtirol fehlt der Wille, um Migrant:innen ein würdevolles Leben zu ermöglichen – auf gesellschaftlicher und politischer Ebene, sagt die Migrationsforscherin Serena Caroselli.
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Seit 2017 beschäftigt sich Serena Caroselli mit der Frage, wie sich politische Entscheidungen konkret auf das Leben von Migrant:innen in Südtirol auswirken. Ihren Forschungsschwerpunkt richtet sie dabei explizit auf Frauen. Die heute in Rom lebende Wissenschaftlerin kam 2017 im Rahmen einer Forschungsarbeit zu den Migrationsprozessen an der Brennerroute nach Bozen, wo sie bis 2021 – zuerst als Doktorandin der Universität Genua und später als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Venedig – forschte. Aus ihrer Arbeit auf dem Territorium sind mehrere Publikationen entstanden, darunter “Le donne richiedenti asilo e protezione internazionale in Italia tra riconoscimento e vulnerabilità sociale” sowie eine Veröffentlichung zum Thema Menschenhandel entlang der Brennerroute. Sie selbst bezeichnet sich als Menschenrechtsaktivistin, die sich für die Rechte von Migranten und insbesondere von Migrantinnen einsetzt.

BARFUSS: Wenn wir von Migrant:innen sprechen, gibt es tendenziell zwei Narrative: Eines, das Migrationsbewegungen als Problem darstellt und ein Opfernarrativ, das im Zuge der Migrationsbewegungen vor allem Frauen trifft. Du stellst beide Narrative infrage. Warum?
Serena Caroselli:
Die Anwesenheit von Personen mit Migrationshintergrund muss als Bereicherung erkannt werden und nicht als Problem für die lokale Bevölkerung. Aber auch das Opfernarrativ muss dekonstruiert werden: Es gibt eine reale Seite der Gewalt. Diese hat sich durch die Einengung der Möglichkeiten zur Migration verhärtet. Kamen Migrant:innen vor einigen Jahren noch im Zuge eigener Projekte und Ziele nach Italien, so ist ein Asylantrag für viele heute die einzige Möglichkeit, um das Territorium zu erreichen. Dadurch steigern sich die Gefahren und Gewaltsituationen, denen Migrant:innen in ihrer Migrationsbewegung ausgesetzt sind. Gefahren, die sich – zwischen Menschenhandel und Prostitution – in besonderer Art und Weise auf den Körper der Frau niederschlagen und so das Opfernarrativ verhärten. Neben dieser realen Seite der Gewalt gibt es aber auch einen immateriellen Aspekt: Handlungen und Bewegungen von Personen, die die kulturellen Erwartungen der lokalen Bevölkerung sprengen, werden entweder gar nicht oder als Zwang wahrgenommen. Auch dadurch verhärtet sich das Narrativ, das Frauen mit Migrationshintergrund als „Opfer ihrer eigenen Kultur“ wahrnimmt.

Es sind also die Erwartungen der lokalen Bevölkerung, die die bereits schwierige Situation der Migrant:innen verhärten?
Ja, unter anderem. Es gibt eine ganze Reihe an Erwartungen, die sich an einem scheinbar universellen Frauenbild orientieren, tatsächlich aber die kulturellen Werte und Erwartungen des Westens verkörpern. Entscheidungen, die manche Migrantinnen treffen, werden infolgedessen als eine Form der kulturellen Unterwerfung wahrgenommen und die Frau als Opfer eines kulturellen Systems. Dabei wird den Frauen ihre aktive Rolle abgesprochen und sie in ihrem Handlungsspielraum und ihrer Entscheidungsfreiheit eingeschränkt.

Serena Caroselli

Wo zeigen sich diese kulturellen Erwartungen der lokalen Bevölkerung konkret?
Viele Integrationsmaßnahmen zielen darauf ab, dass Migrantinnen an Projekten teilnehmen, die die Emanzipation der Frau zum Ziel haben. Dabei geht es häufig um eine Emanzipation im westlichen Sinn: Die persönliche Geschichte und Kultur, Erfahrungen, Erwartungen der Familienangehörigen, Verantwortlichkeiten gegenüber der Familie oder anderen sozialen Netzen werden kaum berücksichtigt. Viele Migrantinnen haben auch keine andere Wahl, als an diesen Projekten teilzunehmen: Um eine geregelte und sichere Existenz führen zu können, müssen sie die verschiedenen Integrations- und Aufnahmemaßnahmen durchlaufen.

Auch deshalb, weil die Möglichkeiten, um sich autonom eine Existenz aufzubauen und eigene Projekte und Ziele zu verfolgen, fehlen.
Genau. Das fängt schon bei der Frage nach einer eigenen, passenden Wohnung an. Migrant:innen, die in Italien Asyl beantragen, bleiben zuerst monatelang in einem Erstaufnahmezentrum (CPA oder CAS) hängen, von wo sie dann in Strukturen für die sekundäre Aufnahme (SAI) gebracht werden. Was nur von kurzer Dauer sein sollte, zieht sich über Jahre: Viele wandern jahrelang von einer betreuten Struktur in die nächste, manche landen auf der Straße. Eine eigenständige Wohnung zu finden, um sich eine autonome Existenz aufzubauen, ist aufgrund des knappen zur Verfügung stehenden Wohnraums, der hohen Preise und rassistischer Vorurteile auf dem Wohnungsmarkt kaum möglich. Dabei gäbe es in Bozen wie auch in anderen italienischen Städten genügend leerstehenden Wohnraum. In Rom habe ich im Rahmen eines Forschungsprojekts einige Frauen mit Migrationshintergrund begleitet, die ihre Wohnungsnot durch eine Hausbesetzung gelöst haben. Für sie war das die einzige Möglichkeit, um sich eine mehr oder weniger sichere und autonome Existenz zu gewährleisten. Hier wären aber die Institutionen gefordert, den existierenden Wohnraum zugänglich zu machen und der Bevölkerung zurückzugeben.

Inwiefern schlägt sich die Wohnungsnot auf Migrantinnen anders nieder als auf männliche Migranten?
Hier fallen mir zwei Überlegungen ein. Einmal die Situation von Frauen im Familiennachzug: Wenn eine Frau ihren Partner und somit die eigene Wohnsituation verlassen möchte, ist das sehr schwierig. Ihre Aufenthaltsgenehmigung, aber auch der Zugang zu Sozialwohnungen ist in vielen Fällen an den Partner gekoppelt. Zudem sind die Wartelisten für Sozialwohnungen in vielen Städten seit Jahren blockiert. Hier müssen neue Orte geschaffen werden, die es den Frauen erlauben, eigenständige Entscheidungen zu treffen. Auf der anderen Seite werden Frauen häufiger als Männer Opfer von Menschenhandel: Hat eine Frau keinen Zugang zu einer permanenten Unterkunft und ist stattdessen auf Schlafstätten angewiesen, die sie untertags auf die Straße drängen, wird sie einem höheren Risiko ausgesetzt. Auch hier sind die Institutionen gefordert, Wohnmöglichkeiten als sichere Orte zur Verfügung zu stellen.

In Südtirol sind die Voraussetzungen vorhanden, um sich Migrant:innen neu zu öffnen: Die Lebensqualität ist im Schnitt sehr hoch, die finanziellen Mittel sind vorhanden und die kurzen Abstände zwischen den einzelnen Realitäten würden ein gegenseitiges „Sich-Kümmern“ erlauben.

Riskieren wir hier nicht, wieder in ein Opfernarrativ zu fallen?
Um die Viktimisierung von Migrantinnen zu verhindern, dürfen wir nicht den Blick von Risikosituationen abwenden. Wir müssen konkrete Möglichkeiten und Räume schaffen – und es gibt bereits entsprechende Initiativen der Zivilgesellschaft –, die es erlauben, Risikosituationen zu vermeiden und eigenständige Entscheidungen zu treffen.

Diese Möglichkeiten betreffen neben der Wohnungssuche auch die Suche nach einer angemessenen und den eigenen Fähigkeiten entsprechenden Arbeit.
Auch das ist ein problematischer Aspekt. Die mit Arbeitssuche betreuten Institutionen lenken Migrant:innen häufig in Sektoren, die prekäre Arbeitsverhältnisse und niedrige Löhne implizieren. Der Arbeitsmarkt ist wie der Wohnungsmarkt von Rassismus geprägt, wodurch für viele eine ordentliche Anstellung und entsprechende Verdienstmöglichkeiten außer Reichweite bleiben. Auch diese Herangehensweise zeigt, wie persönliche Erfahrungen und Erwartungen der Migrant:innen nicht berücksichtigt werden.

Du hast einleitend gesagt, dass die Anwesenheit von Migrant:innen nicht länger als Problem, sondern als Bereicherung angesehen werden muss. Wie können wir als Gesellschaft zu dieser Einstellung gelangen?
In Südtirol sind die Voraussetzungen vorhanden, um sich Migrant:innen neu zu öffnen: Die Lebensqualität ist im Schnitt sehr hoch, die finanziellen Mittel sind vorhanden und die kurzen Abstände zwischen den einzelnen Realitäten würden ein gegenseitiges „Sich-Kümmern“ erlauben. Das sind gute Voraussetzungen, um mit neuen Herangehensweisen zu experimentieren. Aber ich habe einige Jahre in Bozen gelebt und wurde mit einer sehr rassistischen Haltung konfrontiert, – sowohl vonseiten der Zivilbevölkerung als auch vonseiten der Institutionen.

Bahnhofspark in Bozen

Kannst du ein Beispiel nennen?
Ein Bild, das meine Erinnerung geprägt hat, ist jenes vom Bahnhofspark in Bozen. Es waren immer dieselben Personen, die hinschauten, anhielten und sich für die Menschen, die sich dort aufhielten, interessierten und die versuchten zu helfen. Alle anderen liefen wie blind an ihnen vorbei. Vor allem in der Weihnachtszeit, während nur wenige Meter weiter die Weihnachtsmärkte abgehalten wurden, war die Ignoranz, die den Menschen dort entgegengebracht wurde, augenscheinlich. Wenn man jetzt versucht, die Migrant:innen aus dem Zentrum an den Stadtrand zu drängen, dann heißt das nicht, dass es sie nicht mehr gibt, sondern dass man sich dafür entscheidet, sie nicht mehr sehen zu wollen. Und das ist der Punkt: Wir sehen viele Menschen deshalb nicht, weil wir sie nicht sehen wollen. Das ist für mich ein Ausdruck von Rassismus.

Neben Desinteresse und Ignoranz geht es hier aber auch um Angst: Wir haben Angst, uns bestimmten Personen zu nähern. Wie kann diese Angst abgebaut werden?
Angst baut man dadurch ab, dass man versucht, das, vor dem man Angst hat, zu verstehen. Ich hatte keine Angst davor, mich den Personen im Bahnhofspark zu nähern, weil ich die Menschen, denen wir Essen oder Decken brachten, die wir ins Krankenhaus oder zur Quästur begleiteten, kannte. Hier braucht es den Willen vonseiten der Bevölkerung, sich dem Prozess des Kennenlernens zu stellen und an ihm festzuhalten.

Wie fördern Politik und Institutionen diesen Prozess?
Die Institutionen, mit denen ich während meiner Arbeit in Bozen in Kontakt gekommen bin – Provinz, Regierungskommissariat, Krankenhäuser, Grenzpolizist:innen, Ordnungskräfte oder Anlaufstellen für Asylanträge – haben meist dasselbe grundlegende Laster: Migration wird als Problem angesehen, das es zu lösen gilt; als Bedrohung für das sozio-ökonomische Gleichgewicht im Land und als Präsenz, die uns zwingt, kulturelle und menschliche Grenzen zu überdenken. Ganz so, als ob Migration und Einwanderung eine Art lokale Identität infrage stellen würden. Aus dieser Einstellung folgt, dass Migrant:innen die Konditionen für ein würdevolles Leben abgesprochen werden.

Es geht Institutionen und Politik also um eine Frage der Identität?
Es geht darum, die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der lokalen Bevölkerung „zu schützen“ und die sozialen und kulturellen Grenzen einer vermeintlich geschlossenen Südtiroler Gemeinschaft zu verteidigen. Dabei wird der Fokus auf die Ressourcen gelegt, die der lokalen Bevölkerung entzogen werden – die Ressourcen, die die Menschen mit ins Territorium bringen und die Möglichkeiten, die dadurch geschaffen werden könnten, werden hingegen ignoriert. Es fehlt der Wille, diese Herangehensweise und den Rassismus, den sie impliziert, zu überdenken.

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