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Rauf und runter. Und wieder rauf und wieder runter. Das waren die Wege, die ein Commissario zu machen hatte, auf diesem durch Berge, Täler und Schluchten zerstückelten Alpenfleck.
Rauf zu den Bergdörfern und Bergbauernhöfen, die sich wie Farbkleckse dahingeworfen an den steilen Hängen festzukrallen schienen. Runter zu den Dörfern und Städtchen in den Tälern, um die herum der fruchtbare Boden alles sprießen ließ, was es zum Leben brauchte. Wo nun im Winter Schnee lag, gediehen sonst saftige Äpfel, mancherorts Spargel, anderswo Erdbeeren, im südlichsten Zipfel sogar Zitronen, und wo Ebene und Berghang ineinander übergingen, da wuchsen der Vernatsch, der Lagrein, der Blauburgunder, der Weißburgunder, der Sauvignon und der Gewürztraminer.
Rauf und runter und wieder rauf, dem blauen Himmel entgegen, wo das Glück der Sonne einen anstrahlte, doch wo, wenn die Gipfel lange Schatten warfen und dunkle Wolken aufzogen, das Grauen noch wuchtiger zu Buche schlug. Wo es dreifach schön ist, ist der Schrecken dreifach schrecklich, das wussten die Leute in den Tälern von Südtirol, und Grauner wusste das auch. Es gab wieder einen Toten, einen Mord. Danach sah es aus.
Seit sechs Jahren war Grauner Commissario in Südtirol, einer Provinz, die durch eine Schlamperei der Weltpolitik nach dem großen Krieg Italien zugesprochen worden war. Während des Faschismus hatte Mussolini alles Deutsche im dazugewonnenen Gebiet tilgen wollen, um vorzutäuschen, dass dieses Alto Adige, diese Region, wo die Etsch entsprang, immer schon rein italienisch gewesen sei – doch es gelang ihm nicht.
Nach 1945 erkämpften sich die deutschsprachigen Südtiroler mit viel politischem Geschick eine weitreichende Autonomie – manch einer sagte, ein paar der in den 1960er-Jahren gesprengten Strommasten hätten ebenfalls dazu beigetragen. Und nachdem Tiroler und Italiener sich zu Anfang verachtet hatten, sich später mal neckten und mal beschnupperten, beeinflussten sie sich nunmehr im Guten wie im Schlechten.
Das Ländchen in den Bergen erblühte, der Obstbau und der Weinbau florierten und der Tourismus sowieso. Politisch ließ man sich von Rom alsbald nicht mehr viel dreinreden, was nicht hieß, dass man nicht weiter auf die Hauptstadt schimpfte. Was guttat. Denn gemeinsam jemanden zum Abwatschen zu haben, das schweißte zusammen und lenkte von der eigenen Kungelei ab.
Eine halbe Million Menschen lebte in Südtirol. Rund hunderttausend davon in der Landeshauptstadt Bozen, wo auch die Polizei ihren Sitz und Grauner sein Büro hatte. Der weitaus größere Teil der Bevölkerung aber wohnte in den über hundert Gemeinden und vier Städtchen, die sich auf die einzelnen wie in einem Baumgeäst verzweigten Täler verteilten.
Eingeklemmt zwischen Österreich, der Schweiz und Italien, das hier ja erst so halb anfing, offerierte Südtirol dem Besucher beides: Tiroler Kultur und südländisches Flair, Ordnungssinn und Dolce Vita, Knödel und Pizza.
Die einen pflegten, so wie Grauner, einen für Neulinge unentschlüsselbaren deutschen Dialekt, der in jedem Tal und jedem Dorf anders klang. Die anderen parlierten so wie Ispettore Saltapepe in neapolitanischem oder in toskanischem, kalabrischem und sizilianischem Singsang. Und nicht selten sprachen alle gleichzeitig und durcheinander eine Mischung aus allem.
Grauner und Saltapepe hatten die Kurstadt Meran hinter sich gelassen, nun fuhren sie ein Stück den Vinschgau hinauf, der für seine starken Fallwinde und für seine Marillen bekannt war.
Grauner war sauer. Eine gute halbe Stunde hatte der Commissario mit seinem Fiat Panda nach Bozen gebraucht, eine Stunde hatte er für die Fahrt über die MeBo nach Meran und weiter ins hinterste Schnalstal hinein eingeplant. Sie hatten vereinbart, dass er Saltapepe um sieben abholen würde. Um kurz vor halb acht war der junge Ispettore endlich einsatzbereit gewesen, hatte aber unbedingt in der Bar dello Stadio noch einen Cappuccino trinken und ein Cornetto frühstücken wollen. Saltapepe wohnte gleich neben dem heruntergekommenen Fußballstadion, das der FC Südtirol für seine Heimspiele nutzte. Der Commissario interessierte sich nicht für Fußball. Er interessierte sich auch nicht besonders für die Kaffee-Manie seines jungen Kollegen. Alba fand Saltapepe nett. Zuvorkommend, freundlich, ein »fescher junger Mann«, wie sie sagte. Sie versuchte Grauner jedes Mal zu besänftigen, wenn er zu Hause über den Ispettore schimpfte, aber das regte ihn nur noch mehr auf.
Er konnte mit dem Neuen nicht viel anfangen. Er wusste noch nicht mal, warum der von Neapel hierherversetzt worden war – und es war ihm auch egal. Am Gemunkel darüber, was Saltapepe wohl angestellt haben mochte, beteiligte Grauner sich nicht. Er wusste nur: Der hier zuständige Staatsanwalt, Dr. Martino Belli, hatte einem neapolitanischen Kollegen einen Freundschaftsdienst erwiesen und Saltapepe vor einem Dreivierteljahr ins Grauner-Team gesteckt.
Das passte Grauner gar nicht, denn sein Team hatte bis dahin zumeist nur aus ihm selbst bestanden, was ihm mehr als recht gewesen war. Seine Abteilung war keine Mordkommission im eigentlichen Sinne. Eine Mordkommission gab es bei der Südtiroler Polizei nicht, dafür wurde zu wenig gemordet. Aber wenn es doch einmal ernst wurde, wenn Grauner Unterstützung brauchte, schnappte er sich meistens den erstbesten Streifenpolizisten, der ihm begegnete, oder er beauftragte Silvia Tappeiner, seine junge, sportliche und ehrgeizige Assistentin, heimlich mit Ermittlungstätigkeiten.
Das italienische Polizeisystem war kompliziert. Sehr kompliziert. Da gab es auf der einen Seite die Polizia di Stato, zu der Grauner und Saltapepe gehörten. Und anderseits die Carabinieri, von den Südtirolern »Karpf« genannt. Während die Polizia di Stato mit anderen Polizeieinheiten aus europäischen Nachbarländern zu vergleichen war, bildeten die Carabinieri eine sogenannte Streitkraft des Militärs. Demnach ging es dort auch strenger zu als unter Grauners und Saltapepes Kollegen. Während sie, wenn möglich, in Zivil hinterm Schreibtisch saßen oder ermittelten, trugen die Carabinieri stets ihre Uniformen, die sie sich alle paar Jahre neu schneidern ließen, weil sie stets zu groß geliefert wurden.
In ihren Aufgaben jedoch unterschieden sich die beiden Einheiten kaum. Ein sinnbefreiter Anachronismus des wildwüchsigen Exekutivapparats, fand Grauner. Beide hatten die gleichen Kompetenzen, und beide waren gleichermaßen chronisch klamm. Da kam es auch schon mal vor, dass die Einsatzwagen im Hof vor sich hin rosteten, anstatt auf Streife genutzt zu werden, weil in den Kassen das Geld für Benzin fehlte.
Die Questura der Polizei und die Kaserne der Carabinieri lagen sich an der Drusus-Brücke zudem direkt gegenüber. Doch diese räumliche Nähe verstärkte die Kooperation keineswegs, im Gegenteil, man beäugte sich, neidete die Erfolgsquote des anderen, vermied es tunlichst, zusammenzuarbeiten, dem Konkurrenten in einem Fall zu Hilfe zu eilen, geschweige denn Akten zuzuspielen, die hilfreich wären. Und das, obwohl beide schlussendlich ein und derselben Staatsanwaltschaft unterstanden, die wiederum ihren Sitz am Gerichtsplatz im Westen der Stadt hatte.
Wer die Fälle zu lösen bekam, Polizei oder Carabinieri, entschied mehr oder weniger der Zufall – je nachdem, welche der beiden Einheiten zuerst zum Ort des Verbrechens gerufen wurde. In den Städten war es meist die Polizei und in den Dörfern die Carabinieri. Nur bei den ganz heiklen Fällen in den hintersten Dörfern der Provinz griff Staatsanwalt Belli ein und schickte stets Grauner. Und neuerdings auch Saltapepe.
Ein paar kleinere Fälle hatten die beiden in den vergangenen Monaten bereits zusammen gelöst. Mehr nebeneinanderher als gemeinsam. Einen Drogenumschlag auf der Einfahrt zur Brennerautobahn in Bozen-Süd, bei dem der Ispettore den entscheidenden Tipp von einem ehemaligen Kollegen aus Kampanien bekommen hatte.
Ein gegen einen Baum gefahrener Traktor auf der Seiser Alm; der vermeintliche Unfall stellte sich nach intensiverem Verhör als Racheakt eines benachbarten Bauern heraus, der die Bremskabel durchtrennt hatte.
Ein paar Familienzwiste und Nachbarschaftsstreitereien in Bozen und Umgebung.
Doch jetzt hatten sie es allem Anschein nach mit Mord zu tun. Das war ein anderes Kaliber. Der Commissario war sich nicht sicher, wie sich sein stark von der Tagesform abhängiger Ispettore – manchmal übereifrig und manchmal der Lethargie zugeneigt – dabei schlagen würde.
Warum sagte der denn nichts? Wenn man beleidigt war, dann sagte man doch was. Dann schwieg man doch nicht. Dann brüllte man herum.
Saltapepe verstand diesen Commissario nicht. Auch nicht diese Provinz, in die er da versetzt worden war. Und erst die Sprache! Zweimal in der Woche besuchte er einen Deutschkurs. Das Schriftdeutsch parlierte er mittlerweile passabel, auch dank seines Onkels, der in Deutschland bei Opel arbeitete und Saltapepe schon als Kind einiges beigebracht hatte.
Aber der Dialekt? Nein, darauf hatte ihn sein Onkel nicht vorbereitet. Das war ein hartes Stück Arbeit, und in den hintersten Tälern musste Saltapepe oft drei Mal nachfragen, bis er glaubte alles verstanden zu haben.
Dabei war die Sprache noch nicht alles. Dieser Fußball! Santo Cielo! Das war sogar noch schlimmer! Die Drittligaspiele des FC Südtirol waren nichts, was einen fußballverrückten Neapolitaner zu beeindrucken vermochte.
Außerdem war hier weit und breit kein Meer in Sicht. Nur Berge und Täler und Berge und Täler.
»Wozu sind diese Berge da?«, hatte der Ispettore Grauner schon an einem seiner ersten Arbeitstage gefragt.
»Die sind dazu da, um hochzugehen«, hatte der Commissario geantwortet.
»Wozu hochgehen?«
»Damit man runterschauen kann.«
»Da kann ich ja gleich unten bleiben.«
Saltapepe verstand es nicht. Er verstand vieles von dem nicht, was Grauner ihm sagte. Sie waren völlig verschieden, und doch hatten sie beide von klein auf das Gleiche gewollt. In Neapel gab es für Kinder zwei Traumberufe: Mafioso oder Mafiajäger. Vito Corleone oder Giovanni Falcone. Der Pate aus dem bekanntesten aller Mafiafilme oder der Staatsanwalt, der der Cosa Nostra so gefährlich geworden war, dass sie ein ganzes Autobahnstück sprengen musste, um ihn zu beseitigen.
Saltapepe hatte immer wie Falcone sein wollen. In Neapel. Im Herzen der Camorra, in der Schaltzentrale des organisierten Verbrechens. Nun saß er in Bozen, neben diesem Grauner, diesem Commissario, der nach Stall roch und mittags lieber eine Nudelsuppe mit Würstchen schlürfte, anstatt ein Tramezzino mit Prosciutto crudo zu essen. Zu allem Überfluss auch noch in diesem Land zwischen den Bergen, wo von der Mafia keine Spur war. Saltapepe fühlte sich unterfordert. Und er fühlte sich nicht ernst genommen. Er fühlte sich von Grauner behandelt wie ein Lausbub, der zur Strafe zu Hause mit dem Puppenhaus spielen musste, anstatt den großen Jungs auf dem Fußballplatz sein Können zu zeigen.
Der Ispettore sehnte sich zurück nach Neapel. Jeden einzelnen Tag dieses zu Ende gehenden Jahres sehnte er sich danach, seine Heimat wiederzusehen. Doch er wusste, dass das so schnell nicht passieren würde. Belli hatte ihm keinen Weihnachtsurlaub genehmigt. Jetzt, im Nachhinein, im Angesicht des Mordes, war Saltapepe sogar froh darüber. Vielleicht konnte er nun allen beweisen, was er draufhatte. Er hatte mehr drauf als die alle hier. Davon war er überzeugt. Er hatte in seiner jungen Karriere bereits einiges erlebt. Die würden hier schon noch sehen, wozu er fähig war.
Hinter Naturns führte ein Tunnel rechts ab. Am Ende des Tunnels begann eine neue Welt. Grauner schaltete in den dritten Gang zurück, dann in den zweiten. Die Kurven schlängelten sich um die Felsen. Zumindest hatte er den Ispettore dazu überreden können, mit dem Panda loszufahren und nicht mit dem alten Alfa Romeo 156, den die Südtiroler Polizei als Zivilfahrzeug nutzte und den Saltapepe, weil er wie so viele italienische Polizisten vernarrt in das Auto war, auch privat fuhr.
Grauner hielt nicht viel von dem Modell. Wenn es auf vereisten Straßen bergauf ging, war ihm sein Vierradantrieb lieber. Der tuckerte zwar bisweilen langsam wie ein Traktor vor sich hin – erreichte aber stets zuverlässig sein Ziel, während manch moderneres Gefährt längst am Straßenrand blinkte. Von Saltapepes eigenem Wagen ganz zu schweigen. Der Ispettore weigerte sich nämlich, Winterreifen zu montieren, da, wie er Grauner einmal erklärt hatte, Winter für ihn als Neapolitaner keiner nennenswerten Jahreszeitenkategorie entsprach.
Über ihren Köpfen wölbte sich das Gestein, unten, am Fuße der Schlucht, rauschte der Bach. Grauner hupte vor jeder Kurve, denn an vielen Stellen war die Straße kaum breit genug für zwei Fahrzeuge. Jahrhundertelang hatten Reisende, Pilger und Händler nur auf einem mühsamen Weg, der über die Berge führte, nach Schnals gelangen können. Zu steil, zu unzugänglich, zu Furcht einflößend war die drei Kilometer lange Kluft am Taleingang gewesen.
Schnals war im Laufe der Völkerwanderung zwischen dem fünften und dem neunten Jahrhundert nach Christus besiedelt worden. Der Name leitete sich aus dem Lateinischen Casinales ab, was so viel wie Sennhütte bedeutete. Das Schnals von damals war ein Bergbauerntal gewesen, wusste Grauner. Die Menschen hatten als Selbstversorger gelebt, in absoluter Eingeschlossenheit, von dreitausend Meter hohen Gipfeln umzingelt. Unter Karl dem Großen hatten Vögte und Grafen die Grundherrschaft unter sich aufgeteilt, allen voran die Montalbaner, die ihre Burg auf dem Katharinaberg errichteten, sich alsbald das gesamte Gebiet einverleibten und die Besitztümer im Jahr 1295 an Fürst Meinhard II. von Tirol abtraten.
Seit jeher mussten die Bauern Zins und Zehnert an die Montalbaner und später an das Kartäuserkloster abtreten, erst zu Anfang des 17. Jahrhunderts wurden sie Herren ihrer Höfe. 1782 wurde das Kloster aufgelöst, 1875 der erste fahrbare Weg durch die Schlucht errichtet. Er kostete neunundfünfzigtausend Gulden und bedeutete den Start einer neuen Zeitrechnung. Das Tal und der Rest der Welt wurden eins.
Grauner und Saltapepe fuhren vorbei an kleinen Dörfern. Sie passierten Katharinaberg, dessen Kirche auf einem Felsvorsprung thronte. Sie ließen Karthaus hinter sich, den Hauptort des Schnalstals mit dem ehemaligen Kartäuserkloster und die Wallfahrtskirche von Unser Frau, dem ältesten Wallfahrtsort Tirols.
Der Commissario lenkte den Panda die Kehren an der Stauseemauer von Vernagt hoch und am Stausee entlang, wo unter dem Eis die Ruinen einer Kirche und der acht Höfe lagen, die Mitte des 20. Jahrhunderts geflutet worden waren. Links und rechts klebten die Eismassen der Wasserfälle an den steilen Wänden. Die Bauernhäuser trugen meterhohen Schnee auf ihren Schindeldächern. In keinem anderen Alpental waren so viele alte Gehöfte erhalten geblieben. Lärchen, Tannen und Fichten säumten den Weg. Am Straßenrand standen Bildstöcke, in denen Kerzen brannten, und immer wieder hing ein holzgeschnitzter Jesus am Kreuz.
Sie erreichten das Dörfchen Kurzras gegen neun.
Die Kapitel 1 und 2 könnt ihr hier lesen.
Lenz Koppelstätters Debütroman „Der Tote am Gletscher” erscheint am 17. August 2015 als Taschenbuch und E-Book im Verlag Kiepenheuer&Witsch.
(ISBN: 978-3-462-04728-8, 320 Seiten)
Lenz Koppelstätter, Jahrgang 1982, ist in Bozen geboren und in Südtirol aufgewachsen. Nach dem Studium der Politik in Bologna und der Sozialwissenschaften in Berlin absolvierte er in München die Deutsche Journalistenschule. Als freier Autor hat er u. a. für den Tagesspiegel und Zeit online gearbeitet, als Textchef für zitty. Für BARFUSS hat er zwei Kolumnen verfasst: 865 Kilometer und Auch schon 30. »Der Tote am Gletscher« ist sein erster Roman.
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