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Veröffentlicht
am 26.02.2020
LebenStraßenzeitung zebra.

Das Unsichtbare sichtbar machen

Veröffentlicht
am 26.02.2020
Zwischen 2004 und 2018 haben sich in Südtirol 731 Menschen das Leben genommen. Diese Zahl steht für ein Phänomen, das nicht länger ignoriert und tabuisiert werden kann.
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„Als Betroffener einer psychischen Krankheit werde ich selbst zur Krankheit“, erzählt Richard Santifaller, 58 Jahre, aus Brixen. Er litt in der Vergangenheit an Depressionen und bipolaren Störungen, die ihn in einen dunklen Tunnel zogen, aus dem er nie wieder herauszukommen glaubte. Trotz eines ständigen Minderwertigkeitsgefühls gegenüber anderen und ständigen Konzentrationsstörungen schien sein Leben bis zu seinem 25. Lebensjahr normal zu sein. Lange Zeit hat er über sein Unbehagen geschwiegen. “Solange man sich selbst nicht eingesteht, dass man krank ist und Hilfe braucht, wird auch niemand sonst darauf aufmerksam”, betont Santifaller, der das Problem ignorierte, bis das Leid unerträglich wurde. Wenn die Krankheit auftaucht, „können nahestehende Menschen nicht mit der betroffenen Person kommunizieren, und die wiederum findet keinen Ausweg aus sich selbst“, sagt Santifaller. In solchen Situationen sei es unmöglich, zueinander zu finden.

Isolation ist sehr oft ein natürliches Verhalten für Menschen, die an psychischen Störungen leiden. Diese Isolation erschwert es den Betroffenen, über das Thema zu sprechen und zuzugeben, dass sie darunter leiden. “Wenn man an einer Depression leidet, gerät man in eine immer enger werdende Spirale, in der man die Kontrolle über seine Gefühle und Gedanken verliert”, erklärt der Betroffene und beschreibt die unüberbrückbare Distanz, die zwischen den Leidenden und dem Rest der Welt entsteht. “Auf der einen Seite gab es die Depression, ich wollte verschwinden und jeder Kontakt zur Außenwelt verursachte mir Schmerzen”, auf der anderen Seite erlebte Richard Santifaller “Momente höchster Euphorie, in denen ich mich direkt aus der Hölle in den Himmel katapultiert fühlte”. Der Brixner unternahm einen Selbsttötungsversuch. In seiner Situation schien es die einzige Möglichkeit, sein Leiden zu beenden.

Krise und Prävention

„Aus medizinischer Sicht ist die Hauptursache für Selbstmord zweifellos Depression, gefolgt von Alkoholismus“, sagt der Leiter der psychiatrischen Abteilung in Brixen, Roger Pycha. Diese Daten stammen aus einer “psychologischen Autopsie”, die die klinische und psychologische Vergangenheit von Menschen, die in Südtirol Selbstmord begangen haben, untersucht hat. Merkmale der Depression, die nach den Prognosen der WHO bis 2030 die am weitesten verbreitete Erkrankung der Welt sein wird, sind eine depressive Stimmung, der Verlust körperlicher und geistiger Energie und ein zunehmendes Desinteresse an den eigenen Interessen. Die Person beginnt sich zu verschließen, wodurch eine Art Mauer um sie herum entsteht, die aber überwunden werden kann.

Dr. Pycha erklärt, dass in den letzten zehn Jahren nicht nur die Zahl der Suizide in Südtirol zurückgegangen ist, sondern auch, dass das allgemeine Interesse an psychischen Erkrankungen und an der Prävention von psychischen Störungen zugenommen hat. Von 2004 bis 2008 subventionierte die Provinz die Initiative “Europäische Allianz gegen die Depression”, um das Bewusstsein für diese Störung zu schärfen und sie wirksam behandeln zu können. „Die Bekämpfung dieser beiden Faktoren, Depression und Alkoholismus, kann dazu beitragen, die Selbstmordrate deutlich zu senken“, betont der Psychiater. Im Jahr 2007 ist die Selbstmordrate in Südtirol deutlich gesunken. Damals lud u.a. der damalige Bischof Wilhelm Egger die Geistlichen aus der Provinz dazu ein, mindestens einmal im Jahr während der Messe eine Predigt über Depression zu halten. Dabei wurden sie von der „Seelsorge für eine Krisensituation“ unterstützt.

Suizide in Südtirol nach Jahren

„Ein weiterer Bereich, in dem es galt, aktiv zu werden, war die Schule“, sagt Pycha. Zeitgleich entstand das deutschsprachige Buch “Höhen und Tiefen, die Krise als Schulfach”, das Lehrer bei der Bewältigung schwieriger Situationen unterstützt. “2008 liefen das europäische Projekt und die Finanzierung allmählich aus”, sagt Dr. Pycha und fügt hinzu, dass die Maßnahmen zur Suizidprävention seitdem zurückgingen. 2017 wurde aber das Netzwerk zur Suizidprävention gegründet. Es setzt sich aus zahlreichen Akteuren zusammen – vom Gesundheitswesen bis zu Organisationen des dritten Sektors, von Telefonberatungszentren bis zu Schulbehörden. Aktuell organisiert das Netzwerk “Erste-Hilfe-Kurse für die Seele”, die darauf abzielen, die Grundregeln zum Schutz derer, die sich in einer tiefen Krise befinden und suizidgefährdet sind, zu verbreiten und auch den Selbstschutz zu fördern. Das Netzwerk strebt ein Provinzgesetz zur Suizidprävention an und will durch spezielle Mittel und qualifiziertes Personal Beständigkeit und Kontinuität in der Information und Sensibilisierung erreichen.

Eine derart endgültige Entscheidung wie jene, sich das Leben zu nehmen, hat ihre Ursache jedoch nicht nur in psychischen Störungen oder Abhängigkeiten, sondern auch in schweren Krisenmomenten, die im Leben eines jeden Menschen vorkommen können. “Geht es Ihnen gut? Alles okay?” sind einfache, unkomplizierte Fragen, welche die Broschüre des “Netzwerks zur Suizidprävention” für solche Situationen vorschlägt. Guido Osthoff arbeitet bei der Caritas in Bozen und ist eines der Mitglieder des Netzwerkes. „Das Präventionsnetzwerk schlägt Sensibilisierungs- und Aufklärungsmaßnahmen vor, um Menschen dabei zu helfen, nicht wegzuschauen, wenn im eigenen Umfeld jemand in einer Krise steckt”, sagt Osthoff. Er betont auch, wie wichtig es sei, “Wege aufzuzeigen, um das Problem anzugehen und einer Person die Möglichkeit zu bieten, sich zu öffnen.“ Viele der vom Netzwerk angebotenen Dienste, wie etwa die Telefonseelsorge oder die Hilfe von Spezialisten, werden von verschiedenen Stellen koordiniert, die gemeinsam für das gleiche Ziel arbeiten.

Darüber reden, aber wie?

Peter Koler, Psychologe und Leiter des Forums Prävention, das seinerseits Teil des “Netzwerks für Suizidprävention” ist, erklärt, wie schwierig es ist, über dieses Thema zu sprechen, auch in den Medien. Diese Tatsache ist in Südtirol auf eine Serie von Suiziden zurückzuführen, die sich in den 1990er Jahren ereignet hat und über die in allen Medien in fast sensationalistischer Ausführlichkeit berichtet wurde. Diese Berichte trieben unbeabsichtigt weitere junge Menschen dazu, sich mit der selben Methode umzubringen. „Sogar beim Hören derselben Lieder”, erwähnt Koler. Angesichts dieses Phänomens wurde mit den Medien vereinbart, nicht mehr über Suizidfälle zu berichten, um die Gefahr der Nachahmung zu vermeiden. Der sogenannte “Werther-Effekt” (in Anlehnung an die Serie von Suiziden, die auf die Veröffentlichung von Goethes “Die Leiden des jungen Werther” folgte) führte dazu, dass das Thema viele Jahre lang ignoriert wurde.

Es gebe nach wie vor eine Diskussion über die Rolle der Medien im Umgang mit Suizid, sagt Koler. Auf der einen Seite besteht die Gefahr der Nachahmung, auf der anderen Seite besteht die Notwendigkeit, dieses Tabu auf geschickte Weise zu überwinden und Informationen bereitzustellen, um denen zu helfen, die eine Krise durchleben. Der unerwartete Suizid von Alexander Langer im Jahr 1995 war einer der Fälle, der die Öffentlichkeit zutiefst schockierte und nicht verschwiegen werden konnte. Dennoch dauerte es Jahre, bis Suizid und vor allem Suizidprävention in Südtirol wieder thematisiert wurden.

Es ist auf jeden Fall notwendig, über dieses Thema zu sprechen und zu berichten, ohne einen “Werther-Effekt” zu verursachen. Stattdessen sollte man auf den sogenannten “Papageno-Effekt“ setzen, also auf Geschichten, die von Betroffenen selbst erzählt werden und die davon handeln, wie es ihnen gelang, dunkle Momente zu überwinden und ein neues Leben zu beginnen. Obwohl Suizid noch immer ein Tabuthema ist, wird im Internet und den sozialen Medien häufig darüber diskutiert. Auch in diesem Fall werden die sozialen Medien, wie so oft, zu einem zweischneidigen Schwert. Koler stellt fest, dass Suizid auch sonst in verschiedenen Bereichen ein zentrales Thema ist, wie zum Beispiel in der Musikwelt. Gerade in der Jugend seien Leben und Tod wichtige Themen. Jugendliche stellen sich oft Fragen wie “Warum bin ich hier? Was würde passieren, wenn ich nicht mehr hier wäre?” Dies sei ganz normal. Aber es sei notwendig, über diese Themen zu sprechen, auch und gerade in Hinblick auf Suizidprävention, Depressionen, Alkoholismus und Ausgrenzung. Es sollten die richtigen Informationen und Perspektiven geboten und Risiken verringert werden.

Eine Aufgabe für die Gesellschaft

Die Statistiken sprechen für sich: „Männer begehen vier Mal häufiger Suizid als Frauen”, sagt Roger Pycha. „Auf der einen Seite sind es ältere Menschen, die beschließen, sich das Leben zu nehmen, und zwar still und ohne jede Vorwarnung. Auf der anderen Seite sind junge Menschen betroffen, die versuchen sich das Leben zu nehmen, ohne eigentlich gehen zu wollen; sie überleben oft und bekommen dann erst jene Aufmerksamkeit, die vorher nicht da war und die für ihr soziales Leben nützlich ist”, erklärt der Psychiater. Schreie um Hilfe und um Aufmerksamkeit müssen gehört und akzeptiert werden und erfordern vor allem eine strukturelle Veränderung der Familiensituation beziehungsweise des Schul- oder Arbeitsklimas.

Laut dem Primar sei es in diesen Fällen besonders wichtig, „sich mit der Zukunft zu verbinden“. Es sollen Pläne geschmiedet werden, die das Gefühl geben, das eigene Leben habe einen Sinn. Schutz bekäme man außerdem durch soziale Beziehungen, zum Beispiel zu Kindern, Eltern, Partner*innen und Freund*innen beruhen. Die Suizidprävention ist eine Aufgabe, die nicht nur das Gesundheitssystem oder den psychologischen Dienst, sondern die gesamte Gesellschaft etwas angeht. Es kommt auf die Art und Weise an, wie wir mit den Betroffenen und unseren eigenen Unsicherheiten umgehen. Der beste Weg, um Prävention zu betreiben, besteht laut dem Psychologen Koler darin, eine echte und offene Beziehung anzubieten, über das Problem – wenn möglich – offen zu sprechen oder auch nur gemeinsam spazieren zu gehen, ohne sich zu unterhalten. Die Stärke der Prävention liegt vor allem in der Fähigkeit, eine imaginäre Brücke zu all jenen zu schlagen, die sich in der Krise nicht verstanden fühlen. Aber wie nähert man sich einer betroffenen Person? Was sind die richtigen Worte?

„Der erste Schritt ist, eine Person zu fragen, wie es ihr geht”, sagt Roger Pycha, „was wir erreichen möchten, ist eine Änderung der Haltung gegenüber denen, die psychisch leiden“. Am schwierigsten ist es zweifellos, eine Person zu fragen, ob sie jemals in Erwägung gezogen hat, sich das Leben zu nehmen, betont Osthoff: „Es erfordert Mut, diese Frage zu stellen. Die größte Angst liegt darin, darüber nachzudenken, was zu tun ist, wenn die Person Ja sagt.“ Es gibt viele Fälle, in denen man im Alltag lieber wegschaut, auch und vielleicht vor allem, um sich selbst zu schützen. Der Versuch, das Unsichtbare sichtbar zu machen, sollte eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft sein: Interesse zeigen, Zuhören, sich Zeit nehmen und vielleicht eine Hand auf die Schulter des Leidenden, das sind Gesten, die einen Unterschied machen können – vor allem in einer Gesellschaft wie der heutigen, in der Stress, Leistungsangst und ständige Prekarität die Beziehungen zwar zahlreicher, aber oft auch fragiler machen. Eine Gemeinschaft, die bereit ist, d ie Verwundbarkeit und Zerbrechlichkeit des anderen zu akzeptieren, ist eine Gemeinschaft, die Suizid verhindern und Probleme sichtbar machen kann, die, wenn sie ignoriert werden, riskant werden können.

Ein anderes Leben

Den eigenen Tod als eine plausible Option zu betrachten, bedeutet, alle Alternativen aus den Augen zu verlieren. Prävention, Zuhören und vor allem die Überwindung des Stigmas von psychischen Erkrankungen sind die ersten Schritte, um nicht nur Leidende, sondern auch neue Lebensperspektiven sichtbar zu machen. Richard Santifaller, der die Depression überwunden hat, erklärt, wie wichtig es ist, zu wissen, dass die Krankheit existiert und dass man nicht selbst schuld ist, wenn man daran leidet, und vor allem, dass es Hilfe gibt, um wieder gesund zu werden. Wenn er heute zurückblickt, weiß er, dass die Depression eine harte Schule war, um zu lernen, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, aber auch, dass es das Bewusstsein der Gegenwart war, das ihn gerettet hat. Für den Menschen gibt es zwei Räume: den Raum der Vergangenheit, in dem man Gefahr läuft, eingesperrt zu werden, und den Raum der Zukunft, in dem man weitergehen und seine eigene Geschichte schreiben kann. Im Chinesischen setzt sich “Krise” aus den Worten “Gefahr” und “Gelegenheit” zusammen, und Richard Santifaller weiß das sehr gut: „Die Gefahr besteht darin, dass der Mensch sich das Leben nimmt”, sagt er. Aber es könne auch eine Gelegenheit sein, etwas von der Welt und über sich selbst zu lernen. Damit man sich selbst noch eine Chance gibt.

Text von Asia Rubbo und Alessio Giordano
Übersetzung von Dana Dorigatti

Der Artikel ist erstmals in der 56. Ausgabe (Februar 2020) der Straßenzeitung zebra. erschienen.

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