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Petra Schwienbacher
Veröffentlicht
am 09.11.2016
LebenHäusliche Gewalt

Das Monster in der eigenen Familie

Veröffentlicht
am 09.11.2016
Häusliche Gewalt gehört in vielen Familien zum Alltag und ist doch immer noch ein Tabuthema. Meist sind Männer die Täter. Aber auch Frauen schlagen zu.
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Wann es angefangen hat, weiß sie nicht mehr. Aber wie schlimm es war, daran kann sie sich heute noch genau erinnern.

Es war an einem regnerischen Tag im Herbst. Lisa* ist elf Jahre alt, als sie zu spät von der Schule nach Hause kommt. Sie hat getrödelt. Jetzt wünschte sie, sie hätte sich beeilt. Sie weiß, das wird Ärger geben. Lisa versucht leise zu sein. Zu spät. Sie hört bereits die wütende Stimme: „Wo warst du?“ Das Mädchen wird an den Haaren gezogen. Zwei Ohrfeigen links und rechts. Dann in ihr Zimmer geschubst. Sie fällt hin. Die Tür knallt laut hinter ihr zu. Erst als sie nichts mehr hört, kriecht sie ins Bett und fängt leise an zu weinen.

Lisa hat in ihrer Kindheit direkte Gewalt erlebt. Schläge, Ohrfeigen, Tritte, Haare ziehen gehörten zum Alltag. Sie wurde mit Besen und Kochlöffel geschlagen, gegen Türen, Wände und Schränke gehauen. Betroffen war auch ihr Vater. „Ja, auch mein Vater. Das Monster war nämlich meine Mutter“, sagt Lisa.

„Darüber, dass auch Frauen gewalttätig sein können, wird nicht gesprochen.“

Monika Habicher, Sozialpädagogin

Wie vielen Kindern und Jugendlichen es in Südtirol so geht wie Lisa, weiß man nicht, denn längst nicht alle Fälle werden bekannt. Vor allem nicht, wenn die Mutter die Täterin ist. Über Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt werden, wird seit einiger Zeit offen gesprochen. Darüber, dass Frauen auch Täterinnen werden, nicht. Gewalttätige Übergriffe in der Familie gehen beileibe nicht nur von Männern aus.

„Gewalt hat kein Geschlecht. Es gibt noch viele Tabus, wenn es um Gewalt geht. Darüber, dass auch Frauen gewalttätig sein können, wird nicht gesprochen“, sagt Monika Habicher. Die Sozialpädagogin arbeitet seit drei Jahren in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Meran, ist Gründerin der Initiative „Meine Seele weint“ und Autorin des gleichnamigen Buches. Ihr Ziel: das Tabu der Gewalt in Familien zu durchbrechen und „verstummten Kindern eine Stimme geben.“

Habicher begleitet Kinder und Jugendliche in Krisensituationen. Ihr Themenschwerpunkt ist seit Jahren Gewalt in der Familie, die daraus entstehende Dynamik und die psychosozialen Folgen für betroffene Kinder. Sie erachtet es als besonders wichtig, dass über Gewalt von Männern und Frauen gesprochen wird. Für sie stehen die betroffenen Kinder im Vordergrund, denn egal wer Gewalt ausübt, Kinder sind immer die Leidtragenden: „Wer schlägt oder psychische Gewalt ausübt, ist fürs Kind in dem Moment egal. Es ist immer eine Welt, die zerbricht, eine stützende Säule, die fällt.“

Um Kindern wie Lisa eine Stimme zu verleihen, hat Habicher vor einem Jahr ihre Initiative ins Leben gerufen. In der Zwischenzeit hat sich so einiges bewegt. Viele haben der jungen Frau geschrieben, dass sie durch ihr Buch die Kraft gefunden hätten, sich endlich Hilfe zu suchen. „Unzählige Mails und Briefe haben mich in diesem Jahr erreicht, vielen lag es am Herzen, sich persönlich zu diesem Thema zu äußern. Auch Männer und Frauen, die selbst Gewalt ausübten.”

Lisa spricht heute offen über ihre Vergangenheit voller Gewalt. Auch, weil sie mit Freunden sprechen kann, die Ähnliches erlebt haben. „Das Schlimmste war damals die Angst und dass die Person, die uns eigentlich vor solchen Dingen beschützen sollte, so Schlimmes mit uns machte“, sagt Lisa. Damals fühlt sie sich voller Fehler, ungeliebt und wertlos.

Immer, wenn es ihrer Mutter „zu viel” wird, schlägt diese zu. Bei den Hausaufgaben oder wenn Lisa zu spät kommt. Manchmal ist ein lautes Lachen schon zu viel. Weint Lisa danach zu laut, gibt es weitere Schläge. „Manchmal ging es den ganzen Tag so. Manchmal gab es auch Momente der Ruhe“, erzählt Lisa. Ihr Vater unternimmt nichts. Heute glaubt sie, dass auch er Angst vor der Mutter hatte.

Auch Melanie*, heute 28 Jahre alt, hat in ihrer Kindheit Gewalt erlebt. Sie wurde von ihrer Mutter mit Gürteln, Stöcken und Ästen geschlagen. Äste, die sie selbst nackt im eigenen Garten vor dem Haus aussuchen und abreißen musste. Am schlimmsten war es in der Pubertät, sagt sie. In dieser Zeit trägt die junge Frau ihre Frustration nach außen. Sie schwänzt die Schule, ist frech und erfährt Abneigung vom Umfeld. „Ich hatte das Gefühl mit mir stimmt etwas nicht. Meine Mutter sagte zu uns: Wir sind komisch, wir sind anders, wir sind keine guten Kinder.“

Melanies Vater lebt getrennt von seiner Ex-Partnerin. Er bekommt von den Misshandlungen der Mutter nichts mit, seine Kinder erzählen nichts. „Wir haben gelernt, dass Schläge normal sind. Haben es nach außen hin versteckt“, sagt Melanie. Mit 13 Jahren wird es Melanie zu viel. Sie wehrt zum ersten Mal einen Schlag ihrer Mutter ab. Zu der Zeit ist diese schwanger. „Sie sagte zu mir, mein Geschwisterchen wird deshalb mit einer Behinderung zur Welt kommen“, sagt Melanie. „Das hat mir den Mut genommen, mich nochmal zu wehren.“

Iris Schwarzmeier, Psychologin, Psychotherapeutin und Vizedirektorin der Familienberatung „fabe“ in Südtirol, kennt Fälle wie den von Melanie. Manchmal kippt die Situation im Jugendalter und die Jugendlichen werden selbst gewalttätig, erklärt Schwarzmeier. Häufig wird den Kindern vermittelt, dass sie selbst Schuld seien, dass sie sich die Schläge verdient hätten, dass sie nicht in Ordnung seien. Das nimmt den Kindern das Selbstbewusstsein, dass sie sich im Recht fühlen.

Viele Kinder schämen sich für das, was zu Hause passiert. Sie schämen sich, sich jemandem anzuvertrauen. Auch, weil sie sich darum sorgen, was nachher kommt, denn meistens wollen sie nicht weg von der Familie. „Die meisten Kinder sind unheimlich loyal ihren Eltern gegenüber. Es muss viel passieren, dass ein Kind diese Loyalität bricht“, weiß Schwarzmeier. Ihr sind selbst Fälle von Kindesmissbrauch bekannt, in denen die Kinder sich niemandem anvertrauen, weil sie trotz allem an den positiven Eigenschaften ihrer Eltern festhalten.

„Ich hatte das Gefühl mit mir stimmt etwas nicht. Meine Mutter sagte zu uns: Wir sind komisch, wir sind anders, wir sind keine guten Kinder.“

Melanie, als Kind Opfer häuslicher Gewalt

Psychologin Iris Schwarzmeier weiß, warum sich manche Kinder niemandem anvertrauen.

„Wenn Mütter oder Väter gewalttätig werden, haben sie meist selbst in ihrer Kindheit Gewalt erfahren.“

Iris Schwarzmeier, Psychologin

Mit 14 zieht Melanie aus, lebt zehn Tage auf der Straße. Dann geht sie wieder nach Hause. Mit 18 zieht sie endgültig von Zuhause aus. Heute denkt sie viel über ihre Kindheit nach, über das was passiert ist. „Ich spreche offen darüber, weil es ein wichtiges Thema ist“, sagt sie. Manchmal werden Mütter vom sozialen Umfeld in Schutz genommen. Sie seien übermüdet und gestresst, da könne ja schon mal die Hand ausrutschen.

Wenn Mütter oder Väter gewalttätig werden, haben sie meist selbst in ihrer Kindheit Gewalt erfahren. Sie sind völlig überfordert, haben nie gelernt, bei Konflikten anders als mit Gewalt zu reagieren. Sie fühlen sich oft schon durch Kleinigkeiten, wie durch das Weinen ihres Kindes oder eine kindliche Ungeschicklichkeit provoziert. Häufig haben sie auch psychische Probleme und fühlen sich mit der Kindererziehung alleingelassen. „Oft kommen dann noch andere Belastungen dazu, wie etwa Partnerschaftsprobleme, die dann zur völligen Eskalation der familiären Situation beitragen“, erklärt Schwarzmeier.

Als Melanie mit 20 mit ihrer Tochter schwanger ist, fängt ihre Mutter an sie zu stalken. Sie schreit sie auf der Straße an, läutet jeden Tag an der Haustür. Melanie will Anzeige erstatten. Die Carabinieri sagen nur: „Ma è la mamma. Ti vuole vedere. È la mamma. Se una volta ti ha picchiata, non è una gran cosa.“ Und so geht es Melanie immer wieder. Wenn sie offen darüber spricht, sagen viele: „Es ist deine Mama, wie kannst du ohne sie sein?“ Melanie erklärt es sich so, dass jeder seine eigene Definition der Mutter habe. Die meisten Menschen denken an ihre Mutter, an die Frau, die ihnen vorgelesen hat, ihre Wunden geküsst hat, hinter ihnen stand und sie gelobt und motiviert hat. Melanie hat diese Erfahrungen nie gemacht. „Ich habe keine einzige positive Erinnerung mit meiner Mutter.“

Auch Lisa fand keine Hilfe. Sie vertraute sich damals einer Lehrerin an, ihren Freundinnen und deren Müttern. Geändert hat sich danach nichts. Als die Mutter darauf angesprochen wurde, behauptete sie, ihre Tochter sei eine Lügnerin. Alle glaubten ihr. 

„Einmal, als es ganz schlimm war“, erinnert sich Lisa, „habe ich sogar die Polizei angerufen.“ Als sie eintraf, traute sich Lisa aber nicht, die Wahrheit zu sagen. Zu viel Angst hatte sie davor, dass man ihr wieder nicht glauben würde.

Einige Nachbarn hätten es mitbekommen; gesagt oder getan hat keiner etwas. Sie wollten sich nicht einmischen. Das war besonders schlimm für Lisa. Sie fühlte sich alleine und hatte bereits mit neun Jahren Selbstmordgedanken.

„Ma è la mamma. Ti vuole vedere. È la mamma. Se una volta ti ha picchiata, non è una gran cosa.“

Ein Carabiniere zu Melanie

Manchmal wird den Kindern nicht geglaubt, auch wenn sie sich jemandem anvertrauen, denn Gewalt von Müttern an ihren Kindern ist immer noch ein Tabuthema. Auch wenn die Mütter merken, dass sie überfordert sind, holen sie sich oftmals keine Hilfe. Zu groß ist die Scham, zu groß sind die Schuldgefühle. Viele haben Angst, verurteilt zu werden oder davor, dass ihnen die Kinder weggenommen werden.

Eltern bleiben in ihrer Hilflosigkeit oft alleine. Aber auch die Kinder, wenn sie sich zum Thema häusliche Gewalt beispielsweise in der Schule oder gegenüber Nachbarn äußern. „In unserer Gesellschaft ist Erziehung eine familiäre ‘Privatsache’. Niemand will sich ‘in familiäre Angelegenheiten’ einmischen“, sagt Schwarzmeier. Viele scheuen sich, Schritte einzuleiten, weil es sein kann, dass eine Familie auseinandergerissen wird. Es ist nicht leicht diese Verantwortung zu tragen. Das Thema bleibt brisant, auch wenn die Tendenz mittlerweile dahin geht, kindliche Äußerungen ernst zu nehmen.

Lisa ist heute 25 Jahre alt. Zu ihrer Mutter hat sie keinen Kontakt mehr, seit sie mit 18 Jahren von Zuhause ausgezogen ist. Heute geht es ihr gut, sie weiß ihr Leben zu schätzen. Trotzdem gibt es immer noch Momente, wo das Erlebte wieder hochkommt. „Ich werde nie vergessen, wie sich die Ringe an der Hand meiner Mutter anfühlten, die taten am meisten weh.“

„In unserer Gesellschaft ist Erziehung eine familiäre ‘Privatsache’. Niemand will sich ‘in familiäre Angelegenheiten’ einmischen.“

Iris Schwarzmeier

Betroffene Kinder und Jugendliche

Hier können sich Kinder und Jugendliche anonym jemandem anvertrauen. Telefono azzurro Tel. 114 (emergenza bambini) Tel. 19696 (linea bambini) www.azzurro.it young&direct Tel. 8400 36366 www.young-direct.it/de Kinder- und Jugendanwaltschaft Tel. 0471 970615 www.kinder-jugendanwaltschaft-bz.org

Mütter und Väter

Mütter und Väter sollten sich bei Gewalt in der Familie unbedingt jemandem anvertrauen. Mit der nötigen Unterstützung kann sich die Situation entspannen und sie bekommen Hilfe, um aus der Gewaltspirale rauszukommen. Elterntelefon Tel. 800892892 www.elterntelefon.it Familienberatung www.familienberatung.it Il Germoglio – Der Sonnenschein Tel. 0471 061400 www.lastrada-derweg.org/181d1413.html

Lehrer, Eltern, Nachbarn …

Lehrer, Eltern, Nachbarn und alle anderen, die Gewalt in der Familie beobachten oder selbst davon betroffen sind, finden hier eine Beratungsstelle. Il Germoglio – Der Sonnenschein Tel. 0471 061400 www.lastrada-derweg.org/181d1413.html

Fotos:
Madalin Chalita
Ulrike Mai
Iris Schwarzmeier
Petra Schwienbacher
pixabay

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