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Veröffentlicht
am 16.03.2023
Leben

Chilliger Widerstand!?

Veröffentlicht
am 16.03.2023
In Zeiten von Klimakrise und Konflikten sollen sich junge Menschen gesellschaftlich mehr engagieren und nicht nur chillen, so die Erwartung. Aber wer versteht eigentlich was unter „Chillen“, fragt sich in diesem Gastbeitrag Expertin Yağmur Mengilli.
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Begrüßungsrituale wie „Was geht ab? Nichts, chillen bei Dir?“ dienen als alltägliche Statusabfrage unter Jugendlichen. In Momenten, in denen „Erwachsene“ das Chillen kritisch betrachten und abwertend als „Rumhängen“ oder „Nichtstun“ bezeichnen, schreiben junge Menschen ihren gemeinsamen Praktiken beim Chillen eine hohe Bedeutung zu. Mit der Gleichsetzung und auch Übersetzung des Chillens als Nichtstun deuten sich bereits Vorstellungen und auch Erwartungen Erwachsener hinsichtlich jugendlicher Lebenspraxis an. Hinweise auf unterschiedliche Verständnisse darüber, was das Chillen eigentlich bedeutet, geben Aufschluss über das Spannungsverhältnis zwischen Jugendlichen und Erwachsenen.(1)

Da Jugendliche als Seismograph für drohende gesellschaftliche Entwicklungen gelten und auch den Fortbestand der Gesellschaft sichern sollen, werden spezifische Erwartungen an sie gestellt (vgl. Mansel 2002: 329). Daher wird unter anderem gefordert, dass Jugendliche sich „mehr“ gesellschaftlich engagieren statt (vermeintlich) untätig „herumzusitzen“ und zu chillen (vgl. Mengilli 2021). Gerade mit Blick auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungstendenzen, (Klima-)Krisen, Konflikte und Kriege erscheint der Anspruch an gesellschaftlicher Teilhabe
junger Menschen dringlicher denn je und trotzdem chillen sie. Daraus resultiert die Frage danach, wer eigentlich was unter dem Wort „chillen“ versteht.

In diesem Beitrag wird zunächst nachgezeichnet, aus welchen Kontexten das Wort „chillen“ in den alltäglichen Sprachgebrauch eingeführt wurde. Anschließend werden unterschiedliche Verständnisse darüber, was das Chillen bedeuten könnte, skizziert und den Perspektiven junger Menschen (2) gegenübergestellt. Letztlich geht es darum zu diskutieren, inwiefern das Chillen als Ausdruck von Politikverdrossenheit, Desinteresse oder als Widerstandsform gegen das meritokratische Prinzip der Leistungsgesellschaft und die Reduzierung Jugendlicher auf die Schülerinnenrolle betrachtet werden kann.

Inwiefern kann das Chillen als Ausdruck von Politikverdrossenheit, Desinteresse oder als Widerstandsform gegen das meritokratische Prinzip der Leistungsgesellschaft und die Reduzierung Jugendlicher auf die Schülerinnenrolle betrachtet werden?

Chillen: Von der Jugendszene in den Sprachgebrauch
Das Wort „chillen“ – abgeleitet vom englischen Verb to chill (kühlen) – kam erstmals gegen Ende der 1980er Jahre im Zusammenhang mit den Chill-Out-Räumen der Techno-Szene als Möglichkeit des Runterkommens nach einer durchtanzten Nacht auf. Zur selben Zeit wurde das Chillen auch als ein zentraler Bestandteil von Events in der Hip-Hop-Szene ausgemacht. Der Duden nahm im Jahr 2003 den Begriff in das Fremdwörterbuch als mit „dem Nichtstun frönen; faulenzen; sich ausruhen“ (Wissenschaftl. Rat 2003: 256) auf. Diese Übersetzungen sind nur einige Beispiel für das Chillen, das bereits im anglophonen Raum einen Bedeutungswandel von „(ab)kühlen“ zu „sich entspannen“ erfuhr. Ein Beispiel für weitere Wandlungen ist die Spielart „chill (dich) mal!“, was als „entspann dich“ beziehungsweise „reg dich nicht auf“ gedeutet werden kann. Deutlich werden hier die Mehrdeutigkeit und die diversen Einsatzmöglichkeiten des Wortes und dennoch bleibt offen, was junge Menschen eigentlich meinen und machen, wenn sie vom Chillen sprechen?

Was machen Jugendliche?
In aktuellen repräsentativen Jugendstudien werden unter anderem die Alltagswelten, die Lebenslagen und auch die (Freizeit-)Aktivitäten junger Menschen zum Forschungsgegenstand gemacht. Dabei wird auch das Chillen relevant und auch unterschiedliche Lesarten des Chillens aufgemacht. Beispielsweise werden im Rahmen der „Shell-Jugendstudie“ (vgl. Albert et al. 2019) von unabhängigen Forschungsinstituten kontinuierlich empirische Daten über Einstellungen, Werte und das Sozialverhalten junger Menschen erhoben. In der Studienausgabe von 2019 wurden Jugendliche im Alter von 12 bis 25 Jahren mit standardisierten Fragebögen und vertiefenden Interviews zu ihrer Lebenssituation und Einstellung befragt. Als häufigste Freizeitaktivitäten der befragten Jugendlichen werden das „Musik hören“ (57 %) und „sich mit Leuten treffen“ (55 %) herausgestellt. „Nichts tun, ‚chillen‘“ wird durchschnittlich von 26 % der befragten Jugendlichen angegeben (vgl. ebd.: 214).

Im Zusammenhang mit der sozialen Herkunft der Jugendlichen folgern die Wissenschaftlerinnen, dass „Jungen aus den unteren sozialen Schichten besonders häufig medienzentrierten und ‚häuslichen‘ Beschäftigungen nach[gehen]: Internetsurfen, Fernsehen, die Nutzung sozialer Medien oder Chillen“ (ebd.: 218). Bei der Darstellung dieser Erkenntnisse wird ein ambivalentes Bild des Chillens Jugendlicher gezeichnet, denn Geselligkeit und der Rückzug ins Nichts-Tun werden gegenübergestellt. Außerdem werden mit der Zusammenfassung des Nichts-Tuns und Chillens beide Aktivitäten letztlich gleichgesetzt. Mit dieser Form der Darstellung entsteht eine Hierarchisierung von Freizeitaktivitäten, bei denen unklar bleibt, ob sie nicht gleichzeitig vollzogen werden können, denn ob beim Chillen Musik gehört oder Freund*innen getroffen wird, bleibt offen. Deutlich wird aber, dass Jugendliche chillen und für Erwachsene uneindeutig ist, was dabei passiert.

Spaß am Widerstand?
Chillen, Nichtstun oder Abhängen sind altbekannte Aktivitäten, die im England der 1970er Jahren vom Birminghamer Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) untersucht wurden. Paul Willis und Paul Corrigan haben sich im
Rahmen des CCCS in ihren Studien mit der britischen Arbeiterjugend auseinandergesetzt. Zentral war dabei die Thematisierung des Verhältnisses zwischen der Jugend und der Gesellschaft sowie deren Opponieren gegen die Überheblichkeit der „Erwachsenen-Gesellschaft“.

In der Studie „Spaß am Widerstand“ (1977) untersuchte Willis das Rumhängen in der Schule als alltägliche Widerstandspraktik im Unterricht sowie als Opposition gegen die Lehrer*innen und das Bildungssystem. Die „feindlichen Übergriffe“ der Jugendlichen reichten von mittäglichen Schulferien-Besäufnissen bis zu geheimer Rede. Die Jugendlichen aus der Arbeiterschicht, so Willis, lehnten sich dort auf, wo das Gesetz der Schule sie nicht mehr erreichte. „Rumhängen, Blödeln, Schwänzen“ stellten ein Ringen um Freiräume dar, mit dem sie sich von der Schule und deren Regeln abgrenzten. Das übergeordnete Ziel des Schwänzens und im Unterricht Nichtstuns diente als Strategie zur Vereitlung des Versuchs „einen zum Arbeiten zu bringen“. Corrigan stellte im Jahr 1979 in seiner Studie die Straße als Ort für Jugendliche heraus, wo etwas los ist und hauptsächlich nichts getan oder rumgehangen wird. Er stellte fest, dass das Herumhängen der Jugendlichen auf der Straße von Außenstehenden als Nicht-Aktivität verkannt wird, obwohl viele Aktionen dabei geschehen würden.

Beim Chillen oder auch mit dem Codewort „chillen“ versuchen Jugendliche (Un-)Verfügbarkeit zu markieren, um sich von Erwartungen anderer abzugrenzen.

Die Auseinandersetzung mit dem Nichtstun wurde für ihn zentral und er zeigte auf, dass Jugendliche beim Nichtstun beispielsweise interessante Stories austauschten. Darüber hinaus führten die aus dem Nichtstun entstehenden Dynamiken häufig zu aktionistischem Verhalten Jugendlicher, das kriminalisiert wurde.
Mit den Studien von Willis und Corrigan wird die spezifische Qualität jugendkultureller Praktiken ersichtlich: Jugendliche setzten das Nichtstun als Strategie ein, um sich bestimmten Erwartungen zu entziehen und nutzen es zugleich als
einen Code für spontane ungeplante Aktionen. Durch die Regulierung des Chillens drückt sich ein Generationenkonflikt aus, denn Erwachsene begrenzen das Chillen, während es für Jugendliche sowohl drinnen in der Schule als auch draußen im öffentlichen Raum einen bedeutsamen Teil ihrer Zeit ausmacht. Inwiefern kann das Chillen nun als Protest gelesen werden?

Resümee: Chillen als Widerstand?!
Die eingangs formulierte Frage danach, was sich im Chillen Jugendlicher ausdrückt, kann folgendermaßen beantwortet werden: In diesen Praktiken zeigen sich sowohl Reaktionen auf gesellschaftliche Erwartungen und Anforderungen als auch eigensinnige Umgangs- und Ausdrucksweisen. Beim Chillen oder auch mit dem Codewort „chillen“ versuchen Jugendliche (Un-)Verfügbarkeit zu markieren, um sich von Erwartungen anderer abzugrenzen. Da Erwachsene das Chillen offensichtlich nicht nachvollziehen können, versehen sie es mit eigenen Bedeutungen und begrenzen es, indem sie Jugendlichen Plätze zum Chillen zuweisen. Dies widerspricht jedoch der Eigenlogik der Praxis, denn das Chillen kann als ein Möglichkeitsraum zwischen „Nichts-Tun-Müssen und Etwas-Tun-Können“ gefasst werden. Um den Anpassungs- und Leistungsdruck im Bildungs- und Arbeitssystem gelegentlich entkommen zu können, erfüllt die jugendkulturelle Praxis des Chillens eine wichtige Funktion der Lebensbewältigung und Identitätsarbeit.
Die Funktionalisierung des Chillens als Ausdruck des Widerstands, Protests oder Hedonismus verkennt die jugendkulturelle Praxis. Mit der Benennung des Chillens als „Nichtstun“ wird das Verhältnis zu einem nützlichen oder zielorientierten Tun aufgemacht, von dem sich beim Chillen abgegrenzt wird. Durch die Mehrdeutigkeit des Wortes eignet es sich als Code gegenüber Erwachsenen und auch Peers, der nur von Gleichgesinnten entschlüsselt werden kann.

Text: Dr.in Yağmur Mengilli, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main

1) Als Erwachsene werden jene bezeichnet, die das Chillen Jugendlicher mit Distanz betrachten, beispielsweise Eltern, Lehrerinnen und andere Pädagoginnen.
2) Im Rahmen der Studie „Chillen als jugendkulturelle Praxis“ wurde das Chillen auf der mittels Gruppendiskussionen mit Jugendlichen im Alter von 14 und 27 Jahren erforscht. Diese empirische Arbeit bildet die Grundlage der vorliegenden Ausführungen (vgl. Mengilli 2023).

Literatur:
− Albert, M. et al. (2019): Jugend 2019. 18. Shell Jugendstudie, Weinheim.
− Corrigan, P. (1979): Nichts tun. In: Clarke, J. et al. (Hrsg.), Jugendkultur als Widerstand. Milieus,
Rituale, Provokationen, Frankfurt/M.
− Mansel, J. (2002): Sektion Jugendsoziologie in der DGS. In: Zinnecker, J. et al. (Hrsg.): Jahrbuch
der Jugendforschung. 2. Ausgabe 2002. Leske + Budrich.
− Mengilli, Y. (2023): Chillen als jugendkulturelle Praxis, Wiesbaden.
− Willis, P. (2000): Spaß am Widerstand. Learning to Labour, Hamburg.
− Wissenschaftlicher Rat (Hrsg.) (2003): Duden: Das große Fremdwörterbuch. Herkunft und Bedeutung der Fremdwörter. Leipzig.

Dieser Fachbeitrag erschien erstmals in der neuen Ausgabe von “zum Beispiel. Beiträge zur Jugendarbeit in Südtirol und Tirol” (Nr. 1/2023).

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