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Bei vielen fing es im Lockdown an: Essstörungen haben in der Pandemie um fast ein Drittel zugenommen. Essstörungen sind die tödlichsten psychiatrischen Erkrankungen und erfordern mehr als andere psychische Störungen die Behandlung durch ein multidisziplinäres Team. Trotz ihrer Bemühungen fühlen sich behandelnde Teams oft machtlos. Bei einer international besetzten Tagung in der Cusanus-Akademie in Brixen diskutierten gestern (24.11.21) Psychiater/innen, Ernährungstherapeut/innen, Psycholog/innen und Pädagog/innen über Behandlungswege, disziplinübergreifende Zusammenarbeit und fehlende Strukturen. Moderiert haben die Tagung Dr. Roger Pycha und Dr. Edmund Senoner. Allein in Bad Bachgart wurden im vergangenen Jahr 31 Menschen mit Essstörungen behandelt. Am 6. Jänner wird in Bozen ein Day Hospital mit 12 Plätzen für essgestörte Menschen im Bezirk Bozen und eine Wohngemeinschaft mit 10 Plätzen für das ganze Land eröffnet. Weiters arbeitet man daran, dass in Brixen in den kommenden Jahren weitere zehn Betten für schwer Essgestörte Erwachsene eröffnet wird. Die Einrichtungen werden dringend benötigt.
Essstörungen sind komplexe Pathologien, die oft in Zusammenhang mit schweren psychischen Problemen auftreten. Sie äußern sich durch ein gestörtes Verhältnis zum Essen, die übermäßige Sorge um die Form des Körpers und eine verzerrte Körperwahrnehmung. Der Primar der Pädiatrie Brixen Dr. Markus Markart nannte zum Auftakt der Tagung die häufigsten Essstörungen: Anorexie (Magersucht), Bulimie (Ess-Brechsucht) und Binge-Eating-Störung (unkontrollierte Essanfälle). Er sprach auch das krankhafte Gesundessen an, das zum Zwang wird. Bei dieser Essstörung (Orthorexie) bestimmen selbst auferlegte Regeln rund ums gesunde Essen den gesamten Tagesablauf der Betroffenen. Dabei geht es um selektives und restriktives Essverhalten, das in Essphobie ausarten und in Anorexie übergehen kann.
Bei einem Body-Mass-Index (Maß des Gewichts im Verhältnis zur Körpergröße) von 16,5 kippt ein Schalter im Gehirn um. Betroffene entwickeln eine dauerhaft gestörte Wahrnehmung ihres Körpers und geraten damit unmerklich in eine Spirale zunehmenden Leids, das sich rasch auf die gesamte Familie ausweitet. Der Wille der Betroffenen wird auf die Kontrolle des Essens fokussiert.
Die Direktorin der Universitätsklinik für Psychiatrie und des Departements für Essstörungen Padua, Prof. Dr. Angela Favaro betonte, dass es verschiedene Ausformungen von Anorexie gibt.
Der Psychiater, Psychotherapeut und Univ.-Prof. Dr. Andreas Karwautz aus Wien hat bei einer großangelegten Studie in den Pandemie-Monaten mit 300.000 Jugendlichen in Österreich festgestellt, dass die Zahl der Essstörungen in dieser Zeit um 30 Prozent gestiegen ist. Er betonte, dass es bei der Behandlung von Menschen mit Essstörungen auch einen spirituellen Ansatz brauche, der Menschen nicht mutlos werden lasse.
Die Ärztin des psychiatrischen Dienstes des Krankenhauses Brixen Dr. Margit Coenen betonte, dass essgestörte Menschen in den Abteilungen häufig nicht willkommen seien. Betreuung und Behandlung von schwer Essgestörten ist eine der aufopferungsvollsten und schwierigsten Aufgaben der Psychiatrie, und müsse in einer eigenen, hoch spezialisierten Abteilung mit genügend Mitarbeiter/innen erfolgen.
Die Psychiaterin Dr. Marinella Di Stani aus Ravenna erklärte, dass es ein interdisziplinäres Team brauche, das sich aus Internisten, Ernährungstherapeutinnen, Krankenpflegerinnen, Psychiatern, Psychologinnen und kreativen Therapeut/innen zusammensetzt, damit ein möglichst ganzheitliches Vorgehen entwickelt wird
Grundsätzlich funktionieren die ambulanten Dienste in Südtirol gut, betonte Dr. Roger Pycha, Primar des Psychiatrischen Dienstes Brixen. Es liege allerdings im Wesen der Essstörung, dass Betroffene sich oft hartnäckig gegen Behandlung, Hilfe und Begleitung zur Wehr setzten. Deshalb sind therapeutische Erfolge schwer zu erzielen. Die gestrige Tagung in der Cusanus-Akademie diente dem Zweck, die Grundhaltung des Helfens selbst in schwierigster Lage zu stärken und die Solidarität zwischen den Helfer/innen zu fördern. Dr. Roger Pycha freut sich, „dass wir ein wirkliches Netzwerk geworden sind, das die Bezirksgrenzen hinter sich gelassen hat.“ So helfe beispielsweise die in Brixen angesiedelte Dr. Margit Coenen in Meran aus und koordiniere das dortige Team.
Text: Maria Lobis
Quelle:Support BARFUSS!
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