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Ich glaube, in der Zukunft wird das Menschliche und Selbstgemachte einen neuen Stellenwert bekommen. Es wird nicht nur das beste Ergebnis zählen, sondern die Idee dahinter: das humane Konzept. In einer Welt, in der die KI den Menschen das Denken abnimmt und in der alles möglich scheint, werden wir uns nach etwas sehnen, das nicht perfekt und vollkommen ist, sondern genuin menschlich. In der Zukunft wird der Fokus deshalb auf dem Menschlichen liegen: dem Unperfekten, dem vielleicht Fehlerhaften, aber eben Persönlichen.
Genuin und menschlich. Genau so fühlt es sich auch an, diesen Text zu schreiben. Ich weiß jetzt schon, dass ich diesen Text in 25 Jahren lesen werde – mit 47 Jahren -, um zu prüfen, ob ich ansatzweise richtig lag. Eine Wette mit meinem zukünftigen Ich. Eine Art öffentliches Tagebuch.
Nun gut, liebes Tagebuch. Ich glaube, man kann die Zukunft nicht richtig vorhersagen. Irgendwie kommt immer alles ein bisschen anders, als man denkt. Wenn ich ehrlich bin, freue ich mich nicht wirklich auf die Zukunft. Es läuft viel schief gerade: der Klimawandel, die Kriege, der Rechtsruck in der Politik, die ca. eine Million vom Aussterben bedrohten Tier- und Pflanzenarten sowie die wachsenden Rückschritte bei Frauenrechten weltweit und das anhaltende Wirken von Sexismus und Patriarchat. Es ist schwierig, sich trotz allem eine gute Zukunft vorzustellen.
Meine Vorstellung der allgemeinen Zukunft ist eher düster, während ich mir persönlich so viel wünsche, was vielleicht nicht mehr möglich sein wird.
Ich persönlich habe zwei Vorstellungen der Zukunft: meine persönliche und die allgemeine Zukunft. Sie unterscheiden sich stark und ich schaffe es nicht, die beiden in Einklang zu bringen. Meine Vorstellung der allgemeinen Zukunft ist eher düster, während ich mir persönlich so viel wünsche, was vielleicht nicht mehr möglich sein wird. Meinen Beobachtungen zufolge hat meine Generation eine eher negative Vorstellung von Zukunft, die nicht mit dem Lebensstandard vereinbar ist, den sie gewöhnt ist. Meine ideale Zukunft ist sehr stark von einem „Wenn“ abhängig: Wenn alles gut geht; wenn nicht ein dritter Weltkrieg ausbricht; wenn wir die Kurve kratzen und eine Klimakatastrophe abwenden, „dann“… Das Problem ist, dass mir all diese Katastrophen als sehr möglich erscheinen…
Bis 2050 wird sich wohl eine Menge verändern – schleichende Veränderungen, an die wir uns laufend gewöhnen werden. Ich werde eine Frau mittleren Alters sein – körperlich gesünder und fitter als Vorfahrinnen in ihrem Alter. Mit 47 vielleicht auf dem Höhepunkt meiner Karriere. Voraussichtlich werde ich in Südtirol leben und von dort aus in der Kultur- und Kunstwelt arbeiten. Bevor ich Kinder kriegen werde, will ich mit meinem Partner genau festgelegt haben, wie wir Care-Arbeit und Finanzen regeln werden. Damit werde ich nicht – im Gegensatz zu meinen Vorfahrinnen – von der sogenannten Mutterschaftsstrafe im weiteren Sinne betroffen sein, also der finanziellen Benachteiligung, die aus dem alleinigen Tragen von Care-Arbeit ohne Entlohnung und ohne Rentenanspruch resultiert. Wir werden idealerweise am Rande einer Stadt wohnen, aber trotzdem in einer dorfähnlichen Gemeinschaft. Ich wünsche mir, dass es normal sein wird, in der Nähe meiner Freunde zu leben und den Nachwuchs als Gemeinschaft aufzuziehen. 2050 sollen die Menschen verstanden haben, dass es einfacher und natürlicher ist, wenn sie sich Verantwortungen teilen und sich gegenseitig unterstützen.
Meine Kinder werden gern in die Schule gehen, denn das Schulsystem wird bis dahin umstrukturiert sein: Weniger Frontalunterricht und stattdessen interaktive Unterrichtseinheiten, die oftmals aus Diskussionen, Gruppenprojekten und Gestaltung des Unterrichtes durch die SchülerInnen bestehen. Der Schulstoff wird so divers sein, wie die Welt, in der wir leben; und im Gegensatz zu 2025 nicht nur aus Berichten von weißen Männern über weiße Männer bestehen. Mädchen und junge Frauen werden sich repräsentiert sehen in der Geschichte, von der sie lernen und historischen Vorbildern in allen Fachbereichen begegnen. Workshops zu einer intelligenten Nutzung der Künstlichen Intelligenz werden verpflichtend sein. Meinen Kindern werde ich, bis sie 15 Jahre alt sind, kein eigenes Handy erlauben. Ich selbst werde mein Handy auch nicht so oft benutzen. Mir wird nämlich bewusst geworden sein, wie viel Lebenszeit ich in meiner Jugend damit verschwendet habe. Im Gegensatz zu meinen Eltern bin ich ein „Digital-Native“ und mir der Risiken persönlich bewusst, denen Kinder und junge Menschen im Internet ausgesetzt sind. Deshalb wünsche ich mir, dass bis 2050 menschenrechtswidrige und sexistische Internetplattformen gesperrt und genau gemaßregelt werden. Der Zugang zu Pornografie und Gewaltfantasien sollte nicht mehr so einfach sein.
In meiner idealen Welt gibt es Künstliche Intelligenz, aber diese ist mit strengen Richtlinien eingeschränkt und kontrolliert.
In meiner idealen Welt gibt es Künstliche Intelligenz, aber diese ist mit strengen Richtlinien eingeschränkt und kontrolliert. Ärztliche Diagnosen werden durch KI perfektioniert werden und auf einem Standard sein, der sich nicht mit den vergangenen Jahren vergleichen lässt. Firmen, die schon 2025 die KI zu nutzen wissen, werden von einem großen wirtschaftlichen Vorteil profitiert haben. Eine der KI-Maßregelungen soll Fotos und Kunst betreffen: Bilder und Videos, die mit KI erstellt wurden, müssen mit einem Wasserzeichen gekennzeichnet sein. Dadurch wird Kunst von echten KünstlerInnen gewürdigt und die Allgemeinheit geschützt vor „Fakes“. Mithilfe der KI ist es heutzutage kinderleicht geworden, Bilder zu produzieren, die Fotos zum Verwechseln ähnlichsehen. Eigene Fotos können in Sekundenschnelle perfekt bearbeitet werden. Der Wert dieser Perfektion schwindet aber, wenn alles plötzlich perfekt sein kann. Mein Fotografie-Professor prognostizierte deshalb die Rückkehr der analogen Fotografie. 2050 werden wir das Selbstgemachte und Unperfekte zu schätzen wissen, denn Perfektion wird der neue Standard geworden sein. Der Fokus der Kunst wird im Jahr 2050 wohl sehr stark auf der KünstlerIn als schaffendes Individuum liegen. Was sind ihre Ideen und welches Konzept liegt dem Kunstwerk zugrunde?
Die zunehmende Homogenisierung der Menschheit wird dazu anspornen, sich wieder mehr dem Eigenen und Einfachen zu widmen. Homogenisierung ist ein Phänomen, das sich schon seit Jahrzehnten in unserer Gesellschaft zeigt: Menschen auf der ganzen Welt gleichen sich immer mehr aneinander an. Wir essen ähnliche Speisen, wir kaufen dieselben Marken und wir sprechen dieselben Sprachen. Ich komme aus Italien und habe in den Niederlanden und in Südafrika studiert. Überall findet man Burger, Poke-Bowls und Matcha. Überall kann ich mit meinen Freunden Englisch sprechen, und wir alle benutzen dieselbe englische Jugendsprache. Überall gibt es McDonalds, Zara und Louis Vuitton. Werden wir 2050 nicht müde sein, überall das Gleiche zu sehen?
Ich erwarte mir eine starke Nachfrage nach dem Individuellen: nach neuen kleinen Marken, die sich von den globalen Konkurrenten abheben; nach kleinen Restaurants, die nur wenig verschiedene Gerichte anbieten: einfach, aber gut. Außerdem glaube ich, dass man zunehmend an der eigenen Sprache hängen wird, die nicht von allen verstanden werden kann. Aber genau das kann auch zu Problemen führen: Ich denke, dass wir in der Zukunft immer noch sehr stark mit Nationalismus und Patriotismus zu kämpfen haben werden. Jene Ideologien gehen mit diesem Wunsch nach Individualität nämlich Hand in Hand. Bestärkt wird dieser Wunsch nach Abgrenzung vor allem auch durch Angst: vor den neuen globalen Konkurrenten, vom technologischen Fortschritt und davor, die eigene Identität zu verlieren.
Wird es einen dritten Weltkrieg geben? Wann passiert die nächste Naturkatastrophe? Werden meine Kinder so aufwachsen können, wie ich aufgewachsen bin?
Im Grunde sagt das, was ich hier geschrieben habe, mehr über das „Jetzt“ aus – darüber, wer ich heute bin, als es die Welt in 25 Jahren beschreiben kann. Bis 2050 dauert es nicht mehr lange. Und doch kann so viel passieren. Wird es einen dritten Weltkrieg geben? Wann passiert die nächste Naturkatastrophe? Werden meine Kinder so aufwachsen können, wie ich aufgewachsen bin?
All diese Fragen stelle ich mir, und niemand kann sie mir beantworten. Das Einzige, bei dem ich mir absolut sicher bin: Alles ist möglich. Die Grundeigenschaft dieser Welt ist ihre „Multivariabilität“. Alles könnte geschehen. Alle Möglichkeiten könnten eintreffen. Und trotzdem formen die Entscheidungen, die wir heute treffen, aktiv die Welt, die wir morgen beleben werden. Es liegt in der Hand aller, unsere Zukunft jetzt, in jedem Moment, zu einer guten zu formen.
Nora Viehweider, 22, ist gebürtige Boznerin und studiert Liberal Arts and Sciences mit Schwerpunkt auf Kunstgeschichte und Visual Culture in Amsterdam und Südafrika.
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